Das Anthropozän lernen und lehren

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5. Energie aus Abwasser

Im Grundlagenpapier zu energieautarken Kläranlagen in NÖ (Lindtner, 2011) wird auf die Möglichkeiten der Bereitstellung von erneuerbaren Energien auf Kläranlagen bereits verwiesen. Neben der klassischen Verwertung des Klärgases wird auch noch die Nutzung von Biomasse, Photovoltaik, Windenergie, Kleinwasserkraft und Solarthermie beispielhaft angeführt. In dieser Aufzählung fehlt noch die Wärmerückgewinnung aus dem Abwasser. Hier stehen große aber bisher weitgehend noch ungenutzte Mengen zur Verfügung, Neugebauer et al. (2015) schätzen das Potenzial auf österreichischen Kläranlagen auf über 3 TWh pro Jahr ein. In der im Dezember 2018 veröffentliche Neufassung der EU Richtlinie zur Förderung von erneuerbaren Energien (EU RL 2018/2001) wird Abwasser aufgrund dieses thermischen Energieinhaltes nun auch als erneuerbare Energiequelle anerkannt.

In NÖ wurde 2012 in der Gemeinde Amstetten eine erste thermische Abwassernutzung für die Wärmeversorgung von Gebäuden der Stadtwerke installiert (Umweltgemeinde, S. a.). Aktuell beschäftigt sich auch die Gemeinde Vösendorf mit Möglichkeiten zur Einbindung der Energie aus Abwasser in die lokale Energieversorgung (Grunert et al., 2019). Es ist zu wünschen, dass in naher Zukunft noch viele weitere Gemeinden diesen positiven Beispielen folgen, um eine lokale und klimafreundliche Energieversorgung in NÖ zu unterstützen.

6. Zusammenfassung

In NÖ ist der Anschlussgrad von Haushalten, Gewerbe und Industrie an eine kommunale abwassertechnische Infrastruktur mit etwa 94 % schon sehr hoch. Neben rund 190 „größeren“ Kläranlagen mit einer Ausbaugröße von mindesten 2.000 EW gibt es heute mehr als 4.900 Kläranlagen kleiner oder gleich 500 EW, wobei davon 4.500 Kleinkläranlagen kleiner oder gleich 50 EW sind. Die am meisten eingesetzte Technologie sind SBR Anlagen (ca. 2.700 Anlagen, davon ca. 2.500 KKA), Pflanzenkläranlagen (ca. 930 Anlagen, davon ca. 900 KKA) und Belebungsanlagen im Durchlaufprinzip (ca. 530 Anlagen, davon ca. 450 KKA). Alle ca. 4.900 Kläranlagen kleiner oder gleich 500 EW reinigen das Abwasser von ca. 100.000 EW, die 4.500 KKA das von 50.600 EW. Auf die aktuelle Debatte in Bezug auf die Phosphorrückgewinnung aus dem Klärschlamm (von größeren Kläranlagen) wird in diesem Beitrag nur verwiesen. Eine Phosphorentfernung bei Kleinkläranlagen kann bei sensiblen Vorflutern einen wesentlichen Teil zur Reduzierung der Nähstoffbelastung des Gewässers beitragen. Wenn nur jene Kläranlagen kleiner 500 EW mit nachgeschalteten Phosphorfiltern ausgestattet werden, bei denen dies aus Gewässerschutzgründen nötig ist, lassen sich bis zu 11 Tonnen Phosphor pro Jahr rückgewinnen. Wenn Phosphorrückgewinnung, und nicht Gewässerschutz, das primäre Ziel ist, ist das Potenzial viel höher; Wenn bei allen Kläranlagen kleiner 500 EW nachgeschaltete Phosphorfilter eingebaut würden, könnten in NÖ ca. 55 Tonnen Phosphor pro Jahr zurückgewonnen werden. Auch die Energiebereitstellung aus der erneuerbaren Energiequelle Abwasser ist ein sehr aktuelles Thema, dass in NÖ durchaus noch Entwicklungspotenzial hat.

Literatur

1.AEVkA (1996): 1. Abwasseremissionsverordnung für kommunales Abwasser. BGBl. 210/1996, Wien.

BMLFUW (2014) Endbericht Phosphorbilanz Österreich, Hrsg.: Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft. Wien.

BMLFUW (2017): Nationaler Gewässerbewirtschaftungsplan (NGP) 2015. Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Wien.

BMNT (2017): Bundesabfallwirtschaftsplan 2017 – Teil 1. Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus, Wien

BMNT (2018): Kommunales Abwasser – Österreichischer Bericht 2018. Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus, Wien.

Gerstorfer, S. (2018): Immissionsorientierte Studie der Phosphorelimination bei Kleinen Kläranlagen und Kleinkläranlagen in Österreich. Masterarbeit, Institut für Siedlungswasserbau, Universität für Bodenkultur Wien.

Grunert, M., Ertl, T., Langergraber, G., Kretschmer, F. (2019): REEF 2W Vorstudie – Fallbeispiel Vösendorf. Wiener Mitteilungen 251, L1-L22.

Jenkins, D., Wanner, J. (2014): Activated Sludge – 100 Years and Counting. IWA Publishing, London.

Jenssen, P.D., Krogstad, T., Paruch, A.M., Mæhlum, T., Adam, K., Arias, C.A., Heistad, A., Jonsson, L., Hellström, D., Brix, H. (2010) Filter bed systems treating domestic wastewater in the Nordic countries – Performance and reuse of filter media. Ecological Engeneering 36, 1651–1659.

Langergraber, G., Pressl, A., Kretschmer, F., Weissenbacher, N. (2018): Kleinkläranlagen in Österreich – Entwicklung, Bestand und Management. Österreichische Wasser- und Abfallwirtschaft 70(11/12), 560–569. (open access)

Langitz, N., Gerstorfer, S., Langergraber, G. (2017): Phosphorentfernung in kleinen Einzugsgebieten. Wiener Mitteilungen 245, B1-B12.

Lindtner (2011): Energieautarke Kläranlage – Grundlagenpapier. Amt der NÖ Landesregierung, Abteilung Siedlungswasserwirtschaft, St. Pölten.

Loderer, C. (2005): Optimisation of phosphorus-removal in constructed wetlands. Diplomarbeit, FH Pinkafeld.

Neugebauer, G, Kretschmer, F, Kollmann, R, Narodoslawsky, M, Ertl, T, Stoeglehner, G. (2015): Mapping Thermal Energy Resource Potentials from Wastewater Treatment Plants. Sustainability 7(10), 12988–13010.

ÖWAV (2019): Branchenbild der österreichischen Abwasserwirtschaft 2020. Österreichischer Abwasser- und Abfallverband, Wien.

Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Neufassung) (ABl. L 328 vom 21.12.2018), Brüssel.

Umweltgemeinde (S. a.): Energie aus Abwasser in Amstetten. Online im Internet. URL: https://www.umweltgemeinde.at/energie-aus-abwasser-in-amstetten [abgerufen am 30.01.2020].

Vohla, C., Kõiv, M., Bavor, H.J., Chazarenc, F., Mander, Ü. (2011): Filter materials for phosphorus removal from wastewater in treatment wetlands – A review. Ecological Engeneering 37, 70–89.

Christine Schörg
AD FONTES
Ausflüge zu den Anfängen der Welt

Der Urgrund aber ist das Wasser.

Thales von Milet

Für den Menschen ist das Wasser Grundelement und Bedingung seines Lebens – lebensspendend, durststillend, reinigend: materia prima – und als solche hat er es seit jeher mit Sinn- und Symbolgehalt aufgeladen. Gleichzeitig ist das Wasser auch immer Herausforderung und Bedrohung gewesen und hat die Macht der Natur repräsentiert.

Spannung und Spektrum dieser Polarität sind im Zuge der Industrialisierung des Wassers im ganz Wesentlichen verloren gegangen, heute erleben wir das Wasser als objektiviert, in seiner Bedeutung segmentiert, reguliert, beherrscht, technisch verfügbar gemacht … – verschmutzt und bedroht.

„Wasser ist Leben“, sagen die Ökologen heute.

„Wasser wird bald kostbarer als Gold sein“, sagen UNO-Experten voraus.

Wenn wir – notwendigerweise – den Umgang des Menschen mit der Natur bzw. dem Wasser im Anthropozän reflektieren, führt uns diese Auseinandersetzung zurück zu den Ursprüngen des Menschen und seiner Kultur.

„Ich weiß nicht, wie das Universum angefangen hat, aber ich weiß, dass es angefangen hat. Eine Quantenfluktuation könnte den Urknall ausgelöst haben. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr, sehr klein, aber es muss ja nur einmal passieren. Diese Idee hat einst Stephen Hawking vorgeschlagen. Er könnte Recht haben. Mit dieser kuriosen Idee lässt sich der Urknall erklären.“

Guy Consolmagno,

Direktor der Vatikanischen Sternwarte


Abbildung 1: 28. Oktober 2019: Das Hubble-Teleskop fängt die Kollision zweier Galaxien bildlich ein.1

Incipit.2

Unser Sonnensystem entstand vor ca. 5 Milliarden, unsere Erde vor ca. 4,5 Milliarden Jahren. Wissenschaftler/innen haben starke Indizien dafür, dass es Wasser auf der Erde schon sehr lange gibt, wahrscheinlich (annähernd) seit ihrer eigenen Entstehungszeit. Die plausibelste Annahme geht davon aus, das Wasser stamme von Kometen oder Asteroiden aus Eis, die aus den äußeren, kalten Bereichen des Sonnensystems ins Zentrum gelenkt wurden und auf ihrem Weg auf die Erde stürzten. Ein derartiges „Bombardement“ hat es jedenfalls vor 4,1–3,8 Milliarden Jahren gegeben.3

Die Geschichte der Menschheit begann vor sechs Millionen Jahren in Afrika, sie war von Anfang an vom Wasser – bzw. vom fehlenden Wasser – bestimmt. Ursprünglich von einem riesigen Tropenwald bedeckt, hinterließen hier massive erdgeschichtliche Ereignisse ihre Spuren, und das Klima auf der Erde begann sich abzukühlen.4 In der Folge verschwanden die afrikanischen Wälder, und unsere Vorfahren siedelten sich in den weiten Savannenlandschaften des afrikanischen Ostens an. Unter den Herausforderungen der neuen Lebensumstände entwickelte sich der bipede Gang – damit ist jene bedeutende Zeitgrenze erreicht, an der sich die Stammeslinie der Menschenaffen von denen der Hominiden, den Menschenartigen, trennt. Auch das soziale Leben der ersten frühen Vertreter/innen des Homo erectus veränderte sich: Sie schlossen sich in größer werdenden Gruppen zusammen, und bald produzierten sie erste Werkzeuge. Man geht davon aus, dass sie aufgrund immer schwieriger werdender Nahrungsverhältnisse vor rund zwei Millionen Jahren ihre afrikanische Heimat verließen und sich im Nahen Osten ansiedelten, vielleicht auch schon in Südeuropa; eine zweite Wanderungswelle wird vor etwa 800 000 Jahren angenommen. In ihrer neuen Heimat passten sich die frühen Menschen den veränderten Umwelt- und Klimabedingungen an, und neue Hominidenarten entstanden, in Europa etwa der Homo heidelbergensis bzw. der Neandertaler.

 

Vor etwa 100 000 Jahren werden, wieder in Afrika, erste Vertreter/innen des höher entwickelten Homo sapiens sapiens – mit grazilerem Körperbau, größerem Gehirnvolumen und komplexerem sprachlichen Ausdruck – vermutet, die sich kontinuierlich ausbreiteten, sich mit anderen, archaischen Menschenarten vermischten bzw. diese aufgrund ihrer Überlegenheit verdrängten und so vor ca. 40 000 Jahren Mitteleuropa erreichten, vor mindestens 30 000 Jahren Australien und vor ca. 13 000 Jahren über die damals existierende Beringia-Landbrücke Amerika.5

Mit dem Pleistozän ging vor etwa 10 000 Jahren auch die letzte Kaltzeit zu Ende, in der noch Hunderte Meter dicke Eisflächen Nordeuropa bedeckt hatten. Mit dem Holozän begann nun, wenn auch mit Klimaschwankungen, ein wärmeres und doch relativ stabiles Erdzeitalter, damit war die Voraussetzung für die Entwicklung menschlicher „Hochkulturen“6 gegeben. Die ersten großen Reiche entstanden in fruchtbaren Gegenden, also immer an Flüssen7: in China am Huang He (Gelben Fluss), die Indus-Kulturen im Punjab (am bedeutendsten die Harappa-Kultur), die mesopotamischen Reiche Sumer, Babylon und Assyrien an Euphrat und Tigris, das ägyptische Pharaonenreich am mittleren und unteren Nil. Immer wurden neben der Erde (die das Flusswasser fruchtbar machte) die Flüsse, Seen und Meere, die die Menschheit ernährten, verehrt. Wasser hatte in jeder Kultur für das Alltagsleben der Menschen große Bedeutung, prägte aber auch deren spirituelle Vorstellungen und hat als Symbol große Bedeutung am mythischen, religiösen, kulturellen, historisch und sozial gelebten „Weltverstehen“ des Menschen.8

„Absolute Anfänge machen uns sprach los im genauen Sinn des Wortes. Dies aber ist es, was der Mensch am wenigsten erträgt und zu dessen Vermeidung oder Überwindung er die meisten Anstrengungen seiner Geschichte unternommen hat.“

Hans Blumenberg9


Abbildung 2: „Mundus subterraneus“ – Erddurchschnitt mit Zentralfeuer und Wasseradern. Kupferstich (nachkoloriert) von Athanasius Kirchner, 166410

Hans Blumenberg führt uns die Situation unserer ersten vormenschlichen Vorfahren drastisch vor Augen, wenn er von der unausweichlichen Notwendigkeit des Mythos spricht: Diese waren ganz der Natur und ihren Gefahren und einem „Absolutismus der Wirklichkeit“ ausgesetzt, der auf das blanke Überleben ausgerichtet war. Das „bedeutet, daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz nicht annähernd in der Hand hatte und, was schlimmer war, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte.“11

Das Ringen mit Angst und Unerklärlichem kann aber nicht durch bloßen Willen beseitigt werden, und auch „primär nicht durch Erfahrung oder Erkenntnis, sondern durch Kunstgriffe, wie den der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, der Erklärungen für das Unerklärliche, der Benennungen für das Unbenennbare. Es wird eine Sache vorgeschoben, um das Ungegenwärtige zum Gegenstand der abwehrenden, beschwörenden, erweichenden oder depotenzierenden Handlung zu machen. Durch Namen wird die Identität solcher Faktoren belegt und angehbar gemacht, ein Äquivalent des Umgangs erzeugt. Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat“12, so beschreibt Hans Blumenberg den Mechanismus vorgeschobener imaginativer Instanzen und ihre Schutzfunktion.

Dem Unerklärlichen wird eine Wirklichkeit errichtet, Bedrohung wird benannt und damit zu einer dem Anschein nach berechenbaren Bezugs- und Umgangsgröße; Umgangsformen werden in kultischen Handlungen festgelegt. Die Höhle – Gegentopos zur gefährlichen freien Wildbahn – bietet dazu den geschützten Raum, hier kann dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ der „Absolutismus der Vorstellungen, Wünsche – und Bilder“ entgegentreten, und dieser wirkte über die Höhle hinaus in die Welt.13

Der Schritt zum Bild – bzw. zum homo pictor, der ein Höhlenbild herstellt – ist ein wesentlicher, denn dazu gehört zuerst die Fähigkeit, ein Objekt über die reale Präsenz hinaus als Bild wahrzunehmen bzw. sich etwas Nichtvorhandenes vorzustellen. Ein Nachschöpfer ist potenziell auch immer ein Neuschöpfer: Zur frei gewählten, imaginierten Form und der Freiheit des Gestaltens kommt die Freiheit, etwas ganz Neues zu schaffen. Damit wird ein spezifisch und zutiefst menschliches Vermögen beschrieben.14

Kaiser Yŭ (chinesisch 禹) gilt als mystischer Begründer der chinesischen Zivilisation und Retter Chinas vor der großen Flut:

„Vor über 4000 Jahren wurde Yu von dem Kaiser Shun mit der Aufgabe der Flutbekämpfung beauftragt, weil damals die Überschwemmungen vom Gelben Fluss, dem ‚Mutterfluss der Chinesen‘, große Schäden angerichtet haben. 13 Jahre hat es gedauert, bis er den Fluss unter Kontrolle hatte. Dafür hat er sehr hart gearbeitet. Heute noch ist die Geschichte ‚Dreimal an der Haustür vorbei und nicht reingegangen‘ in aller Munde, denn: In den 13 Jahren, in denen Yu den Auftrag ausführte, ist er drei Mal an seinem Haus vorbei- und nicht reingegangen – beim ersten Mal gebar seine Frau ein Kind, beim zweiten Mal winkte er seinem Sohn zu, beim dritten Mal sagte er zu seinem Sohn (draußen vor dem Haus natürlich), dass er keine Zeit hätte, nach Hause zu gehen, solange das Problem mit der Überschwemmung nicht beseitigt wird. Er gilt als eine der wichtigsten Heldenfiguren in China.“15


Abbildung 3: Mai Lin (1180–1256), National Palace Museum, Taipei (Bildausschnitt)16

Im selben Ausmaß, wie sich beim Menschen das Bewusstsein entwickelte, mehrten sich auch die Fragestellungen und es wuchs das Bedürfnis, sich die Welt zu erklären – in Wort und Bild – zur Überwindung der „archaischen Fremdheit in der Welt“17 und zur Festigung des jeweils erreichten Weltzustandes als Ordnung des Kosmos’.

Konfuzianisches Denken, das Kollektiv immer über das Individuum stellend und jedem und jeder Einzelnen einen festen Platz im Staatsgefüge zuweisend, findet beispielsweise in der alten Legende vom Flut-Mythos Ausdruck (vgl. Abb. 3).

Wasser in den ältesten Schöpfungsmythen und Götterwelten

In der hinduistischen Mythologie spielt der Milchozean eine bedeutende Rolle, auch in den bedeutendsten indischen Nationalepen Mahabarata18 und Ramayana. Ihre richtige Rezitation war bedeutend, sie wurden über Jahrhunderte mit großer Akribie mündlich tradiert und teilweise erst spät verschriftlicht.

Man stellt sich die Kontinente konzentrisch angeordnet vor, von Ozeanen getrennt. Der innerste Ozean enthält Salzwasser, der äußerste ist der Milchozean und repräsentiert das Urmeer. Das „Quirlen des Milchozeans“ auf der Suche nach dem Unsterblichkeitstrank ist das Grundthema, das in vielfachen mythischen Variationen auftaucht.19


Abbildung 4: Raja Ravi Varma20 (1848–1906), Die Göttin Lakshmi entsteigt dem Milchozean auf einer Lotusblüte (dem Symbol für Reinheit und Vollkommenheit)21

Das Rigveda (auch Riksamhita) enthält über 1000 Hymnen und ist der älteste Teil der Veden und zugleich die älteste Urkunde des indogermanischen Völkerstammes, entstanden ab etwa 1750 v.Chr. Für viele hinduistische Strömungen stellt es die wichtigste Sammlung religiöser Texte dar, sie wurden ursprünglich nur mündlich überliefert.22



Viele ägyptische Gottheiten haben Wasserbezug, zum Beispiel Satet (oder Satis, später Identifizierung mit Sotis und Isis), die Bewacherin der südlichen Grenze Ägyptens und Spenderin des „kühlen Wassers, das aus Elephantine kommt“ und das sie den Toten zur Reinigung anbietet. Als Bogenschützin löst ihr Pfeil die Flut aus. Ihre Tochter Anukis (oder Anuket; ihr Name bedeutet „umarmen“ oder „herbeiführen“) denkt man für Nilüberschwemmungen und Fruchtbarmachung verantwortlich. Sie trägt das Anch-Zeichen (unter anderem in der Bedeutung „Lebenssymbol“, „Lebensschlüssel“ oder „Nilschlüssel“ und in der Hieroglyphenschrift das Zeichen für „Leben“).25


Abbildung 5: Anukis mit hoher Krone aus zusammengebundenem Schilf 26

Der Nil selber wird als Gott Hapi verehrt, in Darstellungen erscheint er als männliche Figur mit Brüsten.27 Wenn man davon ausgeht, dass die vorderasiatischen Gesellschaften ursprünglich matriarchalisch organisiert waren und erst mit dem Eindringen indo-europäischer und arischer Stämme kriegerische, patriarchalisch-hierarchische Strukturen mit männlichen Gottheiten etabliert wurden, könnte Hapis Erscheinungsbild mit den nährenden Brüsten auf ursprüngliche Weiblichkeit schließen lassen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Wasser als „Mutter aller Dinge“ stets als weiblich galt und Meere, Seen, Ströme, Flüsse, Brunnen und Quellen meist Göttinnen geweiht waren. So schrieb man auch die Quellen der heiligen Flüsse Mesopotamiens, Euphrat und Tigris, dem „gebärenden Organ der Großen Mutter“ zu: „Die Quelle der Flüsse wurde als die Vagina der Erde betrachtet“28. Noch heute sind die meisten Flüsse weiblich konnotiert.

 

Abbildung 6: Gott Hapi, Kalksteinrelief, Boston Museum of Fine Arts 29

Das altbabylonische Poem Enūma eliš (benannt nach seinen ersten beiden Wörtern: „Als droben“) wird zwar als Schöpfungsmythos bezeichnet, der Schöpfungsakt selbst hat aber nur einen geringen Anteil am ganzen Geschehen. In ca. 1000 Versen wird der Aufstieg Marduks zum Stadtgott von Babylon und „König der Götter“ dokumentiert und legitimiert, zu dem er unter Nebukadnezar I. (ca. 1125–1103 v. Chr.) erhoben wurde. Der Text wurde in akkadischer Sprache und in Keilschrift auf sieben Tontafeln niedergeschrieben und war weit verbreitet, so wurden bei vielen Ausgrabungen in Assyrien und Babylonien Teile davon gefunden, insgesamt ist das Poem fast vollständig vorhanden und gehört zu den wichtigsten und besterhaltenen vorderorientalischen Mythen.30

Tafel 1

1 Als droben der Himmel noch nicht genannt war

Drunten die Feste einen Namen nicht trug –

als Apsu, der Uranfängliche, ihr Erzeuger, und Tiamat, die Gebärerin von ihnen allen; 5 ihre Wasser in eins vermischten, […] als die Götter nicht existierten, da wurden die Götter in ihrer Mitte geschaffen. […]


Abbildung 7: Marduk, auf Wasser stehend, das Tiamat versinnbildlichen könnte (Rollsiegel; Babylon; 9. Jh.v.Chr.), Vorderasiatisches Museum Berlin 31

Der magische, quasi schöpferische Akt des Benennens kommt hier zum Ausdruck: Wer bzw. was keinen Namen hat, existiert nicht.

Der männliche Apsu, der Süßwasserozean, ist von Anfang an gemischt mit Tiamat, dem weiblichen Salzwassermeer (der akkadische Begriff Tiamat bezeichnet eine große Wasserfläche, vor allem das Meer, oder aber das personifizierte Meer als weibliches Wesen). Sie sind das erste Götterpaar.

In der Folge werden Ansar (die obere Welthälfte, der Himmel) und Kisar (die untere Welthälfte, die Erde) gezeugt.32 Die Vermischung der Flüssigkeiten bot also die richtige Voraussetzung für Fortpflanzung, offenbar hatte man in Babylon konkrete Vorstellung vom menschlichen und tierischen Zeugungsakt und dem Zusammenhang zwischen Ejakulation, der Verbindung mit von der Frau produzierten Flüssigkeiten und Schwangerschaft.33

Auch in den christlichen Schöpfungshymnen hat das Wasser schon am Anbeginn der Welt Bedeutung; das verwundert nicht, liegt doch das Land der Juden und ersten Christen im Vorderen Orient und im Einfluss der Tradition der alten, von Wassergottheiten dominierten Mythen. In oberflächlicher Betrachtung der bekannten ersten Verse des Alten Testaments wird der Eindruck erweckt, Gott habe die Welt aus dem Nichts erschaffen.

Woher aber kommen die Erde, die tohuwabohu ist, und das Urmeer? Sie sind nicht von Gott geschaffen; die erste Tat Gottes ist das Licht. Undenkbar, daß die Finsternis Gottes Werk sei und die Wasserwüste Ergebnis seines Wirkens! Das widerspricht der Idee des ‚Schaffens‘ – Doch kann vor der Schöpfung schon etwas gewesen sein? Wir bekommen, noch einmal sei es gesagt, eine falsche Antwort, wenn wir so falsch fragen. Es geht, wie bei der Welt im Ganzen, auch beim Urmeer nicht um sein Woher. Es geht um die Frage, welche Macht die tehôm, das Chaos und das Grauen, in der Welt haben; ob sie die Welt mitbestimmen. Darauf hören wir die Antwort. Urmeer, Finsternis und Leere sind keine Mächte. Nichts geht von ihnen aus; sie sind geradezu ‚nichts‘. Sie haben keine Kraft, mit Gott zu kämpfen; sie können sich nicht einmal sträuben.34

Gott erschafft die Welt in sechs Tagen, am siebenten ruht er. Dabei nimmt er je nach Erzähltradition – im Alten Testament sind verschiedene vereint: jüdische, vorjüdische, nichtjüdische – auch unterschiedliche Haltungen ein. Einer jüngeren Tradition gemäß wirkt Gott vom Geschehen distanziert, materielle Aspekte fehlen ganz, er gestaltet allein durch sein Wort35.

Gen 1,1 Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.

Gen 1,2 Und die Erde war wüst und wirr, und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.

[…]

Gen 1,27 Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.

Gen 1,28 Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen.

Die Bibel, 1. Buch Mose, Genesis36


Abbildung 8: Die Schöpfung, Titelbild zum 1. Buch Mose

Eine wesentlich ältere Erzähltradition lässt Gott in einer sehr aktiven Rolle erscheinen, er legt selbst Hand an, formt und gestaltet37:


Gen 2,7 Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und er blies in seine Nase den Lebensatem in seine. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.
Gen 2,20 Und der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig war, fand er nicht.
Gen 2,21 Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.
Gen 2,22 Gott, der HERR, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.

Die Bibel, 1. Buch Mose, Genesis38