Chimära mensura?

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„Das Internet ist eine Katze“, behauptet zwar der Schriftsteller Peter Glaser55, doch, so der subjektive Eindruck der Herausgeber sind Katzen in den HAS bislang ausgesprochen wenig vertreten56, Hunde hingegen das mit Abstand beliebteste Objekt der Aufmerksamkeit im Feld der jungen Disziplin57, wahrscheinlich dicht gefolgt von Pferden58. Die Herausgeber hatten den Workshop noch „Auf den Schäferhund gekommen“ genannt, sahen aber davon ab, das Buch mit demselben Titel zu versehen, stellte sich doch heraus, dass das Wortspiel nach der inflationären Verwendung in den HAS bereits ziemlich verschlissen ist.59 Wortspiele sind beliebt: So ist schon in Anlehnung an die Human Condition von einer „Canine Condition“ die Rede.60 Es gibt Plädoyers für eine „Hunde-Epistemologie“61 – etwas, das die Organisatoren bei der Planung der Tagung ebenfalls noch nicht wussten, als sie zum Scherz die „Schäferhund-Hermeneutik“ in einem Paneltitel unterbrachten. Entsprechend bestürzend war es, später zu lesen, dass die “canine epistemology” im Werk Virginia Woolfes “the dominant empirical epistemology of the period” unterbreche, “allowing readers to experience animal alterity as a non-empirical mode of knowing”.62

Rezensenten sprechen von einem Boom.63 Es sei „eine explosionsartige Ausbreitung von Aufsätzen, Zeitschriften und Konferenzen“ zu konstatieren, heißt es in „Der Zeit“.64 Schon ist die Rede vom „animal turn“65, der das „Proletariat durch Tiere“66 ersetze oder zumindest die marxistisch gedachte Arbeiterklasse um Tiere zu erweitern gedenke.67 Auch ein konservativer Philosoph wie Peter Sloterdijk spricht von einer „unvermeidlichen Ausbeutungsverschiebung des Fossilenergiezeitalters“, die „ein neues Proletariat geschaffen [habe], mit dessen Leiden die entlasteten Zustände im [menschlichen, d. Verf.] Wohlstandspalast ermöglicht“ würden. Er schließt an: „Das Hauptgewicht der aktuellen exploitation ist auf die Nutztiere übergegangen, für welche dank der Industrialisierung der Landwirtschaft die Ära ihrer massenhaften Erzeugung und Verwertung angebrochen ist.“68 Selbst Fragen, ob Tiere aus emanzipations-historischer Sicht die „neuen Frauen“69 oder gar „die besseren Menschen“70 seien, werden bereits gestellt. Der US-amerikanische Gender- und Queer-Theoretiker Jack Halberstam plädierte unlängst dafür, das Wort „queer“ durch das Wort „wild“ zu substituieren, weil ersteres allzu domestiziert sei, und stattdessen von „wild theory“ zu sprechen.71

Der Schäferhund-Hoax steht in einer langen und wichtigen Tradition von Wissenschaftshoaxes, die an dieser Stelle nicht eingehender gewürdigt werden können. Es sei an den Hänsel-und-Gretel-Hoax von Hans Traxler oder an den Randi-Hoax erinnert.72 Weitere ähnlich angelegte negative Science Hoaxes waren: der „Mechanical Turk“, Schachtürke oder kurz Türke. Er ist die umgangssprachliche Bezeichnung für einen vorgeblichen Schachroboter, der 1769 von dem österreichisch-ungarischen Hofbeamten und Mechaniker Wolfgang von Kempelen konstruiert und gebaut wurde. „Beavers on the Moon“ war der große Astronomie-Hoax des Jahres 1835.73 Shinichi Fujimura, ein japanischer Amateurarchäologe, nahm für sich in Anspruch, eine Vielzahl von Artefakten aus dem jungen und mittleren Paläolithikum entdeckt zu haben. Die Funde erwiesen sich im Jahr 2000 als Fälschungen. „The Piltdown Man“: unter diesem Namen wurden die angeblichen Überreste eines Frühmenschen bekannt, die vor 1912 in einer Kiesgrube bei dem Dorf Piltdown in der Nähe von Uckfield in Südostengland gefunden und 1953 als wissenschaftliche Fälschung entlarvt wurden. Der wichtigste Hoax, an den sich der Schäferhund-Hoax anlehnen kann, wurde von Alan Sokal inszeniert. 1996 sorgte der New Yorker Physiker für ein Beben in der akademischen Welt. In der renommierten Zeitschrift „Social Text“ kündigte er nicht weniger als eine „kulturalistische Wende in der Physik“ an. Sein Essay trug den Titel „Trangressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“.74 Er nahm darin gekonnt aktuelle Trends, Thesen und Duktus der kulturalistisch gewendeten Geistes- und Sozialwissenschaften auf und schien damit eine Brücke zwischen den beiden „Wissenschaftskulturen“ geschlagen zu haben. Er schrieb etwa:

„Es ist zunehmend offenbar geworden, dass die physikalische ‚Realität‘ nicht weniger als die soziale im Grunde ein soziales und linguistische Konstrukt ist; dass das naturwissenschaftliche ‚Wissen‘ – weit davon entfernt, objektiv zu sein – die herrschenden Ideologien und die Machtverhältnisse jener Kultur widerspiegelt, die dieses Wissen hervorgebracht hat.“ 75

Diese Hoffnung aber brach schnell in sich zusammen, denn Sokal enthüllte seinen Aufsatz als Parodie auf den „eleganten Unsinn“, der im Begriff sei, die Geistes- und Sozialwissenschaften zu erobern.76 Daraufhin erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der es bis auf die Titelseiten der New York Times brachte. Die Entrüstung traf zum einen die Zeitschriftenherausgeber, die „offenbar den Text nicht begriffen hatten, den sie abdruckten“ und zum anderen galt die Entrüstung gleichermaßen der Bereitschaft eines größeren Teils der neueren Kultur- und Geisteswissenschaften, „im Dienste linker emanzipatorischer Anliegen wissenschaftliche Standards beiseite zu setzen“.77 Das ist auch ein Grund dafür, warum der Sokal-Hoax vor 20 Jahren breit in den Medien und Feuilletons rezipiert wurde, allerdings schon weniger in der englischsprachigen akademischen Welt, und in der deutschsprachigen noch weniger.

Der Sokal-Hoax hielt den Siegeszug des „cultural turn“ nicht auf, ja vermochte ihn vermutlich nicht einmal zu bremsen. Der Kulturalismus gewann in den 1990er Jahren die „Lufthoheit über den Lehrstühlen der akademischen Welt und drang weit in das öffentliche Denken vor.“78 Mit seinen Abkömmlingen, dem „linguistic turn“ und dem „anthropological turn“, eroberte er die Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaften. Diese Entwicklung setzte sich in jüngerer Zeit im „animal turn“ fort und forderte den Schäferhund-Hoax heraus.79 Insofern waren wir froh, dass Peter Boghossian ein Vorwort beigesteuert hat, in dem er seine Sicht auf Science-Hoaxes und wie mit ihnen umzugehen sei, entwirft. Boghossians „Conceptual-Penis“-Hoax sorgte international für Aufmerksamkeit was auch in seinem Fall darauf hindeutet, dass ein Nerv getroffen wurde, einige Leute davon wirklich geärgert waren und somit der nicht unumstrittene „Skeptiker“ Boghossian also auch einiges richtig gemacht haben dürfte.80 Der hier behandelte Hoax hat diese Aufmerksamkeit nicht erfahren. Die prominente HAS-Vertreterin Margo DeMello hat in ihrem Vorwort zum HAS-Einführungsband den Hoax zwar als einleitenden Aufhänger genommen, ihn kurz beschrieben und dann rhetorisch gefragt, ob die HAS wirklich vielleicht nichts weiter als eine akademische Modeerscheinung seien, die beim Auftauchen der nächsten modischen Disziplin verschwinden würde. Als Antwort auf die selbstgestellte Frage konnte sie nur anbringen: „I would say no to that.“81

Boghossian ist zuzustimmen, dass Science-Hoaxes ethisch wichtig und wertvoll sind. Sie sind ein Teil der wissenschaftlichen Kommunikation. Nicht nur in der Politik und der Wirtschaft, in einer Welt der Fake News und Unübersichtlichkeit haben Leaker und Whistleblower an Bedeutung gewonnen, sondern auch in der Wissenschaft scheint es einen Bedarf nach ähnlichen Figuren, die als Korrektiv wirken können, zu geben. Wissenschaftliche Forschung wird zum großen Teil noch immer über öffentliche Mittel finanziert, womit eben auch die interessierte Öffentlichkeit ein Recht hat, umfassend informiert zu werden, was im akademischen Sektor vor sich geht. Aufgrund der Spezialisierung der Fächer wissen dies mitunter auch die in der Wissenschaft tätigen Menschen nur in begrenztem Umfang. Elizabeth S. Goodstein hat jüngst in ihrer famosen Arbeit über Georg Simmel noch einmal auf dessen Bemühungen hingewiesen, jenseits aller Disziplinarität auch übergeordnete Fragen nicht aus dem Blick zu verlieren.82

Natürlich gibt es auch eine negative Seite von Science-Hoaxes, etwa wenn es um Tricksereien, Irreführungen oder bewusste Betrügereien geht. Diese können aus den verschiedensten Gründen gemacht worden sein. Oftmals dürfte dahinter der Druck gestanden haben, endlich die „richtigen“, zum Projekt passenden Forschungsdaten parat zu haben oder um persönliche Eitelkeiten, also darum, Aufmerksamkeit, Reputation und Gelder zu gewinnen.83 Der Sozialpsychologe Oliver Lauenstein wird sich in seinem Beitrag diesem Thema intensiver widmen und eigene Akzente setzen.

Kritisch hingegen sehen wir Boghossians Einstellung zu den Gender Studies. Diese bieten sowohl reichlich Anlass zu Kritik84 als auch wissenschaftlich und gesellschaftlich außerordentlich relevante Ansätze. Sie wirken schon seit längerer Zeit über die eigentlichen Kulturwissenschaften hinaus. Ende 2003 beschlossen etwa die medizinische Fakultät der Freien Universität und der Humboldt-Universität, die Charité-Universitätsmedizin Berlin, die Gründung des ersten Zentrums für Geschlechterforschung in der Medizin in Deutschland. Dessen Aufgabe ist

„die Förderung der Geschlechterforschung in der universitären Medizin und die Integration der Forschungsergebnisse in die medizinische Ausbildung. Geschlechterforschung in der Medizin ist ein neuer, innovativer Wissenschaftsbereich, in dem biologische Grundlagen von Gesundheit und Krankheit, die Auswirkung von Geschlechterunterschieden auf Krankheitsentstehung und -verlauf und ihre Rolle in der Krankenversorgung untersucht werden. Daneben sind medizin-soziologische Aspekte wie unterschiedliche Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit von und bei Frauen und Männern, unterschiedliche Bedeutung präventiver und kurativer Ansätze bei Frauen und Männern und geschlechtsspezifische Aspekte in neuen medizinischen Themengebieten wie Reproduktionsmedizin und regenerativer Medizin (Organersatz) von Bedeutung“. 85

 

Kurzum: so sehr man auch Sektoren der Gender Studies konstruktiv kritisieren mag, so kann man nicht über die positiven Ergebnisse des gesamten Feldes hinwegsehen. Schließlich bedeutet etwas kritisieren nicht, es auch (in toto) zu verwerfen.86 Boghossians Hoax hat also „die“ Gender Studies nicht (Martial-Arts-mäßig) zerstört oder ad absurdum geführt. Offenbar hat auch er wohl dabei einen Strohmann geschaffen und in „die“ Gender Studies das herein gelesen und kritisiert, was er darunter versteht. Wir haben hier also die interessante Situation vor uns, dass sowohl Skeptiker als auch Vertreter postmoderner Theorien jeweils den eigenen Strohmann (zumindest teilweise) bekämpfen. Eine Ursache könnte darin liegen, dass Naturwissenschaftler als für die Geistes- und Kulturwissenschaften Außenstehende in erster Linie nur eine Dominanz postmoderner Ansätze registrieren (das andere eben nicht oder weniger) und sich durch deren Verständnis von Wissenschaft, Realität und Erkenntnis herausgefordert fühlen.

Mit der Publikation verfolgen wir das Ziel, die Debatte, die der Schäferhund-Hoax angestoßen hat, weiter zu verfolgen. Insofern richtet sich dieses Buch an keine klar definierte Zielgruppe, sondern an alle, die sich für die aktuellen akademischen Diskurse in Deutschland interessieren. Es geht keineswegs darum einer (noch) relativ kleinen und unbedeutenden Strömung in der akademischen Welt mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen, als ihr möglicherweise zustehen mag, sondern grundlegendere Probleme anzusprechen. Bei Gesprächen mit Kollegen oder in Diskussionen auf Workshops und Tagungen begegnete uns immer wieder ein Argument von Menschen, die ansonsten den HAS entweder ablehnend oder neutral gegenüberstanden, nämlich dass diese „frischen Wind“ in alte und eingefahrene Forschungsgebiete brächten. Allein, bislang konnten wir, die Herausgeber, noch keine stichhaltigen Argumente für diese These – zumindest in unserem Fachgebiet – erkennen.87 Vielleicht wird es sich noch erweisen. Die Zukunft ist offen, um es mit Karl Popper zu sagen. Sicher hingegen sind wir uns bei der Einschätzung, dass es nicht der letzte Science-Hoax dieser Art gewesen sein wird. Der Stil des Buches ist daher auch bewusst etwas „lockerer“ gehalten; der Inhalt allerdings ist es keineswegs: kenntnisreich und auf hohem Niveau nehmen die Autor*innen für oder gegen die HAS Stellung, beschreiben die aktuellen Schwierigkeiten prekärer akademischer Arbeitsverhältnisse, skizzieren Aspekte der Totalitarismusdebatte, zeichnen sowohl die Geschichte als auch die Bedeutung von Science-Hoaxes nach und beschäftigen sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Erkenntnisgewinns in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. – Übrigens haben wir den Autor*innen überlassen, wie sie in ihren Beiträgen gendern.

Bedanken möchten wir uns beim Vergangenheitsverlag, der an uns mit der Möglichkeit zur Veröffentlichung herantrat. Mit dem Verleger Alexander Schug haben wir dann eine Crowdfunding-Aktion gestartet, um die benötigten Gelder zusammen zu bekommen. Dank der Unterstützung von 41 Menschen ist dies auch tatsächlich gelungen. Vielen Dank an alle! Durch das Crowdfunding war es möglich, schnell und unabhängig von äußerer Einflussnahme durch übliche Formen der Finanzierung, die Publikation zu realisieren.

Auch den Titel, nach dem wir lange gesucht haben, müssen wir kurz erläutern: Es ist vermutlich klar geworden, dass sich „Chimära mensura?“ auf den homo-mensura-Satz (in der lateinischen Übersetzung) des Sophisten Protagoras bezieht. Nach ihm also sei der Mensch das Maß aller Dinge. Eine Chimäre ist in der griechischen Mythologie ein Mischwesen zwischen Mensch und Tier, aber aber auch ein Fantasiegebilde. In den untiefen Gefilden tierlicher Hermeneutik fanden wir diesen semantisch mehrschichtigen Ausdruck also durchaus (zu)treffend. Überdies hatte der bekannte Evolutionsbiologe Richard Dawkins schon vor Jahren die Schaffung einer „Chimäre“ vorgeschlagen, also der Kreuzung von Mensch und Tier in Form eines Mischwesens aus Mensch und Schimpanse, um dadurch eine „heilsame Erschütterung“ auszulösen für die auf Menschen fixierte Ethik.88 Natürlich ist auch eine Anspielung auf den Chimaira AK enthalten, der im „Kontext der Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse“ mit seiner „Namensgebung auf die machtvollen Prozesse hinweisen“ möchte, „im Zuge derer die Grenzen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren gezogen und naturalisiert werden“.89

Die Publikation ist zweigeteilt. Der erste Teil ist als eine Art Debatten-Reader zu verstehen. Hier haben wir die wesentlichen Texte des Hoaxes und der anschließenden Debatte aufgenommen. Dazu gehört auch der mittlerweile nicht mehr verfügbare Artikel von „Schulte“ aus der Zeitschrift „Totalitarismus und Demokratie“. Die Herausgeber bedanken sich beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und beim Redaktionsleiter Prof. Dr. Uwe Backes, dass sie fairer- und freundlicherweise die Erlaubnis erteilten, den Aufsatz in unseren Band aufnehmen zu dürfen. Wir haben uns allerdings dafür entschieden, die Tagungsfassung abzudrucken, die bislang nicht öffentlich verfügbar war. Die wesentlichen Änderungen zwischen dieser und der publizierten Fassung sind in einer editorischen Notiz beschrieben. Es folgen die Interviews, in denen sich „Schulte“ sowie Betroffene des Hoaxes in der Zeitschrift sub\urban geäußert haben. Wir bedanken uns auch in diesem Fall bei der Redaktion und den Interviewten für die freundliche Abdruckgenehmigung.

Der zweite Teil des Bandes ist so untergliedert, dass er die Struktur des Workshops und damit die einzelnen Problemebenen, die wir durch den Schäferhund-Hoax berührt sehen, teilweise reflektiert, ihn teilweise aber auch verlässt. Zu Beginn steht ein kurzes Geleitwort von Peter Boghossian, der kürzlich als Koautor des Nonsens-Aufsatzes über den „konzeptionellen Penis“ als Ursache des Klimawandels in Erscheinung getreten ist, der im Mai 2017 in der Zeitschrift „Cogent Social Sciences“ veröffentlicht und bald als Hoax mit einer ähnlichen Stoßrichtung enttarnt wurde, eröffnen. Boghossian zufolge sind Wissenschaftshoaxes wichtig und ethisch geboten. Es folgen Beiträge, die aus Statements auf dem Workshop hervorgehen, aber auch eigens geschriebene Artikel, die aus unterschiedlichen Perspektiven eine Analyse des klug platzierten Hunde-Hoaxes bieten.

Einleitend wird sich Sven Schultze kritisch mit den HAS auseinandersetzen. Aus seiner Sicht sind antirealistische Forschungskonzepte innerhalb der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften derzeit tonangebend. Der Schäferhund-Hoax verweise deshalb innerhalb des Spannungsfeldes zwischen postmodernem „ge-turne“, Konstruktion und Dekonstruktion, kulturalistischer Wende und Performanz auf die unverändert akuten Schwierigkeiten geisteswissenschaftlicher Epistemologie. Die primären Fragen dabei sind, welches Wissenschaftsverständnis den deutschsprachigen HAS eigen ist und welcher wissenschaftliche Stellenwert ihnen zukommen könnte. Der Reptilienforscher Heiko Werning setzt die kritische Betrachtung der Prämissen der HAS aus der Perspektive eines Biologen und Verhaltensforschers fort. Der Soziologe und Politologe Markus Kurth vom Chimaira AK folgt mit einer Verteidigung der HAS gegen die Angriffe von „Christiane Schulte“, die er vor allem als Ausdruck eines Streits um politische Deutungshoheit versteht.

Für den Hoax-Beteiligten Florian Peters stellt sich der „Schäferhund-Hoax“ als Symptom akademischen Trendsurfings dar. Der fingierte Artikel habe durchaus übliche Strategien zur Generierung innerwissenschaftlicher Distinktions- und Aufmerksamkeitsgewinne aufgegriffen und diese lediglich auf die Spitze getrieben. Der Hoax sei nicht als Einzelfall zu belächeln, sondern als Symptom eines Wissenschaftsbetriebs zu reflektieren, der mehr denn je auf organisierter Konkurrenz statt auf öffentlicher Kritik als Modus der Wissensproduktion basiere. Anders akzentuiert der Soziologe Thomas Hoebel, der sich dem Hoax aus der Perspektive des Simon & Garfinkel-Prinzips zuwendet, einer von Randall Collins geprägten Denkfigur, mit der versucht wird, das Phänomen zu beschreiben, dass in der alltäglichen – und seiner Ansicht nach auch zu häufig auch in der Wissenschaftskommunikation – selbst die absurdesten Dinge akzeptiert und „normalisiert“ werden.

Enrico Heitzer geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Faktoren es ermöglichten, einem fachkundigen Publikum im Gewande einer Untersuchung über Schäferhunde kaltschnäuzig eine derart holzschnittartige Geschichtsinterpretation unterzuschieben, deren zentrale Interpretamente brachial-vereindeutigende totalitarismustheorische Muster bedienen.

Die Politikwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Antonia Schmid und der Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich gehen auf ein weiteres Problem ein, auf das der Hoax aufmerksam gemacht hat. Das ironisch Vorexerzierte stellt ihrer Ansicht nach Zwänge bloß, denen selbstunternehmerisch sich stets optimierende Wissensarbeiter*innen im akademischen Kapitalismus unterliegen, insbesondere den Druck zu herausgehobener Sichtbarkeit – „Publish or perish“ – und Innovationen. Das habe den ungewollten Nebeneffekt einer schieren Inflation wissenschaftlicher Texte, die mehrheitlich weder gelesen noch zitiert werden. Zudem hätten die Reputationskriterien, die sich dominant am Publizieren festmachen, eine Vergeschlechtlichung der akademischen Arbeitsteilung zur Folge. Weiblich codierte „Reproduktionstätigkeiten“ (Lehre, oft unbezahlte Lehraufträge) würden unsichtbar gemacht und entwertet; männlich Codiertes hingegen bringe Aufstiegschancen. Der Sozialpsychologe Oliver Lauenstein setzt sich mit dem Verhältnis von Humor und Kritik im Hoax auseinander, leitet dann zum Hoax als Kritik von außen über und beschließt seinen Beitrag, nach einem Exkurs zu den in „der positivistisch-empirischen Wissenschaft im Argen liegenden Punkten“, mit Humor als Selbstkritik in Form des „Scherzartikels“. Er bezieht eine andere Position als die Herausgeber, die hoffen, damit nicht selbst Ziel eines „Scherzartikels“ geworden zu sein. Abschließend stellt der Historiker Heiner Stahl retrospektiv Wahrnehmung und Einschätzung seiner Studierenden in Bezug auf den Schäferhund-Text dar, den er als Lektüre in einem BA-Seminar zu Theorien und Ansätzen der Geschichtswissenschaften platzierte, ohne den Hoax vorher offenzulegen. Er verbindet die Selbstzeugnisse der Studierenden mit einer Kritik an Entwicklungen des Bildungssystems.

Die Herausgeber im Dezember 2017

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1 Irmer, Juliette, Natur-Entfremdung. Kinder kommen immer weniger in die Natur, in: Spektrum der Wissenschaft (05.10.2017), http://www.spektrum.de/news/natur-entfremdung-kinder-kommen-immer-weniger-in-die-natur/1507953 (zugegriffen am 08.10.2017).

2 Die Rückkehr der ‚fühlenden Natur‘ - ‚Man merkt doch, dass der Hund sich freut‘. Susanne Billig im Gespräch mit Joachim Scholl, 18.04.2017, http://www.deutschlandfunkkultur.de/die-rueckkehr-der-fuehlenden-natur-man-merkt-doch-dass-der.1270.de.html?dram:article_id=384013 (zugegriffen am 04.07.2017).

3 Ramsel, Yannick: ‚Tiere führen keine Geschlechterdebatten‘. Interview mit Sookee, in: die tageszeitung, 18.03.2017, S. 16.

4 Biesenbach, Klaus (Hg.): Björk. Archives, München 2015.

5 Blasdel, Alex: „A Reckoning for our Species“. The philosopher prophet of the Anthropocene, in: The Guardian, 15.06.2017, http://www.theguardian.com/world/2017/jun/15/timothy-morton-anthropocene-philosopher (zugegriffen am 09.12.2017).

6 Morton, Timothy, Ökologie ohne Natur. Eine neue Sicht der Umwelt, Berlin 2016, S. 7.

7 Blasdel, Reckoning.

8 Morton, Ökologie, S. 276.

9 Hildebrand, Kathleen, Fremde Felle, in: Süddeutsche Zeitung, 07.05.2016, S. 57.

10 Frank, Arno, Erfolgsgenre Naturliteratur. Mein Freund, der Baum, in: die tageszeitung, 10.10.2017, http://www.taz.de/!165261/ (zugegriffen am 18.10.2017).

11 Wohlleben, Peter, Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren - die Entdeckung einer verborgenen Welt, 23. Aufl., München 2015.

12 Wohlleben, Peter, Das Seelenleben der Tiere. Liebe, Trauer, Mitgefühl - erstaunliche Einblicke in eine verborgene Welt, 9. Aufl., München 2016.

13 Glunz, Annika: Auf gute Nachbarschaft unter Tage, in: die tageszeitung, 28.09.2017, S. 24.

 

14 Programm Forum Freies Theater Düsseldorf, 21.07.2017.

15 Ein seltsam deplatziert wirkendes Beispiel findet sich im „Newseum“ in Washington, D.C., das sich eigentlich mit Journalismus beschäftigt. Die Ausstellung „First Dogs: American Presidents and Their Pets“ allerdings thematisiert ausführlich allerlei Trivialitäten zu den Hunden der US-Präsidenten.

16 Flyer zur Ausstellung „Tierisch beste Freunde“, Deutsches Hygienemuseum Dresden, 28.10.2017 bis 01.07.2018, siehe auch Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik (Hg.), HUMANIMAL „Mythos und Realität“: Dokumentation zur Ausstellung, 7. September 2013 – 12. Januar 2014 im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2014.

17 Foster, Charles, Being a Beast, London 2016; auf Deutsch: Der Geschmack von Laub und Erde. Wie ich versuchte, als Tier zu leben, München u.a. 2017

18 https://www.kirchenkreis-ostholstein.de/aktuelles/nachrichten/detail/nachricht/menschen-und-tiere-feiern-gemeinsam-gottesdienst.html (zugegriffen am 30.09.2016)

19 http://www.theologische-zoologie.de

20 http://www.turia.at/titel/liedl.php (zugegriffen am 24.08.2017)

21 Vergleiche das überaus polemische, aber seine Thesen mit etlichen Zitaten untermauernde Ditfurth, Jutta, Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Öko-)Faschismus und Biozentrismus, Hamburg 1996, S. 167ff.

22 Laue, Anett, Das sozialistische Tier. Auswirkungen der SED-Politik auf gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse in der DDR, Köln u.a. 2017.

23 So der Titel eines Vortrages von Mieke Roscher („Das nationalsozialistische Tier. Historiographische Ansätze einer Tiergeschichte des Dritten Reiches“) im Rahmen des Forum Tiere und Geschichte, 21.07.2016-22.07.2016, Center for Metropolitan Studies, TU Berlin.

24 Mohnhaupt, Jan, Der Zoo der Anderen. Als die Stasi ihr Herz für Brillenbären entdeckte & Helmut Schmidt mit Pandas nachrüstete, München 2017.

25 Alger, Janet M./ Alger, Steven F., Canine Soldiers, Mascots, and Stray Dogs in U.S. Wars. Ethical Considerations, in: Hediger, Ryan (Hg.), Animals and War. Studies of Europe and North America, Human-Animal Studies 15, Leiden/Boston 2012, S. 77–104, Nowrot, Karsten, Animals at War. The Status of „Animal Soldiers“ under International Humanitarian Law, in Historical Social Research 40/4 (2015), S. 128–150.

26 Krähling, Maren/ Mangelsdorf, Marion, Speziesüberschreitende Kommunikations- und Beziehungsformen zwischen kybernetischen Organismen. Suchbewegungen zwischen Pferd, Mensch und Onkomaus im Zeitalter der Technoscience, in: Traverse 15/3 (2008), S. 75–90, hier S. 75.

27 Datta, Ranjan, How to Practice Posthumanism in Environmental Learning. Experiences with North American and South Asian Indigenous Communities, in: IAFOR Journal of Education 4/1 (2016), S. 52–67, hier S. 56.

28 Weltzien, Friedrich, Der ästhetische Wurm. Kunstphilosophische Anmerkungen, in: Ullrich, Jessica (Hg.): Animalität und Ästhetik, Tierstudien 1, Berlin 2012, S. 27–39, hier S. 27.

29 Ullrich, Jessica: Editorial, in: Ebenda, S. 7–10, hier S. 7.

30 Weltzien, Wurm, S. 39.

31 Simmons, Laurence, Towards A Philosophy Of The Polyp, in: Hediger, Ryan/McFarland, Sarah E. (Hg.), Animals and Agency. An Interdisciplinary Exploration, Human-Animal Studies 8, Leiden/Boston 2009, S. 341–372.

32 Laue, Anett, Tagungsbericht „Tiere unserer Heimat“: Auswirkungen der SED-Ideologie auf gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse in der DDR. 06.02.2015, Berlin, in:H-Soz-Kult 28.03.2015, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5903 (zugegriffen am 07.10.2017).

33 Laue, Anett, „Tiere unserer Heimat“. Auswirkung der SED-Ideologie auf gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse in der DDR, 20.07.2014, http://www.hsozkult.de/event/id/termine-25461 (zugegriffen am 09.10.2016).

34 Ebd.

35 Schulte, Christiane: Der deutsch-deutsche Schäferhund – Ein Beitrag zur Gewaltgeschichte des Jahrhunderts der Extreme, Totalitarismus und Demokratie 12/2 (2015), S. 319–334, hier S. 330.

36 In ihrer Dissertation über das „sozialistische Tier“ wiederholt sie im Kapitel zum Forschungsstand diese Einschätzung mit Bezug auf den Tagungsbericht, den sie am 15.08.2016 zu Rate gezogen hat, obwohl Peters bereits ein halbes Jahr zuvor seine satirischen Intentionen offengelegt hatte; Laue, Tier, S. 19f., Peters, Florian, Von totalitären Schäferhunden und libertären Mauerkaninchen. Alles von Relevanz? Ein Beitrag zur akademischen Debattenkultur mit angezogener Handbremse und zweifelhaften Qualitäts- und Transparenzstandards in der Wissenschaft, 02.2016, http://zeitgeschichte-online.de/kommentar/von-totalitaeren-schaeferhunden-und-libertaeren-mauerkaninchen (zugegriffen am 23.02.2016).

37 Laue, Tagungsbericht.

38 Vgl. hierzu heitzer, Enrico, Schäferhund-Gate, 18.02.2016, https://www.enricoheitzer.de/2016/02/18/schäferhund-gate/ (zugegriffen am 18.10.2017).

39 Peters, Schäferhund.

40 Carstens, Peter, Schäferhund mit Freiheitsdrang, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.05.2016, S. 3.

41 Schulte, Schäferhund.

42 Schulte, Christiane, Kommissar Rex an der Mauer erschossen? Ein Plädoyer gegen den akademischen Konformismus, 15.02.2016, http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/47/47395/1.html (zugegriffen am 16.2.2016).

43 Peters, Schäferhunde.

44 R.A., Christiane S. und die neuen Formen des Human-Animal-Studies-Bashings, 23.02.2016, http://www.chimaira-ak.org/?p=1283 (zugegriffen am 24.02.2016).

45 Stellungnahme der Redaktionsleitung, in: Totalitarismus und Demokratie 13/1 (2016), S. 3.

46 Jahresbericht 2015 des HAIT, www.hait.tu-dresden.de/dok/JB15.pdf (zugegriffen am 30.10.2017).

47 Lindsay, Jamie/Boyle, Peter, The Conceptual Penis as a Social Construct, in: Cogent Social Sciences 3/1 (2017), https://www.cogentoa.com/article/10.1080/23311886.2017.1330439 (zugegriffen am 29.06.2017).

48 www.hsozkult.de/event/id/termine-31900 (zugegriffen am 07.10.2017).

49 Ein HAS-Vertreter, den wir offenbar übersehen hatten, beklagte sich nach dem Workshop zu Recht, dass er nicht eingeladen worden war. Allerdings hatten wir bei unseren Anfragen auf eine Tagungsankündigung verwiesen und gebeten, uns potentielle Ansprechpartner*innen zu nennen bzw. unsere Tagungsankündigung weiterzuverbreiten.

50 Höge, Helmut, Die Evolution frisst ihre Kinder, in: die tageszeitung, 02.04.2016, S. 43.

51 Kompatscher, Gabriele u.a., Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende, UTB Kulturwissenschaften 4759, Münster/New York 2017.

52 Head, Lesley u.a., The Distinctive Capacities of Plants. Re-Thinking Difference via Invasive Species, in: Transactions of the Institute of British Geographers 40/3 (2015), S. 399–413.

53 Inspiriert wurden wir hierbei durch: Roscher, Mieke, Machen Tiere nur ‚Scherereien‘? Alternative Lesarten von Animal Agency in historischen Quellen, in: Deiss, Amely/Neddermeyer, Ina (Hg.), #CatContent. Ausstellungskatalog, Erlangen 2016, S. 144–153. sowie Pschera, Alexander, Das Internet der Tiere. Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur, Berlin 2014.

54 Erlehmann/Plomlompom, Internet-Meme - kurz & geek, Heidelberg 2013.

55 Glaser, Peter, Das Internet ist eine Katze, 10.03.2012, https://futurezone.at/meinung/das-internet-ist-eine-katze/24.577.083 (zugegriffen am 12.4.2017).

56 Tucker, Abigail/Steidl, Monika, Der Tiger in der guten Stube. Wie die Katzen erst uns und dann die Welt eroberten, Darmstadt 2017; Zum Thema „feline femininity“ und der „cat lady“ siehe Holmberg, Tora/Aglert, Katia, Urban Animals. Crowding in Zoocities, Milton Park u.a. 2015, S. 97ff.