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Predigtpreis

Caroline Schröder Field

Elia in der Wüste

Predigt zu 1. Könige 19,4–13a

Er [Elija] selbst aber ging in die Wüste, eine Tagesreise weit. Und als er dort war, setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod, und er sprach: Es ist genug, HERR, nimm nun mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Vorfahren. Dann legte er sich hin, und unter einem Ginsterstrauch schlief er ein. Aber plötzlich berührte ihn ein Bote und sprach zu ihm: Steh auf, iss! Und als er hinsah, sieh, da waren an seinem Kopfende ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und er ass und trank und legte sich wieder schlafen. Der Bote des HERRN aber kam zum zweiten Mal und berührte ihn und sprach: Steh auf, iss, denn der Weg, der vor dir liegt, ist weit. Da stand er auf und ass und trank, und durch diese Speise wieder zu Kräften gekommen, ging er vierzig Tage und vierzig Nächte lang bis zum Gottesberg Choreb. Und dort kam er zu einer Höhle, und er übernachtete dort. Und sieh, da erging an ihn das Wort des HERRN, und er sprach zu ihm: Was tust du hier, Elija? Und er sprach: Ich habe wahrlich geeifert für den HERRN, den Gott der Heerscharen! Denn die Israeliten haben deinen Bund verlassen, deine Altäre haben sie niedergerissen und deine Propheten haben sie mit dem Schwert umgebracht. Und ich allein bin übrig geblieben, sie aber haben danach getrachtet, mir das Leben zu nehmen. Da sprach er: Geh hinaus und stell dich auf den Berg vor |22| dem HERRN! Und sieh – da ging der HERR vorüber. Und vor dem HERRN her kam ein grosser und gewaltiger Sturmwind, der Berge zerriss und Felsen zerbrach, in dem Sturmwind aber war der HERR nicht. Und nach dem Sturmwind kam ein Erdbeben, in dem Erdbeben aber war der HERR nicht. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, in dem Feuer aber war der HERR nicht. Nach dem Feuer aber kam das Flüstern eines sanften Windhauchs. Als Elija das hörte, verhüllte er sein Angesicht mit seinem Mantel. Dann ging er hinaus und trat an den Eingang der Höhle. Und sieh, da sprach eine Stimme zu ihm: Was tust du hier, Elija?

Über Elia lässt sich manches sagen. Er war ein grosser Prophet, der Königen die Wahrheit sagte. Elia redete mit dem Mut eines Menschen, der Gott ganz gewiss auf seiner Seite weiss.

So bewundernswert das ist, so gefährlich ist das. Wenn der Kampf für die Wahrheit zu einem Kampf gegen Menschen wird, und wenn man dann allzu sicher meint, Gott auf seiner Seite zu haben, dann kann man leicht über das Ziel hinausschiessen. Ich glaube, dem Elia ist das so ergangen. Auf dem Berg Karmel überführt er 450 Baalspriester ihrer Unfähigkeit, und dann lässt er sie allesamt töten. Spätestens da bekommt sein Eifer für Gott und die Wahrheit erschreckende Züge.

Nach der Tat flieht Elia in die Wüste. Obwohl er am Karmel alle Register gezogen hat, die ein Spitzenprophet wie er ziehen kann – da ist nämlich immer noch Königin Isebel, seine Erzfeindin, und die trachtet ihm nach dem Leben. Und Elia merkt: Er kann tun, was er will. Es reicht nicht! Als sei ihm diese Erkenntnis zu schwer, will Elia mit seinem Prophetenamt sein Leben niederlegen. Denn er merkt, dass er nicht besser ist als die, die vor ihm waren. Auch er kann nicht erzwingen, worum andere in Israel vor ihm vergeblich rangen: dass Gottes Volk das erste Gebot erfüllt. Das erste Gebot? – «Ich bin der HERR, Dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir» (Dtn 5,6), mit diesem einen Gebot stehen und fallen alle anderen Gebote. An diesem einen Gebot kommt niemand vorbei, der in Gottes Namen Treue und Gerechtigkeit leben will.|23|

«Du sollst keine anderen Götter haben neben mir» – das ist dem Volk Israel auferlegt. Auch Jesus beruft sich darauf, als der Versucher ihn in die Wüste führt und ihm alle Weltreiche anbietet für einen einzigen läppischen Kniefall vor ihm. Allein, Jesus ist hellhörig genug für die Versuchungen, die dem ersten Gebot die Autorität entziehen. Und nur, weil er hellhörig ist, kann er das verlockende Machtangebot ablehnen.

Auch Elia setzt sein ganzes Leben dafür ein, dass Gott wieder gehört wird, ernst genommen, erwartet und ersehnt in einem Volk, das anderes hören möchte, anderes ernst nimmt, anderes erwartet und ersehnt als jenen Gott, der in der Vergangenheit geredet haben mag, aber heute nur allzu sehr schweigt. Elia hört ihn. Für Elia ist er lebendig und wahr. Doch auch Elia ist nur ein Mensch. Und jetzt ist er ein Mensch, der an sich selbst verzweifelt. Sein Herz ist zerbrochen und schwebt zwischen Leben und Tod. Sehen wir uns diesen Elia an, diesen anderen Elia, für den ich der Bibel herzlich dankbar bin.

Elia in der Wüste. Ein Mensch in einer Erschöpfungsdepression. Allein ist er. Seinen letzten Gefährten hat er fortgeschickt. Sterben möchte er. Was nützen alle seine überwältigenden Taten, wenn Isebel die Macht hat, Elias Leben wie einen Faden abzuschneiden, sobald sie ihn in ihre Finger kriegt? Derselbe Gott, der hinter den Wundern Elias steht, erlaubt es Isebel, am Hebel der Macht zu sitzen, als gäbe es keinen Gott. Was für ein Widerspruch! Dieser Widerspruch legt sich wie ein Schatten auf Elias Gemüt.

Elia flieht, weil alles in ihm zusammenbricht: die berauschenden Erfolge sind Vergangenheit. Gott an seiner Seite – nicht mehr fühlbar. Elia erleidet den furchtbaren Absturz aus Schwindel erregender Höhe in den einsamen Abgrund der Sinnlosigkeit.

So zieht es ihn in die Wüste. Ach, die Wüste. Die menschenleere Wüste. Die Stille. Die Kargheit von Erde, Stein und Sand. Der Ort, an dem Gott sein Volk Israel aus der Taufe hob. Vierzig Jahre hatte Israel gebraucht, bis es die Wüste hinter sich |24| lassen konnte. Mit Haut und Haar hatte Israel die Wüste aufgenommen. Vom Scheitel bis zur Sohle war Israel ein Kind der Wüste geworden, hatte zwischen dem Land der Versklavung und dem Land der Verheissung die Früchte der Wüste genossen, hatte von der Hand in den Mund gelebt – lange, lange bevor es Könige gab in Israel, und hatte erfahren, dass es Gottes Hand war. In dieser Wüste findet sich Elia wieder.

Hier ist er mit Gott allein. Hier sind nur noch Elia und Gott übrig. Hier betet er. Elia betet sein dunkles, abgrundtiefes Gebet. Wenn es ein Psalm wäre, könnte der erste Vers lauten: «Ein Gebet, das Leben wegzuwerfen, es auf Gott hin loszuwerden.» Jemand hat einmal gesagt: «Aus der Trostlosigkeit werden besondere Tröstungen hervorbrechen.»1 Was für ein Trost kann aus der Trostlosigkeit hervorgehen? Welche Blumen wachsen in der Wüste?

Da – ein Wacholderstrauch. Hier unter dem Wacholder ruht Elia wie einer, der gestorben ist. Hier stranden seine Wundertaten, sein Gotteseifer, seine Wahrheitssehnsucht. Hier gibt es kein Halten mehr für Elia, nur noch ein Fallen. Hier gibt es nichts mehr zu tun, nur noch schlafen. Einen traumlosen, todesgleichen Schlaf.

Gott aber. Gott kommt dem Beter in der Wüste nahe. Gott wird ganz Ohr für die dunklen Gebete, die den Menschen in Wüstenzeiten über die Lippen kommen. Gott wird ganz Hand für die Menschen, die sich selbst entgleiten. Und auch das gilt: Gott gibt es den Seinen im Schlaf. So nimmt Gott Elias Leben in Seine Hand.

Mit Engelshänden berührt Gott Elia, den Fallenden, den Schlafenden, den zu Tode Müden. Kein «Fürchte dich nicht» gibt hier den Engel zu erkennen. Nur eine sanfte Berührung, mit der der Engel das zerbrochene Herz erreicht. So kommt Gottes Engel dem Elia nahe. Bringt ihm zu essen und zu trinken. Unspektakulär. Kein Zaubertrank, der Kräfte verleiht. Kein Zurechtrücken des Kopfes. Kein «Reiss dich zusammen!» und kein «Stell dich nicht so an!» Bloss etwas zu essen und zu |25| trinken. So banal wie eine Scheibe Toast zum Frühstück und eine Tasse Kaffee dazu. Hier ist es Wasser und geröstetes Brot.

Und dann noch eine Runde Weiterschlafen. Die Berührung des Engels hat keine Eile. Sie geschieht in unendlicher Geduld. Die Berührung des Engels gibt dem Schlafenden Zeit. Bis es zumutbar ist aufzustehen. Und sei es bloss zum Essen und Trinken. Und wenn Engel sich freuen können, liebe Gemeinde, wird sich dieser Engel gefreut haben, als Elia aufstand, um zu essen und zu trinken. Er wird sich gefreut haben wie ein Mensch, wenn sein nächster Angehöriger wenigstens für die Dauer von Toast und Kaffee, oder von Wasser und Brot ins Leben zurückfindet.

Danach darf Elia weiterschlafen. Und wieder berührt ihn der Engel. Und wieder ist Essen und Trinken das Erste, gleich nach dem Aufstehen. Doch diesmal heisst es: Weitergehen! Der Engel macht dem Elia nichts vor. «Dein Weg ist noch weit», sagt er. «Diese Wahrheit sollst du wissen, Elia, dass dein Weg noch weit ist.» Aber in der Kraft der kargen Speise, geht Elia vierzig Tage, vierzig Nächte, als hole er im Zeitrafferverfahren die vierzig Jahre nach, die Israel einst in der Wüste war.

Elia geht einem Wunder entgegen, dem grössten, das er je erleben wird, dem Wunder, das nicht er mit Gottes Hilfe tut, sondern Gott allein. Dies ist das Wunder: Dass Gott auf seine Weise kommt, auf seine wunderbare Wüstenweise. Nicht im dröhnenden Erfolg eines gelungenen Prophetenlebens, nicht in einer Erschütterung, die die Götzendiener entlarvt und den Mächtigen die Hebel der Macht aus den Händen schlägt, und auch nicht im verzehrenden Feuer siegesgewisser Rechtgläubigkeit.

Gott kommt anders. Auf seine Weise. Auf seine wunderbare Weise. Als eine «Stimme verschwebenden Schweigens», wie Martin Buber übersetzte.2 Als zärtliches Flüstern, das in zerbrochene Herzen fällt, und Menschen nahe kommt wie die sanfte Berührung des Windes.

Von diesem Gott wirst du nicht hören: «Stell dich nicht so an!» Oder: «Reiss dich zusammen!» Denn die Stimme verschwebenden |26| Schweigens, Gottes Stimme, sagt manchmal gar nichts. So wie Gottes Engel keine Waffenrüstung reicht, sondern bloss Wasser und Brot, ein Frühstück nach albtraumschwerer Nacht.

 

Darum glaube ich von Elia her dies: Gott ist da am dichtesten bei uns, wo unser zerbrochenes Herz zwischen Leben und Tod schwebt. Denn da – im Schwebezustand zwischen Leben und Tod – wird es empfindlich für eine ganz feine Berührung, abseits vom Lärm der Rechthaberei und abseits vom triumphierenden Gefühl, Gottes Willen zu vollstrecken. Die zarte, feine Berührung, die das zerbrochene Herz mit neuem Leben beschenkt, ist nur in der Wüste zu haben. Wer aus dieser Wüste zurückkehrt, wird Menschen anders sehen.

Diese Wüste hilft mir zu glauben.

Dass der Mensch am besten für Gott streitet, der erkannt hat: Ich bin nicht besser als meine Väter. Nicht besser als die, die vor mir waren. Auch ich kann Gottes Willen nicht auf die Erde herab zwingen. Auch ich kann die Herzen der Menschen nicht mit Gewalt zu Gott hin bewegen.

Und ich glaube, dass die Menschen am besten andere durch Wüsten begleiten, die selber schon dort gewesen sind. Darum vertraue ich einem Menschen, der einmal gründlich verloren hat, mehr als dem, welchem nur die Siegerpose vertraut ist.

Mehr als an die Kraft allen positiven Denkens glaube ich an die Kraft von Brot und Wein. Nur ein Mensch, der selbst einmal von Engelshand berührt wurde, kann anderen zum Engel werden.

Und nur der spiegelt Gottes Glanz wider, der die Tiefe des Abstiegs nicht scheut. Darum wird Jesus herabsteigen vom Berg der Verklärung, um den Weg des Kreuzes zu gehen. Vielleicht hat Elia, als er zu Jesus sprach, genau davon gesprochen in einer Stimme verschwebenden Schweigens.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

|27| Diese Predigt wurde am 2. Februar 2014 gegen Ende der Epiphaniaszeit im Rahmen eines Musikgottesdienstes im Basler Münster gehalten. Sie geht zurück auf einen Gottesdienst in St. Arnual, Saarbrücken, den ich anlässlich der 80. Geburtstage von Gerhard und Gisela Zimmermann gehalten hatte. Gerhard Zimmermann ist Pfarrer im Ruhestand, und seine inzwischen verstorbene Frau hatte ein Buch herausgebracht mit dem Titel «Ein Engel dir zur Seite. Von den stillen Begleitern auf unseren Wegen» (Freiburg im Breisgau, 20052). Von ihnen nahm ich Elias Begegnung mit dem Boten in der Wüste als Wunschtext entgegen. Ich las damals mit grossem Gewinn «Hart und Herrlich – Nachdenken im Leiden» von Hans-Rudolf Bachmann (Seewis 2002). Mit seelsorgerlichem Feingefühl skizziert Bachmann die verschiedenen Stationen der Elia-Geschichte (S. 128–139): «Elia geht dorthin, wo nur Gott und er allein übrigbleiben.» «Hier unter dem Ginsterstrauch ist Elia gestorben.» «Und diesmal muss der Engel auch nicht sagen: ‹Fürchte dich nicht!›». Seine Gedanken sind mir ganz persönlich ins Herz gefallen, haben Eingang in diese Predigt gefunden und begleiten mich seither im Glauben und im Amt.

1 Paul Schütz, Warum ich noch Christ bin, im 28. Brief (1946), Brendow, Moers/Niederrhein, 1981, S. 144, zitiert bei Hans-Rudolf Bachmann, Hart und Herrlich – Nachdenken im Leiden, Seewis 2002, S. 131.

6 Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Schrift, Deutsche Bibelgesellschaft 1992.

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Sonderpreis

Manuela Liechti-Genge

Wasser des Lebens

Predigt zu Johannes 4,4–19

Er [Jesus] musste aber durch Samaria hindurchziehen. Nun kommt er in die Nähe einer Stadt in Samarien namens Sychar, nahe bei dem Grundstück, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte. Dort war der Brunnen Jakobs. Jesus war müde von der Reise, und so setzte er sich an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. Eine Frau aus Samaria kommt, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagt zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen. Die Samaritanerin nun sagt zu ihm: Wie kannst du, ein Jude, von mir, einer Samaritanerin, zu trinken verlangen? Juden verkehren nämlich nicht mit Samaritanern. Jesus antwortete ihr: Kenntest du die Gabe Gottes und wüsstest, wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, so würdest du ihn bitten, und er gäbe dir lebendiges Wasser. Die Frau sagt zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäss, und der Brunnen ist tief. Woher also hast du das lebendige Wasser? Bist du etwa grösser als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben hat? Er selbst hat aus ihm getrunken, er und seine Söhne und sein Vieh. Jesus entgegnete ihr: Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst haben. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird in Ewigkeit nicht mehr Durst haben, nein, das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige |30| Leben sprudelt. Die Frau sagt zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr Durst habe und hierher kommen muss, um zu schöpfen. Er sagt zu ihr: Geh, rufe deinen Mann und komm hierher! Die Frau entgegnete ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Zu Recht hast du gesagt: Einen Mann habe ich nicht. Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt. Die Frau sagt zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet.

Ihre Hände greifen nach dem Krug. Ein Leben lang hat er sie begleitet. Es ist ein einfacher Krug aus Ton. Sie dreht ihn in den Händen, streicht zärtlich über die raue Oberfläche und betrachtet ihn still.

Schon oft hat sie daraus getrunken, durstig unter der heis­sen Sonne. Es ist ihr Krug. Und immer wieder ist er leer, der Krug. Voll – und wieder leer; halbvoll – und wieder leer; ein paar Tropfen noch – und wieder leer.

Ein Leben lang hat sie diesen Krug mit sich getragen. Von Tag zu Tag hat der Durst sie getrieben und von Nacht zu Nacht. Immer wieder hat sie den Krug hingehalten mit der Bitte: «Gib mir zu trinken.» Und sie hat zu trinken bekommen: gutes Wasser, schlechtes Wasser; süsses Wasser, bitteres Wasser, klares Wasser, trübes Wasser. Sie hat das alles getrunken. Sie hat das alles geschluckt. Geschluckt, um zu leben; geschluckt, um zu überleben. Geschluckt und getrunken, um diesen grossen Durst in ihr zu löschen.

Sie hat den Krug hingehalten – schon als Kind – und zu trinken bekommen, Wasser von ihren Eltern. Meist war es gut und rein. Oft hat es den Durst gelöscht – für eine Weile. Dankbar denkt sie an ihre Eltern zurück. Doch Vater und Mutter sind schon lange tot.

Dann ist sie aufgebrochen als junge Frau mit ihrem Krug. Sie hat ihn hingehalten und gebeten: «Gib mir zu trinken.» Und da war er, ihr erster Mann. Überschäumend hat er ihren Krug gefüllt, und sie hat getrunken, geschlürft die Süsse der ersten Liebe. Trunken war sie vom Trinken. Doch dann wurde das |31| Wasser bitter. Langsam und schleichend, bis es ungeniessbar war. Dann kam er wieder, der Durst.

So zog sie weiter zu einem zweiten Mann. Sie hielt ihm ihren Krug hin und bat: «Gib mir zu trinken.» Doch das Wasser, das er ihr einschenkte, war trüb. Ein übler Geruch stieg aus dem Krug, jedes Mal, wenn sie ihn an die Lippen hielt. Dieses Wasser machte sie krank. Doch es dauerte lange, bis sie sich eingestand: Dieses Wasser macht den Durst grösser – nicht kleiner.

Geschwächt noch von der Krankheit und durstig wie eh und je, traf sie auf ihren dritten Mann. Angst schwang mit in ihrer Stimme, als sie bat: «Gib mir zu trinken.» Er gab ihr zu trinken, reichlich und ohne zu zögern. Das Wasser war frisch und klar. Dankbar sog sie es in sich auf, Liter um Liter. Langsam wurde sie gesund. Nun war alles gut. Der Durst meldete sich nicht mehr – oder nur noch ganz leise.

Doch von einem Tag zum andern versiegte das Wasser. Nicht der kleinste Tropfen mehr. Der Tod leistet immer ganze Arbeit. So blieb der Krug leer, lange Zeit. Nur salzige Tränen füllten ihn.

Und wieder wuchs der Durst. Mächtiger und quälender denn je. So ging sie hin zum vierten Mann. «Gib mir zu trinken», bat sie. Der Mann befeuchtete ihre Lippen, das war alles. «Gib mir mehr», flehte sie ihn an. Zwei kärgliche, knapp bemessene Schlückchen gönnte er ihr. «Das muss reichen», sagte er. Immer trockener wurde ihre Kehle und ausgedörrter ihre Seele. Da beschloss sie, aus der Not eine Tugend zu machen und keinen Durst mehr zu haben. «Ich brauche kein Wasser», sagte sie. Eine Weile hielt sie durch. Doch dann musste sie erkennen, der Kopf kann nicht beschliessen, was die Seele nicht will.

So zog sie weiter zum fünften Mann, hielt ihm den Krug hin und bat: «Gib mir zu trinken, denn ich verdurste.» «Oh ja», sagte der Mann, «du sollst Wasser haben bis genug.» Und er goss ihren Krug voll. Und der Krug lief über, und der Mann |32| goss weiter und weiter. Sie wurde nass, und das Wasser stieg, erst bis zu den Knien, dann bis zu den Hüften, dann bis zu der Brust. «Hör auf!», rief die Frau, «ich ertrinke!» Doch er hörte nicht auf sie. Das Wasser stand ihr bis zum Hals. Sie bekam keine Luft mehr. Mit der Kraft der Verzweiflung gelang es ihr im letzten Moment, sich zu retten.

Ein sechster Mann kreuzte ihren Weg. Doch dieses Mal hielt sie ihm den Krug nicht mehr hin. Sie traute keinem mehr. Auch hatte sie nicht das Recht dazu, denn dieser Mann war nicht ihr Mann. In ihrer Not hatte sie jedoch inzwischen gelernt, selber Wasser zu schöpfen. So ging sie hin zum Brunnen, wann immer sie durstig war. Allein ging sie hin – begleitet nur von ihrem Durst.

So ist es auch heute. Heiss scheint die Sonne, und der Durst ist gross. Sie nimmt den Krug und macht sich auf den Weg; auf den Weg zum Brunnen Jakobs, um Wasser zu schöpfen.

Und sie weiss nicht, wie ihr geschieht. Sie weiss nicht, woher auf einmal dieser Mut kommt. Dieser Mut, wieder zu vertrauen. Dieser Mut, noch einmal – ein letztes Mal – zu bitten: «Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr Durst habe.» Sie trinkt und trinkt – und der Krug wird nicht leer. Mit jedem Schluck, den sie nimmt, sprudelt neues Wasser in den Krug. «Danke», sagt sie zum Fremden am Brunnen. Dann nimmt sie ihren Krug und geht. Leichten Schrittes geht sie dahin, und ihre Seele singt.

Da sieht sie einen Mann am Wegrand sitzen. Die Sonne brennt auf ihn nieder. Erschöpft wischt er sich den Schweiss von der Stirn. «Möchtest du trinken?», fragt sie ihn. Verwundert blickt der Mann hoch. Er schaut sie an und sieht den Krug. «Ja, bitte», sagt er. Und wieder hält sie einem Mann den Krug hin. Den vollen dieses Mal, nicht den leeren. Der Mann nimmt den Krug und trinkt. «Gott segne dich», sagt er. «Das tut er», sagt sie.

Zu Hause angekommen setzt sie sich hin, den Krug auf ihrem Schoss. |33|

Ein Leben lang hat er sie begleitet. Es ist ein einfacher Krug aus Ton. Sie dreht ihn in den Händen, streicht zärtlich über die raue Oberfläche und betrachtet ihn still. Klares Wasser funkelt darin, frisch und geheimnisvoll – Wasser des Lebens.

Amen.

Radio DRS 2: Evangelische Radiopredigt 3. Juli 2011 «Lebendiges Wasser».

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