Das Anthropozän lernen und lehren

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Wie man sieht, kann man das Thema „Anthropozän“ auch von einer humanistischen Warte aus betrachten. Im Hinblick auf eine ganzheitliche Wirklichkeitserfassung sollte man darauf auch nicht verzichten.

1 Vgl. Übersichtskarte 1:200.000 zum Flächenverzeichnis des östlichen Donaugebietes, Südliches Blatt, Hydrographisches Zentralbüro im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft. Hier sind acht „Ordnungen“ von Flussgebieten unterschieden, die „I. Ordnung“ ist ein „Meeresgebiet“, dann folgen große und kleine Zubringer.

2 Siehe Georg Holzer, Urslawisch, in: Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens. Band 10: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens, herausgegeben von Miloš Okuka unter Mitwirkung von Gerald Krenn, Klagenfurt/Celovec 2002, 551–557.

3 Siehe Georg Holzer, Landschaft und Siedlung im slavischen Frühmittelalter, in: Namen, Sprachen und Kulturen / Imena, Jeziki in Kulture. Festschrift für Heinz Dieter Pohl zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Peter Anreiter, Peter Ernst und Isolde Hausner unter Mitwirkung von Helmut Kalb, Wien 2002, 386–398, nachgedruckt in: Georg Holzer, Namenkundliche Aufsätze (= Innsbrucker Beiträge zur Onomastik, herausgegeben von Peter Anreiter, Band 4), Wien 2008, 107–119.

4 Zu diesem siehe Zdeněk Váňa, Die Welt der alten Slawen, Praha 1983, 105–118 und Bohuslav Chropovský, in: Joachim Herrmann (Hrsg.), Welt der Slawen. Geschichte – Gesellschaft – Kultur, München 1986, 161–182.

5 Siehe Georg Holzer, Slavische Gewässernamen in Niederösterreich: ihre Bildung und ihr Verhältnis zu den Geländenamen, in: Albrecht Greule – Wolfgang Janka – Michael Prinz (Hrsg.), Gewässernamen in Bayern und Österreich. 3. Kolloquium des Arbeitskreises für bayerisch-österreichische Namenforschung (Regensburg 27./28. Februar 2004) (= Regensburger Studien zur Namenforschung, herausgegeben von Wolfgang Janka und Michael Prinz, Band 1), Regensburg 2005, 95–109: 104–105, nachgedruckt in: Georg Holzer, Namenkundliche Aufsätze, 199–218: 211.

6 Siehe Georg Holzer, Namenkundliche Aufsätze, 127–133.

7 Siehe Georg Holzer, Weiße und schwarze Flüsse, Österreichische Namenforschung 22–23 (1994–95) 35–53, nachgedruckt in: Georg Holzer, Namenkundliche Aufsätze, 9–30.

8 Siehe zum Folgenden (samt Literaturhinweisen) Georg Holzer, Namenkundliche Aufsätze, 291–300.

Alexandra Meyer
Das Anthropozän: Perspektiven aus der Kultur- und Sozialanthropologie und ein Fallbeispiel aus der hohen Arktis
Einleitung

Der Begriff Anthropozän stammt aus der Geologie und wurde vorgeschlagen, um das derzeitige geologische Zeitalter zu benennen, in dem der Mensch eine die Welt grundlegend verändernde Kraft geworden ist: „Considering [the] growing impacts of human activities on earth and atmosphere, and at all, including global, scales, it seems to us more than appropriate to emphasize the central role of mankind in geology and ecology by proposing to use the term ‘anthropocene’ for the current geological epoch” (Crutzen & Stoermer 2000: 17). Um diese Epoche und seine besonderen Herausforderungen zu verstehen, benötigt es daher ein Verständnis des Menschen, Anthropos, als soziales und kulturelles Wesen. Dies ist der Forschungsgegenstand der Kultur- und Sozialanthropologie, die in Diskussionen um das Anthropozän an Relevanz gewinnt.

Eine der deutlichen Auswirkungen der Menschen auf die Geologie und Ökologie ist das durch menschliche CO2-Emissionen veränderte Klima (Crutzen & Stoermer 2000), und der Klimawandel ist in vieler Hinsicht der Inbegriff des Anthropozäns (Rudiak-Gould 2015). Menschliche Aktivität verändert die Atmosphäre, was vielseitige Auswirkungen auf die Umwelt hat und so wiederum die Menschen in diesen Umwelten beeinflusst. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen von und Auffassungen des Klimawandels, insbesondere des Schmelzens bzw. Auftauens der Kryosphäre – Wasser in seinen unterschiedlichen gefrorenen Zuständen.

Obwohl die Arktis oft als unberührte Einöde dargestellt wird, ist sie von mehr als vier Millionen Menschen bewohnt. Zahlreiche Siedlungen – von einfachen Dörfern zu hochmodernen Städten – sowie moderne Infrastruktur sind integrale Bestandteile der arktischen Umwelt (Schweitzer et al. 2017). Der Klimawandel verändert diese Siedlungen und die Lebensbedingungen der Menschen dort auf vielfältige Weise. Dieser Beitrag wird anhand empirischen Materials aus meiner ethnographischen Feldforschung1 in Longyearbyen, Svalbard, ein Fallbeispiel der gesellschaftlichen Auswirkungen und Auffassungen des Klimawandels darlegen.

Klimawandel in der Arktis

Die Kryosphäre bezeichnet Gletscher, Meereseis und Eisschilde auf Land, Schnee und Permafrost (gefrorener Boden). Sie ist das Ergebnis langfristiger, kalter Klimabedingungen und reagiert besonders empfindlich auf Temperaturveränderungen (Bartsch & Meyer 2017: 21). Die Kryosphäre ist eine definierende Charakteristik der arktischen Umwelt. Die Arktis ist gleichzeitig der Ort, an dem der Klimawandel am schnellsten voranschreitet: Hier steigen die Temperaturen derzeit doppelt so schnell wie in den niederen Breiten (Serreze & Barry 2011), und bis 2100 wird eine Erhöhung der Durchschnittstemperatur von bis acht Grad Celsius erwartet (IPCC 2014). Die durch den Klimawandel verursachten Veränderungen der Kryosphäre sind in der Arktis besonders ausgeprägt und miteinander verwoben, und haben vielfältige Auswirkungen auf arktische Gesellschaften (Bartsch & Meyer 2017). Aufgrund der Klimaveränderungen gehen arktische Eisschilde und Gletscher sowie das Meereis zurück, was wiederum das Meer und die Temperaturen auf Land zusätzlich erwärmt (AMAP 2012). Die Temperatur arktischer Permafrostböden ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen (Romanovsky et al. 2010). Die Emissionen, welche die Temperaturen in der Arktis steigen lassen, sind nicht lokal, sondern stammen aus aller Welt. Gleichzeitig beeinflussen die lokalen arktischen Umweltveränderungen das globale Klima, etwa indem auftauender Permafrost massiv Karbondioxid freisetzt (Schuur et al. 2009). So verdeutlichen die Veränderungen der arktischen Kryosphäre die Verwobenheit von Mensch und Natur, lokal und global.

Mensch-Umwelt-Beziehungen und das Anthropozän in der Anthropologie

Die Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen und der natürlichen Umwelt ist seit der Herausbildung der Anthropologie eines der Kernthemen des Faches (Dove & Carpenter 2009). Die Debatte über die Rolle der physischen und sozialen Dimensionen in der conditio humana zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Anthropologie. Während umweltanthropologische Analysen lange mit den Kategorien Mensch/Umwelt, Kultur/Natur operierten, wurden sie und ihre Gegenüberstellung im Zuge postmoderner und konstruktivistischer Kritik der 1980/1990er-Jahre hinterfragt (Descola & Pálsson 1996). Die akademische Kategorie einer objektiv erfassbaren, vom Menschen getrennten Umwelt wurde „entnaturalisiert“ und als ein kulturelles Konstrukt westlichen Denkens dekonstruiert (Milton 1996): „what we consider to be truth about the natural world is not inherently found in nature, but is a product of our own cultural frameworks” (Gibson & Venkanteswar 2015: 8). Ethnographische Forschung zeigte auf, dass das Verständnis von Natur und Gesellschaft als zwei ontologisch unterschiedliche Bereiche nicht universell ist, sondern historisch und bestimmten Gesellschaften entsprungen ist (Descola & Pálsson 1996). Diese Kritik der Natur-Kultur-Dichotomie hatte jedoch nur begrenzten Einfluss auf die Naturwissenschaften und verblieb weitgehend eine interne Debatte der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Diese Diskussion gewinnt nun mit dem Begriff Anthropozän an Relevanz und wird aktualisiert, auch außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften. Aus der Sicht der Anthropologie ist das Anthropozän nicht (nur) eine geologische Tatsache, sondern auch ein Konzept, das unser Verständnis von Natur und Gesellschaft und deren Verhältnis sowohl reflektiert als auch beeinflusst (Kersten 2013). Als solches stellt das Anthropozän einerseits eine „opportunity to break down Westernized dichotomies of culture/nature“ dar (Gibson & Venkateswar 2015: 11). Die theoretische Konsequenz der Benennung der derzeitigen geologischen Epoche als „Anthropozän“ ist die Anerkennung, dass Natur nicht mehr ohne den Menschen verstanden werden kann: „In the Anthropocene, nature is no longer what conventional science imagined it to be” (Haraway et al. 2016: 535). Den Menschen als die unsere Epoche definierende „Naturgewalt“ anzuerkennen, impliziert die Verwischung der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft (Chua & Fair 2019).

Andererseits kann das Konzept Anthropozän durch den Fokus auf Anthropos auch ebendiese Dichotomie verfestigen: „The underlying implications of the name ‘Anthropocene’ is reflective of the self-appointed dominant place humans hold above all other life on Earth” (Gibson & Venkateswar 2015: 6). Das Konzept Anthropozän situiert den Menschen als die definierende Kraft dieser geologischen Epoche: „the very idea of the Anthropocene places the ‘human agency’ […] smack in the center of attention“ (Latour 2017: 37). Ein einseitiger Fokus auf Anthropos läuft jedoch die Gefahr, andere Spezien und deren Rolle in der Gestaltung der Erde zu ignorieren (Haraway et al. 2016: 539). In der Anthropologie inspiriert die kritische Auseinandersetzung mit dem Anthropozän unter anderem sogenannte „more-than-human“ und „multispecies“ Ethnographien, die versuchen, nicht-menschliche Entitäten in die Studie des menschlichen Handelns miteinzubeziehen (Kirksey & Helmreich 2010). AnthropologInnen betonen des Weiteren dass menschliches Handeln nicht undifferenziert und universell ist. Unterschiedliche Lebensformen bringen unterschiedliche Mensch-Umwelt-Beziehungen hervor. Die „Naturgewalt“ Anthropos ist demnach keine einheitliche Entität, sondern bestimmte menschliche Konfigurationen tragen die Verantwortlichkeit für die ökologischen Krisen des Anthropozäns. Dies wirft die Frage der Verantwortung, der Responsibility, auf, aber auch die der Response ability (Haraway 2015): Welche menschlichen Lebensweisen produzieren das Anthropozän, welche leiden darunter, und wie können Menschen mit Umweltveränderungen umgehen? Haraway (2015) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass der Begriff „Kapitalozän“ treffender wäre, da er impliziert, dass nicht alle Gesellschaftsformen, sondern hauptsächlich das kapitalistische System die Natur nachhaltig modifiziert. Diese Perspektiven betonen, dass das Anthropozän ein Resultat historischer und globaler Ungleichheiten ist (Chua & Fair 2019) und dass Anthropos kein passiver Akteur, sondern ein moralisches und politisches Wesen ist, das für seine Handlungen Verantwortung trägt (Latour 2017: 39).

 

Aus der Sicht der Anthropologie ist das Anthropozän also ein paradoxes Konzept, das sowohl dem Menschen eine dominante Rolle gegenüber der Umwelt zuschreibt und somit den Menschen konzeptuell von der Natur abgrenzt, als auch die Möglichkeit birgt, ebendiese konzeptuelle Trennung zwischen Gesellschaft und Natur aufzulösen.

Fallbeispiel: Svalbard im Anthropozän

Svalbard ist eine norwegische Inselgruppe in der hohen Arktis und in vielerlei Hinsicht ein Ort, an dem die menschliche Modifikation der Umwelt besonders sichtbar wird. Spitzbergen, die größte Insel des Archipels, kann als „anthropozäne Insel“ (Pugh 2018) bezeichnet werden, eine Insel „humbled within the vast multidimensional forces of a rapidly changing planet” (Pugh 2018: 96). Während Svalbard oft als „unberührte Natur“ dargestellt wird, als „one of the world’s best-managed wilderness areas“ (Ministry of Justice and Public Security 2015–2016: 56), ist es gleichzeitig einer der Orte in der Welt, an dem die anthropogen verursachten Klimaveränderungen am stärksten ausgeprägt sind. Die Inselgruppe hat in den letzten 50 Jahren eine extreme Temperatursteigerung erlebt, was zu umfassenden Umweltveränderungen führt (Hanssen-Bauer et al. 2019; Norsk Klimaservicesenter 2019). Das Meereseis um Svalbard ist markant zurückgegangen, es gibt öfters extreme Wetterereignisse, und es regnet stärker und öfter im Winter. ForscherInnen prognostizieren ein wärmeres und nasseres Klima auf Svalbard in Zukunft. Dies führt zu Permafrost-Tau (eine tiefere aktive Schicht, d.h. die Schicht, die im Sommer auftaut), Fluten, Küsten- und Flussbetterosion. Mehr Schnee- und Schlammlawinen werden erwartet. Eine tiefere aktive Schicht des Permafrostbodens in Kombination mit mehr Regen führt zu instabilen Hängen, mit erhöhter Erdrutschgefahr. Svalbards scheinbar „unberührte Natur“ wird also vom Menschen – durch anthropogen verursachten Klimawandel – stark modifiziert, und diese klimabedingten Umweltveränderungen beeinflussen wiederum das menschliche Leben auf der Inselgruppe. Die Grenzen zwischen „Natur“ und „Gesellschaft“ verschwimmen, und es wird zunehmend unmöglich, die „lokale“ und die „globale“ Umwelt auseinanderzuhalten.

Während der Klimawandel in vielen Teilen der Arktis indigene Lebensformen beeinträchtigt, die für ihre teilweise auf Subsistenz beruhende Wirtschaft stark auf Naturressourcen und Umweltbedingungen wie Meereis angewiesen sind, ist Longyearbyen, die größte Siedlung Svalbards, eine nicht-indigene, hoch-industrialisierte Gesellschaft, die sich inmitten einer Umstellung von einer auf Kohleminenindustrie beruhenden Wirtschaft zu einer post-industriellen Ökonomie basierend auf Tourismus, Forschung und Serviceindustrie befindet. Der Klimawandel bedroht also nicht grundlegend die Lebensweise und Subsistenz der in Longyearbyen lebenden Menschen, bringt jedoch neue Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten, in Bezug auf die gebaute Umwelt, Mobilität, Tourismus und Forschung.

Auffassungen des Klimawandels in Longyearbyen

Die in Longyearbyen lebenden Menschen erleben und beobachten, dass die Natur, das harte Klima und die kalten Winter, was für viele ein Grund ist, um nach Svalbard zu ziehen, sich verändern. In der Klimaanthropologie werden zunehmend lokale Beobachtungen komplementär zu Klimadaten herangezogen, um Umweltveränderungen und ihre Auswirkungen auf die Menschen zu dokumentieren (Krupnik & Jolly 2010; Savo et al. 2016). Während in indigenen Gesellschaften dadurch weit zurückgehende Datenreihen erstellt werden können, ist Longyearbyen eine Stadt mit relativ kurzer Erinnerung. Nur ca. 500 Personen von den insgesamt 2400 EinwohnerInnen leben seit mehr als zehn Jahren auf Svalbard, und nur 130 seit länger als 20 Jahren. Die Fluktuation in der Bevölkerung ist extrem hoch: Ca. 20 Prozent der Bevölkerung werden jedes Jahr ausgetauscht (Statistisk Sentralbyrå 2016: 11). Somit haben nur die wenigsten lange genug dort gelebt, um die Veränderungen über einen längeren Zeitraum beobachten zu können. Trotzdem berichten viele von Umweltveränderungen. Die „Svalbardveterane“ erzählen, wie Gletscher sich zurückgezogen haben und die Winter wärmer und nässer geworden sind. Eine Veränderung, über die oft gesprochen wird, ist der Rückgang des Meereises. Der Isfjord („Eisfjord“), das große Fjordsystem, in dem sich Longyearbyen befindet, war seit dem Winter 2004/2005 nicht mehr zugefroren (dieses Jahr könnte es zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder zufrieren [UNIS 2020]). Für die Lokalbevölkerung war der zugefrorene Fjord vor allem für ihre Mobilität und Freizeitaktivitäten von Bedeutung: Sie konnten mit dem Schneemobil den Fjord entlang fahren und überqueren, was die Fahrten unkomplizierter und die Abstände deutlich kürzer machten. Diejenigen, die lange genug in Longyearbyen leben, um das erlebt zu haben, erinnern sich gerne an diese Zeit zurück und erzählen nostalgisch von legendären Ausflügen mit perfekten Schneemobilbedingungen.

Es wäre vielleicht naheliegend zu denken, dass an einem Ort wie Svalbard, wo die Klimaveränderungen sehr stark und deutlich erkennbar sind, die Leute sich bezüglich der Rolle von Anthropos in diesen Veränderungen einig seien. Während die meisten der Meinung sind, dass die Veränderungen im globalen Klima Auswirkungen auf die lokale Umwelt auf Svalbard haben, scheiden sich jedoch die Geister, ob dies eine Konsequenz natürlicher Variation oder anthropogener Einflüsse sei. Die Feststellung der Veränderungen bedeutet also keinesfalls eine Übereinstimmung bezüglich der Zuschreibung ihrer Ursache. Dennoch reflektieren viele Menschen auf Svalbard, sowohl Zureisende, die meilenweit fliegen, um die arktische Wildnis zu erleben, bevor sie schmilzt, als auch BewohnerInnen, über die Tatsache, dass menschliche Aktivität die Natur Svalbards modifiziert, und drücken ein Dilemma aus, dass das Erleben von und Leben auf Svalbard nicht nachhaltig sein kann. Haraway et al. sprechen in diesem Zusammenhang von der „Tragik des Anthropozäns“ (Haraway et al. 2016: 535): Im Anthropozän sind die Menschen, in ihren Anstrengungen, die Welt zu beherrschen, zu ihrer größten Zerstörungskraft geworden. Reflexionen über dieses Dilemma führen wiederum zu kleinen und größeren Veränderungen der Lebensweise auf Svalbard. Longyearbyen war lange eine Kohleminenstadt, eine „Company Town“, für die Kohleminenindustrie gebaut und aufrechterhalten. Aufgrund von Krisen am Kohlemarkt und dem mangelnden politischen Willen, in Zeiten des Klimawandels den Kohleabbau in der hohen Arktis zu unterstützen, wurde in den letzten Jahren die Kohleminenindustrie eingestellt; zurzeit operiert nur noch eine Mine, die Longyearbyen mit Energie versorgt.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels in Longyearbyen

Während die wenigsten EinwohnerInnen die Klimaveränderungen als große persönliche Herausforderung wahrnehmen, werden sie weitgehend als gesellschaftliche Herausforderung aufgefasst. Für Menschen, die sich viel in der Natur aufhalten, seien es ForscherInnen, Touristenguides oder JägerInnen, bedeutet der Klimawandel, dass man sich nicht mehr auf „altes“ und bewährtes Wissen und Erfahrungen verlassen kann. Umweltbedingungen sind unvorhersehbarer geworden, was eine Herausforderung für die Sicherheit bei wissenschaftlicher Feldarbeit und auf Tourismusexkursionen darstellt. Die Mobilität mithilfe von Schneemobilen ist aufgrund von weniger Meereis eingeschränkt, und Erosion führt zur Sperrung von Straßen und Wanderwegen. Es werden aber auch potenzielle Möglichkeiten mit dem sich verändernden Klima verbunden. Svalbard ist ein Zentrum für naturwissenschaftliche Forschung über die Auswirkungen des Klimawandels sowie eine Destination für „last chance tourism“ (Lemelin et al. 2010) geworden, die TouristInnen besuchen, um die Arktis zu erleben, bevor sie schmilzt. In einer weitgehend meereisfreien Arktis würde der Hafen von Longyearbyen entlang der Nordost-Passage eine bedeutende Rolle spielen und wärmere Meeresströmungen könnten Fischereiindustrie auf Svalbard ermöglichen.

Eine zentrale Schnittstelle zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umwelt stellt die gebaute Umwelt dar, und diese wird in der Arktis erheblich durch die das Anthropozän charakterisierenden Umweltveränderungen beeinflusst (Ford et al. 2010; Melvin et al. 2016). Das veränderte und wärmere Klima hat große Auswirkungen auf Gebäude und Infrastruktur in Longyearbyen, was wiederum die Stadtentwicklung und -planung erschwert. So stellt das Anthropozän auch die Dichotomie der gebauten und der natürlichen Umwelt infrage, indem Gebäude und Infrastruktur nicht mehr unabhängig oder abgegrenzt von „Naturphänomenen“ entworfen, gebaut und erhalten werden können (Allenby & Chester 2018). Das wärmere und nassere Wetter führt zu vermehrter Erosion der Hangseiten um Longyearbyen, weshalb Straßen zeitweise gesperrt und Gebäude evakuiert werden müssen – teilweise auch permanent – wegen der Gefahr von Erdrutschen. Außerdem ist die ganze Stadt auf Permafrost gebaut. Um Setzungsschäden zu verhindern, müssen die Gebäude entweder auf Stelzen oder anderen Metallstrukturen gebaut werden, oder Kühlelemente im Boden haben, sonst dringt die Wärme der Gebäude in den Boden ein und der Permafrost taut auf. Aufgrund der erhöhten Temperaturen auf Svalbard werden die Stelzen heute tiefer in den Permafrostboden, oder so tief bis man auf Fels stößt, gebohrt, um die Stabilität der Gebäude zu gewährleisten. Eine andere Möglichkeit ist es, Gebäude auf justierbare Metallgerüste zu stellen. Durch die Klimaveränderungen wird Svalbard nicht nur wärmer, sondern das Wetter auch feuchter. Diese Kombination führt dazu, dass viele alte Holzstelzen instabil werden und ausgetauscht werden müssen. Eine Anpassungsmaßnahme sind neue Stelzen aus Metall. Viele Gebäude in Longyearbyen wurden bereits neu fundamentiert, und IngenieurInnen sagen vorher, dass dies eine große und teure Aufgabe in den kommenden Jahren sein wird.

Ein wärmeres und nasseres Klima bedroht auch das physische Kulturerbe von Longyearbyen. Die Stadt wurde als ein Kohleminencamp am Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet. Die Überreste der Kohleminenindustrie stellen im Kontext der heutigen Strukturänderungen hin zu einer postindustriellen Ökonomie basierend auf Tourismus, Serviceindustrie, Forschung und Bildung wichtige „markers of identity“ der Stadt dar. Die hölzernen Stützböcke der ehemaligen Seilbahnen sind im Zentrum und in den Hangseiten über der Stadt zu sehen. Ein wärmeres und nasseres Klima macht die Holzstrukturen morsch und der tauende Permafrostboden in Kombination mit mehr Niederschlag als Regen destabilisiert den Grund, auf dem sie stehen.

Obwohl hier keine direkte Kausalität besteht, weisen WissenschaftlerInnen darauf hin, dass die Klimaveränderungen das Risiko von Schneelawinen um Longyearbyen erhöhen (Norsk Klimaservicesenter 2019). Seit den zwei schweren Lawinen in 2015 und 2017, die mehrere Häuser zerstörten und zwei Personen töteten, ist die Sicherung von Häusern eine Toppriorität der lokalen Gemeinde geworden. BewohnerInnen in ausgesetzten Gebieten werden regelmäßig evakuiert, und im Winter 2019 wurde damit begonnen, 139 Wohneinheiten abzureißen. Dies trägt maßgeblich zum derzeitigen Wohnungsmangel in Longyearbyen bei. Andere Teile der Siedlung werden derzeit durch Stützverbauungen, Schneezäune und Dämme vor Schnee- und Schlammlawinen gesichert. Aufgrund der Schnee- und Schlammlawinengefahr fühlen sich viele EinwohnerInnen in Longyearbyen nicht mehr sicher in ihrem eigenen Zuhause.

 

Der Klimawandel erhöht nicht nur das Risiko für Naturgefahren und Umweltveränderungen, er erschwert auch die Anpassung an diese. Laut StadtplanerInnen, TechnikerInnen und IngenieurInnen führt der Klimawandel zu erhöhter Unsicherheit und verändert die Wissensbasis der Stadtplanung. Beispielsweise hat die Gemeinde in 2018 umfassende Maßnahmen für die Sicherung der Besiedlung unterhalb der steilen Hänge an der Ostseite der Stadt gegen Schnee- und Schneematschlawinen genehmigt. Zwei Monate später wurden ein neues Klimaprofil für Longyearbyen (Norsk Klimaservicesenter 2019) und ein Klimareport für Svalbard publiziert (Hanssen-Bauer et al. 2019). Die neuen Vorhersagen besagen, dass der Permafrostboden nicht stabil genug sei für die geplanten Lawinendämme und zukünftiger Permafrost-Tau eine tiefere Fundamentierung der Lawinenstützverbauungen als geplant erfordere. In Folge wurden der Bau der Sicherungsmaßnahmen zurückgestellt und ein neues Konzept erarbeitet. Sollte das höchste Emissionsszenario (RCP8,5)2 eintreffen, befürchten StadtplanerInnen und IngenieurInnen, dass die Fundamentierung von Gebäuden und Infrastruktur aufgrund von Permafrost-Tau in Zukunft extrem teuer und herausfordernd wird. Der Klimawandel erfordert also Anpassung und Schutzmaßnahmen im Bereich der Stadtentwicklung und -planung und verkompliziert diese Bemühungen durch veränderte Umweltbedingungen und erhöhte Unsicherheit. Gleichzeitig sind sowohl EinwohnerInnen und PlanerInnen der Meinung, dass es möglich sei, sich den veränderten Bedingungen anzupassen und auch in Zukunft in Longyearbyen zu leben. Anpassung wird als notwendig und technisch durchführbar betrachtet, solange der politische Wille vorhanden ist und ausreichend ökonomische Ressourcen bereitgestellt werden.