Alle wichtigen Bücher handeln von Gott

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Bei Autorinnen und Autoren, die eher aus literarischem denn aus katechetischem oder pädagogischem Interesse von muslimischem Hintergrund aus Kinder- und Jugendliteratur schreiben, steht die kulturelle Differenz im Vordergrund. Das Andere, das Fremde, das literarisch näher gerückt werden soll, definiert sich im derzeitigen Mainstream muslimisch-deutscher Kinder- und Jugendliteratur also vor allem kulturell. Spannend zu beobachten, ob sich diese Tendenz künftig bestätigen wird.

d. Zögerliche Annäherungen an fernöstliche Religionen

Nur ganz selten rücken nicht-monotheistische Religionen in den Blick der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Die fernöstlichen Religionen etwa sind so radikal fremd und andersartig, dass die Verfasserinnen und Verfasser von Kinder- und Jugendbüchern sich nur selten an diese Welten heranwagen. Peter Dickinsons Roman „Die Dämonen von Dong Pe“ (2005) blieb so wie schon zuvor Nina Rauprichs „Die Trommler von Bhaktapur“ (1995) eine Ausnahme in der literarischen Annäherung an die Welt von Hinduismus und Buddhismus.

Das Problem einer authentischen Annäherung an eine so fremde Welt löst ein hier exemplarisch genannter jüngerer Roman sehr geschickt. Der Amerikaner Jordan Sonnenblick präsentiert in seinem gut geschriebenen Jugendroman „Buddha-Boy“ (2012) eben nicht die Erlebnisse und Erfahrungen eines echten Buddhisten, sein jugendlicher Protagonist San Lee gibt vielmehr nur vor, Buddhist zu sein. Die Anerkennung, der sehnsüchtig angestrebte Prestigegewinn bei der Peergroup ist ihm so gewiss. Tatsächlich verfügt aber auch er nur über angelesenes Wissen über diese ihm letztlich fremde Religion. Sprüche und Einsichten, aber auch praktische Elemente des Buddhismus werden so geschickt in den Roman eingespeist, aber immer nur aus zweiter Hand. Ein Lehrer steckt ihm Zettel mit Informationen über den Buddhismus zu, um sein rudimentäres Wissen aufzufüllen : „Weißt Du, San“, erklärt er im Nachhinein, „ich war wirklich von deinem Wissen über den Buddhismus und vor allem den Zen-Buddhismus beeindruckt.“ Er, der Lehrer, habe vor Jahrzehnten in einem Zen-Kloster in Japan „meditiert“ und begonnen, „sich für Zen zu interessieren“.31 Doch auch er, der Lehrer, kannte den Buddhismus nur durch Zugänge von außen. Wir Lesende erfahren also durchaus Wissenswertes über die fremde Welt des Buddhismus, authentisch kann und muss dieses Wissen aber angesichts der Konstruktion des Romans nicht sein.

e. Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur im Zeichen der Shoa

Eine Religion ragt aktuell aus der Thematisierung in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur heraus : das Judentum. Die „Jüdischkeit“32 kann sich in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur in sehr unterschiedlicher literarischer Form und mit sehr unterschiedlichen Intentionen und Schwerpunktsetzungen zeigen.33

Erste Beobachtung : Selbstverständlich setzt sich die Reihe der auf die Zeit des Nationalsozialismus konzentrierten Jugendbücher fort.34 Wenn vom Judentum literarisch die Rede ist, dann weiterhin häufig im Kontext der Shoa. Ungezählt sind all die teils auf authentischen Erfahrungen beruhenden, teils rein fiktionalen Bücher über Anne Frank und Janusz Korczak, über das Leben und Sterben oder Überleben jüdischer Kinder und Jugendlicher in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Viele davon sind Übersetzungen aus anderen Sprachen. Als Beispiele aus neuerer Zeit seien nur genannt:


Karlijn Stoffels „Mojsche und Rejsele“, Weinheim/Basel : Beltz, 1998 (Originalausgabe 11996)
Morris Gleitzman „Einmal“, Hamburg : Carlsen, 2009 (Originalausgabe 12006)
Ders. „Dann“, Hamburg : Carlsen, 2011
Ders. „Jetzt“, Hamburg : Carlsen, 2012
Bernice Eisenstein „Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden“, Berlin : Berlin Verlag, 2007
Rutka Laskier „Rutkas Tagebuch : Aufzeichnungen eines polnischen Mädchens aus dem Ghetto“, Berlin : Aufbau Verlag, 2011 (Originalausgabe 12007)
Anne C. Voorhoeve „Liverpool Street“, Ravensburg : Ravensburger Verlag, 2008
Dies. „Nanking Road“, Ravensburg : Ravensburger Verlag 2013
Monika Helfer/Michael Köhlmeier „Rosie und der Urgroßvater“, München : Carl Hanser Verlag, 2010
Iwona Chmielewska „Blumkas Tagebuch : Vom Leben in Janusz Korczaks Waisenhaus“, Hannover : Gimpel, 2011
Irene Cohen-Janca/Maurizio A. C. Quarello „Annes Baum“, Hildesheim : Gerstenberg Verlag, 2011
Dies. „Die letzte Reise : Janusz Korczak und seine Kinder“, Berlin : Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2015
Irma Krauß „Ein Versteck im Himmel“, München : cbj, 2011
Juri Orlev „Ein Königreich für Eljuscha“, Weinheim/ Basel : Beltz, 2011
Mirjam Pressler „Ein Buch für Hanna“, Weinheim/Basel : Beltz, 2011
Ina Vandewijer „Wie ein Stein in mir : Roman“, Mannheim : Sauerländer 2011
Adam Jaromir/Gabriela Cichowska „Fräulein Esthers letzte Vorstellung : Eine Geschichte aus dem Warschauer Ghetto“, Hannover : Gimpel, 2013
Marina B. Neubert „Bella und das Mädchen aus dem Schtetl : Roman“, Berlin : Ariella Verlag, 2015

Von der Shoa, von ihrer bis heute prägenden Geschichte immer wieder neu zu erzählen, gehört zu den grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der deutschen Geschichte. Der Blick auf das „fremde“ Schicksal jüdischer Kinder und Jugendlicher in dieser Zeit kann und muss dazu verhelfen, die deutsche Geschichte auch aus der Perspektive der Opfer sehen zu lernen.

Aus religionspädagogischer Sicht zeichnen sich in der Konzentration auf die Shoa jedoch zwei Gefahren ab: Zunächst fördert diese Konzentration im Blick auf das Judentum ungewollt den Eindruck, das Judentum in Deutschland sei primär eine Dimension der Vergangenheit. Das religiös und kulturell Fremde bleibt eben auch historisch fremd, rückt zumindest zeitlich nicht nahe. Marina Neuberts neuestes Buch, „Bella und das Mädchen aus dem Schtetl“ (2015), zeigt hier einen Ausweg, indem es die damalige und heutige Zeitebene verbindet. Zum Zweiten wird jedoch die Tendenz deutlich, das Judentum seiner spezifisch religiösen Bedeutung zu entkleiden. In Büchern wie Myron Levoys international weit verbreitetem „Der gelbe Vogel“ (1977), aber auch in Henning Pawels „Schapiro & Co : Jüdische Geschichten für die Enkel der Großväter“ (1992) oder Monika Helfer und Michael Köhlmeiers Erzählung „Rosie und der Urgroßvater“ (2010) bleibt die spezifisch religiöse Dimension fast unerwähnt.

f. Religiöse Profilierung des Judentums

Einige neuere Kinder- und Jugendbücher setzen dagegen einen bewusst anderen Schwerpunkt, der gerade aus religionspädagogischer Perspektive besonders reizvoll wird. Ihnen geht es unter anderem um die explizite Sichtbarmachung des heute hier im deutschen Sprachraum gelebten Judentums, das sich zumindest auch religiös definiert. Konzentrieren wir uns auf solche Bücher, die nicht ausschließlich pädagogisch oder didaktisch intendiert sind35.

Schon in Peter Sichrovskys Jugendroman „Mein Freund David“ (1990) werden bewusst viele Einzelheiten über Religion, Feiertage oder den Sabbat miterzählt. Der „junge Leser“ könne hier „einiges über jüdische Tradition und Kultur erfahren“, heißt es im Klappentext. Ein Anhang mit „Wörter[n], die ihr vielleicht noch nicht kennt“36, soll das Verstehen erleichtern. So soll das bei uns gelebte Judentum Kindern und Jugendlichen erzählerisch nähergebracht werden, jüdischen, vor allem aber nichtjüdischen. Ganz ähnlich in einem zweiten Kinderbuch der 1990er Jahre. Der Klappentext von Ruth Weiss’ Buch „Sascha und die neun alten Männer“ (1997) gibt als Ziel bewusst an: „In zwei spannenden Geschichten wird erzählt, wie Kinder durch ihre jüdischen Freunde Einblick in eine fremde Kultur erhalten.“37 Die Überwindung von kulturell-religiöser Alterität wird hier zum expliziten Erzählprogramm.

Verblüffend ist die Parallele zu dem freilich noch deutlicher pädagogisch konzipierten Buch „Mona und der alte Mann“ von Noemi Staszewski, ebenfalls 1997 erstveröffentlicht, 2008 in überarbeiteter Nachauflage erschienen. Das Mädchen Mona „weiß nur wenig“ über das Judentum. Dann trifft Mona auf Herrn Schwarz, der sie in die Welt des Judentums einführt, so dass sie im Laufe eines Jahres „alle wichtigen Feste, Riten und Bräuche“ des Judentums kennenlernt. Infotafeln mit Sacherklärungen und Fotomaterial gestalten diese „Reise in die Welt des Judentums“ als narrativen Lerngang für nichtjüdische „Kinder ab 9“.38

Was die drei primär auf eine nicht-jüdische Leserschaft hin orientierten Bücher von Sichrovsky, Weiss und Staszewski mit den drei am Anfang dieses Beitrags genannten Büchern von Eva Lezzi um Beni und mit dem bereits benannten „Bella-Roman“ (2015) von Maria B. Neubert verbindet: Sie weisen in verblüffender konzeptioneller Gemeinsamkeit ein an die Erzählung angehängtes ausführliches Glossar religiöser Fachbegriffe auf, das auf die bewusst verständnisfördernde Intention des jeweiligen Buches schließen lässt. Die bloße Notwendigkeit der Aufnahme von Glossaren verweist umgekehrt auf die vorgängige, bewusst einkalkulierte Erwartung von Fremdheit und Andersartigkeit der erzählerisch präsentierten Welt. Vom – auch religiös geprägten – Judentum kann man also heute im Kinderbuch ganz unterschiedlich erzählen: erinnerungsbezogen, ernst, alltäglich, witzig, heiter, humorvoll, verschmitzt, realistisch, verfremdet. Dass dabei jedoch eine „fremde“ Welt präsentiert wird – sei es nach innen in das Judentum hinein, sei es nach außen für potentiell nicht-jüdische Leserinnen und Leser – wird schon allein durch die Anfügung der Glossare markiert.

 

Ein Kinderbuch über das Judentum muss nicht zwangsläufig so strukturiert sein. Myriam Halberstams Sachinformationsbilderbuch „Lena feiert Pessach mit Alma“ (2010) lässt mit Lena ein Berliner Mädchen Pessach in einer neu zugezogenen jüdischen Nachbarfamilie erleben. Das in die Reihe „Kinder dieser Welt“ aufgenommene Büchlein baut die fremden Begriffe und Bräuche in die Handlung ein, druckt jüdische Fachbegriffe kursiv und hebt sie dadurch hervor, lässt ihre Bedeutung aber aus der Handlung selbst einsichtig werden. So wie Lena lernen auch wir Leserinnen und Leser die neue, verständlich und sympathisch erschlossene und wenn nötig in der Handlung selbst erklärte Welt kennen.

Auf ganz anderer Ebene wird diese Integration der „Fremdreligion“ deutlich in dem unbestrittenen Höhepunkt der neuen Sichtbarmachung des heute bei uns gelebten Judentums im Kinder- und Jugendbuch. Dieser Titel kommt sicherlich dem 2002 erschienenen, inzwischen auch erfolgreich verfilmten Roman „Prinz William, Maximilian Minsky und ich“ der in Berlin lebenden Amerikanerin Holly-Jane Rahlens zu. Mit Witz, Ironie, mit einer für Jugendliche spannenden Geschichte um die 13-jährige Protagonistin Nelly Sue Edelmeister wird hier jüdisches Leben als selbstverständlicher Teil des deutschen Gegenwartsalltags präsentiert. Judentum ist nicht das Fremde, Andere, Damalige, vor allem aus der Opferperspektive Erschlossene, sondern das in vielem Vertraute, in manchem Andere im Hier und Heute. Diese Perspektive herrscht auch in dem 2013 von derselben Autorin veröffentlichten Roman „Stella Menzel und der goldene Faden“ vor, der freilich die erzählerische Qualität des erstgenannten nicht erreicht.

Interessant ist zu sehen, dass darüber hinaus eine deutschsprachige jüdische Kinderliteratur entsteht, die zunächst vor allem auf jüdische Kinder als Leserschaft abzielt. Lena Kuglers humorvolles Erstlesebuch „Chanukkatz oder Ruth, Chanukka und das Katzenwunder“ (2008) lässt sich so verstehen, ein Buch mit einfachen Reimsprüchen, sehr stark simplifizierten Grobbildern und einem Anhang mit Sachinformationen zum Chanukkafest sowie Rezepthinweisen zum Zubereiten von Latkes, den festüblichen Kartoffelpuffern. Auch Myriam Halberstams humorvolle Kinderbücher „Ein Pferd zu Chanukka“ (2010) oder „Im Galopp aus Ägypten“ (2015) sind primär ad intra konzipiert, können aber gleichwohl auch interkulturell und interreligiös genutzt werden. Spielerisch, witzig und mit erzählerischer Leichtigkeit wird hier in Traditionen, Bräuche und Feste des Judentums eingeführt. „Im Galopp aus Ägypten“ erzählt von der überhasteten Reise einer jüdischen Familie, die beinahe den Auszug aus Ägypten verpasst hätte, es aber – dank des Hebräisch sprechenden Pferdes Golda, dem die Mazzen nicht schmecken – dann doch noch rechtzeitig an die Seite Mose schaffen. Diese Bücher bringen einen neuen, ganz anderen Ton in das zeitgenössische deutschsprachige jüdische Kinderbuch ein, der dem Genre guttut.

Jüdische Kinderbücher als – humorvolle – fiktionale Einstiegs- und Vertiefungslektüre für jüdische Kinder in ihre Tradition, Kultur und Religion? Im Bereich des Christentums kennt man eine lange Traditionslinie vergleichbar konzipierter Werke, nennt sie etwas despektierlich „katechetische Gebrauchsliteratur“, liegt ihr Wert doch nicht zuallererst in der ästhetischen Form, sondern im praktischen Nutzwert. Gleichwohl kommt dieser Art von pädagogisch intendierter Literatur eine eigene Bedeutung und eine eigene Würde zu, die literaturwissenschaftlich eher ignoriert wird. Im Hintergrund steht häufig ganz praktisch das Gefühl der Notwendigkeit, Kindern die Chance zu geben, eben auch literarisch in die eigene kulturelle und religiöse Tradition hineinwachsen zu können.


3.Renaissance von Religion im Kinder- und Jugendbuch ? Hintergründe, Analysen, religionspädagogische Perspektiven

Die gegenwärtige Kinder- und Jugendliteratur zeichnet sich also durch eine äußerst vielfältige, breit ausgespannte Offenheit für religiöse Fragestellungen aus. Wie kommt es dazu ? Im Blick auf die Ursachen dieses Phänomens lassen sich allenfalls einige Vermutungen anstellen, die im Folgenden nur knapp skizziert werden können. Zunächst hat die Kinder- und Jugendliteratur Anteil an einem Phänomen, das die Kulturwissenschaften allgemein als religious turn in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bezeichnen. Eine Hinwendung zu religiösen Themen lässt sich auch im Blick auf die „Erwachsenenliteratur“ deutlich nachweisen.39 Hier partizipiert die Kinder- und Jugendliteratur also an einem gesamtkulturellen Gegenwartstrend, der dadurch jedoch seinerseits erklärungsbedürftig bleibt. Konzentrieren wir uns auf den spezifischen Blick auf die Bedingungen der Kinder- und Jugendliteratur.

a. religious turn – warum ? Ursachenforschung

Auf der einen Seite sorgt der radikale Traditionsabbruch im Blick auf Religionsausübung und Glaubensweitergabe in unserer Gesellschaft dafür, dass viele Eltern und Erziehende das Bedürfnis verspüren, Kinder und Jugendliche eben doch nicht so ganz ohne religiöses Wissen und spirituelle Erfahrungen aufwachsen zu lassen. Literatur kann und soll hier kompensatorisch wirken, zumindest wird das von ihr erhofft. Hinzu kommt die Erwartung, dass religiöse Kinder- und Jugendliteratur die Entwicklung, die Förderung und das Erleben von Religiosität unterstützen kann.

Viele Kinder und Jugendliche selbst sind neu offen für religiöse Dimensionen, weil sie – anders als Vorgängergenerationen – mit Religion eben nicht überfüttert wurden oder gar unter dem Phänomen einer „Gottesvergiftung“ (Tilman Moser), der religiösen Negativerziehung, zu leiden hatten.40 Unbefangen, unbelastet und neugierig gehen sie auf dieses Feld zu, freilich fast durchgehend mit dem Grundgefühl der Unverbindlichkeit. Verlage reagieren auf veränderte gesellschaftliche Situationen und wittern zielsicher Marktchancen mit Themen, die gerade „in“ sind. Wenn Religion sich verkauft, werden auch Bücher aus diesem Themensegment publiziert. Darüber hinaus reagieren Verlage aber nicht nur auf sich ihnen bietende Absatzmärkte, sie setzen zumindest zum Teil auch selbst Impulse im Blick auf Bereiche, die ihnen wichtig und förderungswert erscheinen. Autorinnen und Autoren von Kinderund Jugendliteratur schließlich erkennen ihrerseits, dass das Feld Religion zunehmend unbesetzt bleibt, sich deshalb für die fiktionale Erschließung anbietet. Jenseits der früher möglichen Befürchtung einer kirchlichen Indizierung einerseits oder Vereinnahmung andererseits – beide gleichermaßen kreativitätshemmend – gehen sie heute selbstverständlich von einer Autonomie des Zugangs zu Religion und Gottesfrage aus. Gebunden fühlen sie sich nur an die Grenzen der eigenen Überzeugung und der ästhetischen Stimmigkeit.

b. Literarische Annäherungen an Religion: Probleme und Herausforderungen

Gerade im Blick auf die literarische Annäherung an die Gottesfrage stehen die Autorinnen oder Autoren dabei vor mehreren Problemen, die sich analog auch in der Religionspädagogik stellen. Ein erstes Dilemma schildert Kathrin Wexberg: „Die zentrale Gratwanderung besteht dabei wohl immer darin, zwischen dem Bemühen einer aufgeklärten Gesellschaft, Kindern alles zu erklären, alles verständlich zu machen, und der Unverfügbarkeit Gottes zu vermitteln: Denn so wenig sich Gott in ein konkretes Bild zwängen lässt, so wenig geht es bei literarischen Texten um Verständlichkeit im intellektuellen Sinn.“41 Das ist ja nicht zufällig die grundsätzliche und über alle kulturellen Grenzen hinweg ernst zu nehmende Mahnung des ersten Gebotes : „Du sollst Dir kein Gottesbild machen!“ (Ex 20,4). Kann man Gott „erklären“? Darf man Gott „karikieren“ und „verfremden“ ? Soll man ihn ganz und gar rätselhaft und unverständlich zeichnen? Die Verfasser und Autorinnen lösen das Problem unterschiedlich, mal im Rückgriff auf traditionelle Bilder, mal in mutiger Kreativität, mal in Zurückhaltung.

Viele verlagern das Problem weg von der Ebene des Schriftstellers hin zur Ebene der Charaktere. Die Figuren schildern auf der Erzählebene ihre Bilder, Vorstellungen und Erfahrungen mit Gott. Drei Tendenzen fallen dabei immer wieder auf: Zunächst wird der Kontext der Frage nach Gott fast durchgängig als Ort der Krise bestimmt: Im Angesicht von Krankheit und Tod, von Verfall, Verlust und Endzeitstimmung, gegebenenfalls von schwerer Schuld stellen sich die Fragen nach letztem Sinn und Halt, nach Gott und Jenseitshoffnung. Gott im Alltag, Gott in Glück und Zufriedenheit, Gott als Grunddimension des Lebens – nach diesen Bereichen wird man fast vergebens suchen.

Ein zweiter Fragekomplex : Wer kann eigentlich Auskunft geben über Religion? Woher kommen Antworten für Kinder und Jugendliche auf der Suche ? Die meisten Autorinnen und Autoren sind realistisch genug, um zu wissen, dass die minderjährigen Protagonisten sich diese Antworten selbst nicht geben können. Auch alle euphorischen Theorien von sich selbst genügender ‚Kindertheologie‘42 stoßen hier an ihre Grenzen. Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die ihnen einerseits Informationen und andererseits Wertungsmuster anbieten – die sie dann eigenständig aufnehmen, filtern, überprüfen und fruchtbar machen können. Dazu bieten sich in der Kinder- und Jugendliteratur vor allem vertraute und vertrauenerweckende Erwachsene an: Eltern, erstaunlich oft Oma oder Opa, aber auch Lehrerinnen oder Lehrer, Pfarrer oder entfernte Verwandte. Der Kunstgriff, für diese Rolle besonders kluge, gebildete und religionskundige Jugendliche zu präsentieren, die als relevante Vertreterinnen oder Vertreter der peer group fungieren und andere Jugendliche oder uns Lesende über Religion aufklären, erweist sich als weitaus schwieriger. Neunmalkluge jugendliche Religionsspezialisten – wie „Theo“ – geraten ungewollt eher zur Karikatur, zu wenig sympathischen und kaum lebensnahen Sprachrohren der Botschaften ihrer Autorinnen oder Autoren. Die Frage nach den Quellen der Einspeisung von religiösem Wissen in die Kinder- und Jugendliteratur bleibt ein schwer zu lösendes Problem. Jenseits von Belehrung muss es gelingen, Fragen und Antworten in die jeweilige Handlung stimmig einzubinden.

Eng damit zusammen hängt eine dritte Beobachtung: Die Bücher bestätigen nachhaltig, wie radikal der Traditionsabbruch der kirchlich vermittelten Religion in unserer Gesellschaft erfolgt ist. Die klassische Sprachwelt des Glaubens, all das theologische Binnenverständigungsvokabular von „Gnade, Sünde, Sakrament, Rechtfertigung oder Erlösung“, spielt keine nennenswerte Rolle mehr. Selbst rein auf ein binnenkirchliches Lesepublikum abzielende Publikationen vermeiden diese Begrifflichkeiten, weil sie einer sowohl unverständlichen als auch unattraktiven, kaum noch lebendigen Fremdsprache entstammen.43 Inhaltlich kann es durchaus um vergleichbare Fragen gehen, aber das klassische Sprach- und Denkangebot der Kirchen bietet für weite Bereiche sowohl der Fragen als auch der möglichen Antworten keine Potenziale an. Die Notwendigkeit einer eigenständigen Sprachsuche tritt damit überdeutlich vor Augen.

c. Wegmarken der religionspädagogischen Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur

Über Jahrzehnte hinweg wurde eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der spezifisch religiösen Dimension der Kinder- und Jugendliteratur fast vollständig ausgeklammert. Erst in den letzten Jahren finden sich neue Wahrnehmungen und Aufbrüche. Ein kurzer Rückblick soll die wenigen Wegmarken der Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur unter religiöser Perspektive zumindest skizzenhaft nachzeichnen.

Schon vor der bereits genannten Studie „Zwischen Verkündigung und Kitsch“ hatte der evangelische Religionspädagoge Friedrich Hahn sich als Pionier explizit dem Themenkomplex der religiösen Kinder- und Jugendliteratur zugewendet. Sein damaliges Resümee war freilich ernüchternd: Im religiösen Kinder- und Jugendbuch traditioneller Form stoße man bestenfalls auf „Magerkeit und Dürftigkeit religiöser Aussagen“44. Bei näherer Betrachtung wird freilich eine höchst einseitige theologische Wertungsbrille deutlich : Hahn vermisst Belege dafür, „die paulinische Rechtfertigungslehre in einer kindgemäßen Gestalt auszudrücken“, und angesichts dieser Erwartung scheint ihm „das Religiöse, das Christliche […] häufig auf ethische Kategorien reduziert“.45 Offensichtlich wird also vor allem eine sehr spezifische, theologisch bestimmte Erwartung nicht erfüllt.

 

Die Germanistin Magda Motté – katholische Wegbereiterin der religionspädagogischen Beachtung moderner Literatur – kann mehr als 20 Jahre später auch im Blick auf die Werke der 1970er und 1980er Jahre monieren, dass „der Bereich christlicher Glaube und Gott in der Lyrik für Kinder fast völlig ausgeklammert“ werde. Die „Ausbeute an religiösen und christlichen Texten“ sei „äußerst mager“.46 1998 bestätigt sie noch einmal dieselben Suchprinzipien und Wertungsmuster, nun spricht sie von einem „nicht sehr erfreulichen Ertrag religiöser Literatur für junge Leser auf dem überbordenden Büchermarkt“47. Aus heutiger Sicht verraten solche Wertungen mehr über die an bestimmte theologisch-inhaltliche Erwartungen gebundenen Suchperspektiven als über den tatsächlichen Befund. Wenn man literarische Bilder und Vorstellungen, die nicht aus dem Bereich der klassischen christlichen Katechese stammen, gleich als Flucht in „abergläubisch-magische Praktiken“48 desavouiert oder pauschal als „erschreckende Verwirrung“49 abstempelt, verschließt man sich einerseits einer legitimen kreativen Breite religiöser Vorstellungen innerhalb wie außerhalb des Christentums und misst andererseits Literatur an normativ-religiösen Maßstäben. Beides führt nicht weiter.

Die meisten Beiträge zu diesem Fragekomplex konzentrieren sich auf zeitgenössische und heute einsetzbare Kinder- und Jugendromane. Dazu liegen vor allem Aufsatzbände vor, die fast immer auf themenbezogene kirchlich organisierte Akademie-Tagungen zurückgehen und jeweils ein breites Panorama erschließen. Als Grundbaustein gilt die 1979 von Reinhold Jacobi herausgegebene Sammlung über „Kinderbuch und Religion“, in der „zum ersten Mal […] seit längerer Zeit das Bezugsfeld Kinderbuch und Religion in verhältnismäßig vielseitiger Sicht angegangen wurde“50. Ausgangspunkt für diesen Sammelband ist die zur Frage erhobene Beobachtung, woran es liege, „dass es das religiöse Kinder- und Jugendbuch erzählenden Inhalts nahezu überhaupt nicht mehr“ gebe.51 Die vorgelegten Beiträge konvergieren in dem durchgängigen „Plädoyer für Vorsicht und Zurückhaltung in der expliziten Verwendung christlicher Elemente im Kinder- und Jugendbuch“52, im Zeitkontext verständlich als Gegenbewegung zu einer in den davorliegenden Jahrzehnten vorherrschenden zu stark missionierenden und ästhetisch fragwürdigen Tradition der katechetisch-religiösen Kinderliteratur. Ein weiterer gemeinsamer Grundzug dieser Studien zeigt sich in der Zielbestimmung: Weil das „zeitgenössische Kinder- und Jugendbuch […] weithin säkularisiert“53 sei, brauche die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Religion im zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuch neue grundlegende Wahrnehmungsraster und Wertungskriterien.

Den wichtigsten Beitrag zur Erarbeitung eines solchen neuen Zugangs bietet der 1982 von Anneliese Werner herausgegebene Sammelband „Es müssen nicht Engel mit Flügeln sein“ über „Religion und Christentum in der Kinder- und Jugendliteratur“. Hier werden erstmals systematische Zugänge zum Themenbereich erarbeitet. So wird ein differenzierter Katalog von Merkmalen religiöser Kinder- und Jugendliteratur seit der Aufklärung vorgelegt. Hilfreich und prägend ist insbesondere die Unterscheidung von drei grundlegend verschiedenen Typen zur Betrachtung von Religion im Kinder- und Jugendbuch: Die Herausgeberin des Bandes definiert zunächst den Typus der „unter ethischen Aspekten relevanten, nichtintentional religiösen Jugendliteratur“ als Literatur, „welche die Notwendigkeit von Normorientierungen für gesellschaftliches und partnerschaftliches Verhalten bewusst macht“. Davon zu unterscheiden sei die „religiöse Jugendliteratur“, die „konkreten Anlass gibt, über existentielle Probleme des Menschen […] nachzudenken und sie in einem transzendenten Bezug zur Entscheidung stellt“. Eigens zu benennen bleibe schließlich die explizit „christliche Jugendliteratur“, welche „die Elemente der christlichen Botschaft […] und christliche Glaubensinhalte […] thematisiert und problematisiert und […] bezeugt“.54

Religion und Christentum in der Kinder- und Jugendliteratur.

Mainz : Kaiser-Verlag, 1982, S. 55.

Diese Grundunterteilung in „nicht intentional religiös“, „religiös“ und „christlich“ findet sich in leichten Variationen und mit wechselnder Begrifflichkeit fortan immer wieder in der Diskussion. Magda Motté prägte 2003 die seitdem oft wiederholten Kategorien von der „ethisch-existentiellen Ebene“, der „transzendental-religiösen Dimension“ und der explizit „christlichen Botschaft“55 in der Kinder- und Jugendliteratur.

Eine erste religionspädagogische Dissertation zu diesem Themenbereich wurde 1982 von Josef Rabl veröffentlicht, der sich zuvor bereits mehrfach publizistisch in den Diskurs eingeschaltet hatte. In „Religion im Kinderbuch“ bietet er einen thematisch weit gespannten Überblick über die Primärliteratur und den Forschungsstand bis 1980. Er plädiert nachdrücklich für eine Beachtung der impliziten ethischen Dimensionen der Kinder- und Jugendliteratur: „Der Leser wird sensibilisiert für den Mitmenschen, für die Kreatur, er wird aufgefordert und angeleitet, sich in die Rolle des Nächsten, des Mitmenschen zu versetzen und die Wirklichkeit aus anderer Perspektive zu sehen.“ Deshalb – so Rabl in Anlehnung an die Rahnersche Theologie – könnten „viele soziale Verhaltensmuster und Wertvorstellungen“ dieser Literatur „als anonymes christliches Ethos bezeichnet werden“.56 Durchgesetzt hat sich dieser hermeneutische Zugang aufgrund seiner fehlenden Präzision und pragmatischen Folgenlosigkeit nicht.

Überhaupt: Nachdem das Thema „Religion im Kinder-und Jugendbuch“ zu Beginn der 1980er Jahre umfassend erforscht wurde, ist die damals „rege Auseinandersetzung, die unter religionspädagogischen, theologischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen stattgefunden hat, weitgehend verstummt“57. Es blieb bei ersten Tendenzanzeigen.58 1984 sprach Hubertus Halbfas so durchaus schon von einer „positiven Veränderung“59 im Blick auf die Präsenz, Qualität und Erforschung von religiösen Kinder- und Jugendbüchern, blieb letztlich aber skeptisch: Die „Lage des religiösen Kinder- und Jugendbuches“ sei „noch ohne Anzeichen für einen neuen Aufschwung“.60 Im gleichen Jahr nahm die Germanistin Ottilie Dinges einen neuen „Ton in der Einschätzung der Präsenz des Religiösen in der Kinder- und Jugendliteratur“ wahr.61 Diese Beobachtungen blieben aber letztlich folgenarm. „Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Bereich der religiösen Kinder- und Jugendliteratur hat seit den interdisziplinären Bestandsaufnahmen“ um das Jahr 1980 herum „nicht mehr stattgefunden“.62

Den besten Überblick über die auf anderen Ebenen weitergeführte Diskussion zur Frage der Rolle von Religion im Kinder- und Jugendbuch in den sich anschließenden Jahren bietet die von 1989 bis 2007 erschienene sechzehnbändige Reihe „Spurensuche“63, herausgegeben von einem in der Besetzung wechselnden Team unter der Federführung von Marlies Göcking, Willi Fährmann, Vera Steinkamp und Michael Schlagheck. Diese Bände dokumentieren jeweils die Beiträge zu den seit 1989 jährlich veranstalteten Tagungen zu diesem Themenfeld, ausgerichtet von der Katholischen Akademie im Bistum Essen „Die Wolfsburg“. Das bisher behandelte Themenspektrum spannt sich aus von Grundsatzklärungen über spezifische Themen wie „Schuld, Sünde, Vergebung“, „Leid – Tod – Hoffnung“64 bis hin zu „Ja zur Schöpfung – Ja zum Leben“.

Was für die Kinder- und Jugendliteratur selbst gilt, bestätigt sich seit wenigen Jahren auch im Blick auf die literaturwissenschaftliche und religionspädagogische Forschung: Auch hier lässt sich ein sprunghaftes Neuinteresse für die Frage nach Religion konstatieren. Der hier vorliegende Band spiegelt seinerseits diese neue Aufmerksamkeit. Aus religionsdidaktischer Sicht sind inzwischen mehrere theoretische Studien65 über den religious turn in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur erschienen. Einige weitere Belege für das gegenwärtige Interesse lassen sich im Blick auf Fachzeitschriften gewinnen, die sich zum größten Teil erstmals überhaupt dieser Fragestellung zuwenden:

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