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Ratsmädelgeschichten

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Der Gehilfe hatte jedenfalls ein einsames, unbehelligtes Leben. Wohl möglich, daß dies seiner Natur zusagte; es giebt ja sonderbare Käuze genug auf Erden.

Er hatte unbedingt etwas Hämisches, Spöttisches in seinem Wesen, machte den kleineren Apothekerskindern Grimassen, wenn er an ihnen vorüberging, und versteckte der ganzen jungen Gesellschaft den Syrup, nach dem sie allerseits großes Verlangen trugen, in die Giftkammer. Das verhinderte die Apothekerskinder durchaus nicht, mit Gästen und ohne Gäste auch dort ihren Syrup aufzuspüren und sich eine Güte daran zu thun. Sie wurden bei ihrem Treiben in der verhängnisvollen Kammer von dem Gehilfen im stillen beobachtet, und die unartige Bande bemerkte das gar wohl, und jedes dachte bei sich: „Da kann er lange warten, bis wir uns einmal vergreifen, der Esel.“ Sie kannten ihren Syrupstopf, Syrupus simplex!

Bei all und jeder Gelegenheit ging es im Apothekerhause festlich zu. War das Geschäft besonders gut und einträglich, das heißt, war das gute Weimar eine hübsche Zeit lang von irgend einer Krankheit gründlich heimgesucht, so lebten sie bei Apothekers besonders reichlich. Dann saß die Familie mit Kind und Kegel vergnügt und hilfreich bei einander, wenn zur Zeit irgend einer Epidemie mehr Hände im Geschäft gebraucht wurden, als gewöhnlich, um Papier zu Pulverpäckchen und zu den roten Flaschenkäppchen zuzuschneiden und allerlei nach Bedarf zu mörsern und zu reiben. Sie thaten das mit ganz besonderem Behagen, und schwerlich konnte man den braven Leuten nachsagen, sie hätten die guten Bissen mit dem Bewußtsein zu sich genommen, daß sie ihre vorzügliche Nahrung aus dem Verderben ihrer Mitbrüder zögen, wie die Bienen Honig aus den Giftblumen. Sie dachten so wenig über den Grund ihres Wohlstandes nach, wie es Millionen andere auch nicht thun, die sich durch das Elend und den Tod ihrer Mitgeschöpfe nähren. Wohin sollte unsere Ehrbarkeit, Würde und Vortrefflichkeit geraten, wenn wir darüber simulieren wollten! Gott behüte uns davor!

Apothekers verstanden es, festlich zu leben, und wohl den Kindern und Vettern und Basen, denen das Schicksal solch ein Haus zugänglich gemacht hat! Die können einer munteren Jugend gewiß sein.

Eines Nachmittags in der allerschönsten Zeit, in der das Pfund Kirschen zwei Pfennige kostete, war bei den guten Leuten die ganze Gesellschaft versammelt, Röse und Marie mit ihren drei Freunden Budang, Horny und Schiller, ferner die Wirte mit allen Kindern, der alte Kupferstecher Müller mit drei erwachsenen Sprößlingen, Müllersch Lotte, Müllersch Ernst und Müllersch Heinrich.

Die einstige Gouvernante des Prinzen Konstantin, eines Sohnes Karl Augusts, war auch zugegen. Die hielt mit der Apothekerin, die früher bei Prinzeß Karoline Kammerfrau gewesen, gute Freundschaft und war eine muntere, alte Person, die es sich nicht zweimal sagen ließ, wenn es irgendwo eine Feierlichkeit gab, bei der man sie gebrauchen konnte. Die Dame war ein Fräulein von Knebel.

Sie war bei Hofe und in der ganzen Stadt durch eine artige Geschichte, die man allenthalben von ihr erzählte, zu einer gewissen Berühmtheit gelangt.

Eine drollige Geschichte stirbt so leicht nicht aus, und Fräulein von Knebel hatte sich mit guter Manier darin gefunden, die Heldin einer Anekdote zu sein, die man nicht müde wurde, immer wieder bei guter Gelegenheit anzubringen.

Ihr Zögling, Prinz Konstantin, war einst in eine solenne Hofgesellschaft aus irgend einer knabenhaften Laune mit einem Purzelbaum zur Thür hereingekommen und hatte allgemeines Entsetzen erregt. Seine Erzieherin, die ihm folgte, war von dem etikettelosen Benehmen ihres Zöglings bis ins Innerste erstarrt, und die Herzogin Luise, die Mutter des kleinen Übelthäters, ging mit einem äußerst ungnädigen Blick auf Fräulein von Knebel zu, richtete ein paar das Benehmen des Prinzen rügende Worte an sie und erhielt von ihr mit pathetischer, unschuldsreiner Stimme zur Antwort: „Hoheit, von mir hat er das nicht gelernt!“

Man denke sich!

Und wer die tiefempfundene Antwort gehört hatte, dachte sich jedenfalls das ehrbare, würdige Fräulein als Vorbild des unartigen Prinzen, daher eine unbezwingliche Heiterkeit und die Langlebigkeit der kleinen Geschichte. So ist Fräulein von Knebel bei jung und alt, hoch und niedrig bekannt geworden. Sie war überall gern gesehen, konnte einen Spaß vertragen und ging selbst nicht allzu zart und respektvoll mit ihrer eigenen Persönlichkeit um.

An diesem Nachmittage war die Gesellschaft bei Apothekers eigentümlich beschäftigt. Auf dem großen Tisch stand ein Korb mit kleinen, losen Heften, die von den Anwesenden geklebt oder genäht wurden. Die weiblichen Hände befestigten die losen Blätter mit ein paar Stichen ineinander und die männlichen klebten schmale rote, blaue oder grüne Papierstreifen um den Rücken der kleinen Broschüren.

Was aber enthielten diese Bogen, daß man sie in so heiterer Vereinigung bei Wein und Kirschkuchen vergnüglichst miteinander heftete?

Sie enthielten nichts Geringeres, als ein getreues Konterfei in Kupferstich von zwei berüchtigten Spießgesellen, Niklas Sommer und William Becher, nebst deren kurz und bündig gefaßter Lebensbeschreibung, zu Nutz und Frommen für alle, die dieses Heftchen kaufen und lesen würden. Der alte Müller hatte die Porträts selbst in Kupfer gestochen, die Lebensbilder selbst verfaßt, Papier- und Druckkosten selbst getragen, und morgen sollten sie auf dem Markte, während über die genannten Delinquenten der Stab auf einem Gerüst, das jetzt schon stand, gebrochen wurde, zum Verkauf ausgeboten werden.

Der Kupferstecher war mit seiner Arbeit mit knapper Not halbwegs bis zum bestimmten Termin fertig geworden und hatte noch, um das Werk zu vollenden, die Hilfe seiner Nachbarn, der Apothekersleute und deren Freunde und Verwandte in Anspruch nehmen müssen.

So saß die Gesellschaft und heftete unter Lachen und in allerbester Stimmung schmausend die Lebensbeschreibung der beiden armen Tröpfe, die ihrem letzten Stündlein entgegensahen. Damals war die gute Zeit, in der man sich über gar viele Dinge weit weniger Skrupel machte, als in der unsern; das, was in aller Ordnung vor sich ging, wurde harmlos und unkritisch entgegengenommen. Man glaubte z. B. in der Wünschengasse allgemein, daß aus den Brotkrumen, die in den Honigtopf fielen, Ameisen entständen, und hütete sich deshalb natürlich, Brotkrumen hineinfallen zu lassen. Man glaubte tausend solche Dinge und befand sich wohl dabei.

Die beiden schlimmen Kerle waren von dem hochlöblichen Gericht verurteilt und mußten wohl oder übel den Lohn für ihre Thaten, den Tod, erleiden. Dagegen konnte nichts einzuwenden sein, es war eine abgemachte, durchaus erledigte Sache, die einfach und naturgemäß aussah, so daß hierbei nicht angebracht sein mochte, sich andern Gefühlen hinzugeben, als einem angenehmen Gruseln, das über diesen und jenen bei der munteren Arbeit wohl einmal hinlief. Bedenken über Todesstrafe oder sonstige humane Bestrebungen hatten die Apothekersleute und ihre Gäste wohl schwerlich berührt. Auch der Kontrast, der zwischen den beiden machtlosen Schelmen, die der Tod schon am Wickel hatte, und die ihre kurze Galgenfrist in einem von Gott und der Welt verlassenen Raume, von allem Troste und Verkehr abgesperrt verbrachten, und der lebensfrohen Sicherheit und Behaglichkeit, in der man hier beisammen saß, kam wohl keinem recht zu Sinnen.

Ernst von Schiller blätterte in dem Büchelchen und war mit des Kupferstechers Darstellung von William Bechers Gefangennahme nicht einverstanden. „Das soll ja eine tolle Geschichte gewesen sein, er muß sich verzweifelt gewehrt haben! Sie haben das ein bißchen kurz gehalten, und so etwas gefällt gerade.“

„Ja, das schreibe einer,“ sagte der alte Müller; „der Becher war ein Prachtskerl, das läßt sich nicht so leicht berichten, dazu gehört einer!“ Sie sprachen schon in der Zeitform, die das Vergangene beherrscht, von den noch für eine Weile, wahrscheinlich bis zum Übermaß bewußt Lebenden. Aber was gehen eine so allerliebste, unschuldige Gesellschaft die letzten Stunden, die Todesfurcht und alles menschliche Weh zweier armen, so gut wie schon gerichteten Sünder an!

Man lachte über den Eifer des Fräulein von Knebel, die mit einer wahren Vehemenz heftete und einen ganz erklecklichen Haufen der Diebs- und Mordsgeschichte vor sich aufgestapelt hatte, den sie eifersüchtig bewachte, daß nicht etwa eins oder das andere Heft entwendet wurde, um ihr den Ruhm zu nehmen, die größte Zahl gefertigt zu haben.

Fräulein von Knebel war eine Person, die alles und jedes mit ganzer Kraft betrieb.

Also hier sitzt die Familie mit ihren Gästen in Wohlsein beisammen, und man denkt mit Behagen an die beiden armen Sünder; die stecken miteinander in dem gar festen Stübchen, zu dem keine menschliche Hilfe mehr dringt.

Es liegt hoch oben in dem düstern Hause, das zu Strafe und Zucht der frechen, unklugen, unglücklichen und infamen menschlichen Kreatur, die sich nicht erziehen lassen will, erbaut wurde. Jetzt, in unseren Tagen, ist das Haus in ein ehrenwertes Landesgericht umgewandelt, und statt der Spitzbuben sitzen würdige Männer darin, ehrenwerte Landräte und Landrichter, die frei und fröhlich ein und aus gehen können, die mit Behagen die Sonne, ganz wie die seligen Spitzbuben einst, durch die vergitterten Fenster scheinen fühlen, die leben, atmen, ganz wie diese, nur daß sie durch ihre kluge und würdige Lebenswahl freie, angesehene Leute geblieben sind und bewahrt wurden vor straffälligen, verpönten, unklugen Sünden und Thorheiten, wie sie nur ein Unsinniger, ein Verzweifelnder fertig bringt.

Die beiden Spitzbuben aber, Becher und Sommer, saßen im Hause, als es noch seine Leute hinter Schloß und Riegel hielt; die Wolken zogen darüber hin und zogen auch über den Galgen, der auf zwei baumelnde Gestalten in aller Gemütsruhe wartete. Die beiden Spitzbuben kannten Weimars Umgegend, kannten den Galgen, sahen sich zappeln, sahen sich baumeln. Das Haar stand ihnen zu Berge, die Kniee schlotterten ihnen, die Zunge klebte am Gaumen, das Herz stieß und klopfte. Die Hände waren naß von kaltem Schweiß, und die Apothekergesellschaft dachte ihrer in Behagen bei dem Heften der Bogen, die den Tod, die letzte kommende Qual der armen Burschen schon schilderten; und als unsere Gesellschaft gerade im besten Heften und Kleben sich befand, jeder auch schon bei seinem zweiten und dritten Stück Kirschkuchen angelangt war, bei gutem Appetit, den muntere Arbeit förderte, da öffnete sich die Thüre, die von dem Zimmer aus direkt auf die Treppe führte, und herein trat vorsichtig, den Kopf zuerst durch die Thürspalte steckend, der unheimliche Geselle unten aus der Apotheke.

 

„Diener, meine Herrschaften,“ sagte er mit seiner knarrigen Stimme und grüßte mit der dürren Hand, die aus einem allzu kurzen Ärmel sonderbar hervorstand. „Ich wollte nur oben vermelden, daß es diesmal mit den Büchern nichts ist. Sie haben den einen begnadigt. ’s bleibt nur bei Sommern.“ Wie aus einem tiefen Traum plötzlich erweckt, starrte die Gesellschaft sprachlos den gefürchteten Todesverkünder an, der heute ausnahmsweise seine Rolle geändert und, wenn man recht gehört hatte, der Verkünder eines erfreulichen Ereignisses geworden war. Aber man mochte wohl nicht recht gehört haben, denn es war nach der Botschaft des Gehilfen ein augenscheinlicher, ungemütlicher Druck bei einigen Gliedern der Gesellschaft zu konstatieren, und zwar gehörten diese Glieder durchweg der Familie des Kupferstechers an. Die erste, die sich sammelte, war Fräulein von Knebel; die fragte den Gehilfen, der noch in der Thür stand: „Nun sag’ Er mal, wie ist das denn gekommen, und gerade Bechern?“

Der Gehilfe zuckte, wie es seine Art war, die Achseln und blickte spöttisch auf die Gäste, ohne etwas zu erwidern.

Nach einer Weile sagte er trocken: „Gesegnete Mahlzeit!“ und wendete der Gesellschaft langsam den Rücken, um aus der Thüre zu gehen.

„Das ist aber schrecklich!“ rief Anne Müller, die jüngste der Kupferstecherkinder, in enttäuschtem Ton, „da wird’s nun nichts.“

„Seht mir das blutdürstige Geschöpf an,“ sagte der Apotheker schmunzelnd. „Na, Anne,“ und er klopfte ihr auf die Schulter, da drangen dicke Thränen in Annas Augen und rannen ihr über die roten, runden Wangen.

„Teufel auch, was hat sie denn?“ fragte der Apotheker und blickte die Glieder der Kupferstecherfamilie der Reihe nach an. „Na, was habt Ihr denn?“ fragte er noch einmal; denn auch die andern Müllerskinder und selbst der behagliche, rundliche Freund Kupferstecher konnte eine gewisse Niedergeschlagenheit nicht verbergen. „Was habt Ihr denn mit Bechern gehabt, daß Euch seine Begnadigung so zu Herzen geht; das ist mir ja etwas ganz Neues, erzählt doch! – Kennt Ihr ihn denn?“

„I, bewahre,“ sagte der Kupferstecher, „das ist den Kindern ihre Sache; Anne, wollen wir’s sagen?“ wendete er sich an seine Tochter, deren Thränen noch immer reichlich flossen; „aber das merke Dir: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Erzähle!“

Anne blickte unter Thränen auf ihre Geschwister, die beide übellaunig und verdrossen dasaßen.

„Der Vater hatte mir’s geschenkt,“ begann Anne schluchzend und blieb im Anfange stecken, denn ihre Thränen machten ihr zu schaffen.

„Na,“ ermunterte sie der Vater. Anne war aber jetzt erst recht ins Weinen gekommen und schenkte der Aufforderung fortzufahren kein Gehör, so daß der Kupferstecher selbst das Wort nahm und sagte: „Man muß immer auf das junge Volk bedacht sein, das will sich bald so vergnügen, bald so. Ein armer Vater hat seine liebe Not! Vor ein Wochner sechse verehre ich meiner Anne zu ihrem Geburtstag die beiden kleinen Zeichnungen,“ der Kupferstecher schlug mit der Hand auf eins der Heftchen, „und sagte Anne, was ich damit vorhab, daß sie in Kupfer gestochen werden sollen u. s. w., und daß der Erlös, den ich damals dem armen Tierchen im voraus verehrte, zu einer Partie nach Schwarzburg bestimmt sei. Nun haben wir’s gehabt,“ sagte er und schlug sich auf die runden Kniee. „Jetzt können wir den ganzen Schwindel einpacken, und die armen Kinder sind um ihr Sommervergnügen gekommen.“

„Das weiß der liebe Himmel,“ rief die Apothekerin mitleidig und bewegt. „Wenn von oben etwas gethan wird, Gott sei’s geklagt, daß es immer am unrechten Platze geschieht!“ Anne heulte unaufhaltsam, und die beiden älteren Geschwister versanken in einen unergründlichen Mißmut.

Der Kupferstecher war aufgestanden und ging im Zimmer auf und nieder, hatte die Hände in der Erregung über dem Bäuchlein gefaltet und schnippte mit den Daumen. Fräulein von Knebel hatte sich ganz der christlichen Pflicht zu trösten hingegeben und karessierte Annen auf alle Weise, indessen die übrige Gesellschaft nachdenklich auf die Hefte blickte, die mit einem Male wert- und bedeutungslos vor ihnen lagen.

Der Kupferstecher blieb nach längerem Aufundniedergehen stehen und sagte mit einer komischen und bittersauren Miene: „Ich bleibe dabei, es hätte dem Kerl nichts geschadet, wenn sie ihn morgen mitsamt dem andern ins Jenseits spediert hätten.“ Er schnippte mit der Hand in der Luft. „Da haben wir uns hineingerannt, allein das Papier vier Reichsthaler, Druckkosten und dergleichen gar nicht gerechnet.“

„Ja, ja, ja,“ sagte der Apotheker und schüttete ein Glas süßen Weins hinunter.

Die Gesellschaft hatte ein stilles und bedrücktes Aussehen angenommen.

Da klang plötzlich die helle, frische Stimme unseres guten Ratsmädels, der Röse. „Ich wüßte schon, wie man es machen könnte,“ sagte sie ruhig.

„Na?“ fragte der Apotheker.

„Streicht doch den Bechern aus und verkauft nur Sommer, das schadet ja nichts, wenn Becher mit daran hängen bleibt.“

„Teufelsmädchen!“ rief der Kupferstecher überrascht. „Das läßt sich hören! Ja, wenn man Kopf und Herz auf dem rechten Flecke hat!“

„Hoch Röse!“ rief der Apotheker und schwang sein Gläschen. Neues Leben fuhr in die Gesellschaft. Blaustifte wurden geholt, es wurde gestrichen, gestrichen, gestrichen, der Begnadete wurde von dem Verurteilten, dem armen, geschieden, wie das ja überall auf Erden der Fall ist.

Die Geschwister blickten wieder munter ihrer Sommerpartie entgegen, die ihnen der Tod des armen Burschen, aller Berechnung nach, einbringen sollte. Nur Anne sagte als Nachklang ihrer Schwermut mit weinerlicher Stimme: „Wenn sie den andern nur nicht auch begnadigen.“

Röse wurde an diesem Abend außerordentlich gefeiert.

„Ein heller Kopf ist etwas wert,“ sang der Apotheker in allerlei schelmischen Melodieen und Variationen ihr zu. Röse war sein ganz besonderer Liebling.

Als am Abend die Gesellschaft nach Hause ging, mußten sie an dem Gerüste vorüber, auf welchem über dem armen Schelme Sommer der Stab am andern Morgen in aller Frühe gebrochen werden sollte.

Als die lustigen Leute in der unheimlichen Nähe standen, da wurden sie alle still und bedenklich.

Röse, die am Arme Budangs ging, sagte, indem sie sich fester an ihn hing: „Morgen wird Sommer doch auch, wie damals der andere, auf einer Kuhhaut nach dem Galgen geschleift?“

„Ja,“ sagte Budang.

„Ach, Budang,“ fuhr Röse nach einer Weile fort, „ich will wirklich immer recht gut sein!“

„Ja, das denke ich,“ sagte Budang lächelnd; „aber Du bist müde,“ fügte er hinzu, „Du hängst Dich ja ganz schwer an meinen Arm. Paß auf, ich will Dir noch etwas sagen.“

„Na,“ fragte Röse.

„Die Schillers-Mädchen und Ernst, Ihr, Horny und ich, wir sind miteinander zu Sperbers aufs Gut eingeladen. Wir wollen es jetzt noch auf dem Weg bereden.“

„So?“ sagte Röse, „das ist vom alten Sperber vernünftig, daß er endlich sich entschlossen hat.“

„Was hast Du denn zu versäumen?“ fragte Budang.

„Ich, daß ich nicht wüßte! Ich kann nur solch ein Zaudern nicht leiden. Vor vier Wochen läßt er es bei uns durch die Butterfrau sagen, und nichts wird dann wieder von ihm gehört.“

„Ernst,“ rief Budang, „wartet einmal.“ Ernst, Marie und Horny gingen vorauf und blieben auf Budangs Ruf stehen.

„Ihr seid wohl auch gerade im Sprechen?“ fragte Röse. „Wie machen wir es denn mit Sperbers?“

„Wir gehen, natürlich gehen wir,“ sagte Ernst von Schiller. „Wir wollten es nur oben bei Apothekers nicht bereden. Es paßt doch nicht, wenn wir halb Weimar dem alten Sperber auf den Hals bringen, und Müllers wären ruhig mitgegangen, die machen alles mit. Nein, wir wollen unter uns bleiben. Die Schwestern sind natürlich bereit und lassen Euch sagen, Ihr sollt Eure rotpunktierten, hellen Kleider mitnehmen. Sie machen es auch so.“

„Nun, und wann gehen wir?“ fragte Röse.

„Heut’ haben wir Freitag,“ erwiderte Marie, „da dächte ich, wir setzten Montag fest, da kommen wir um die Kirche, denn Sperber würde uns auf alle Fälle hineinstecken, der hält’s nun einmal mit seinem Pfarrer.“

„Und wir müssen so schon bei Pastors schlafen,“ fuhr Röse dazwischen. „Wir wissen es, wie es dort ist, nicht, Du?“ sagte sie lachend zu Marie.

„Ja, schade, daß Ihr nicht bei Sperbers unterkommen könnt,“ meinte Budang.

So waren sie bis vor Röses und Maries Haus gekommen. Großer Abschied, und die Mädchen tappten miteinander die dunklen Treppen hinauf.

Am andern Morgen sah die Mutter mit ihnen die rotpunktierten Kleider durch; beide bestürmten sie auf das innigste, liebenswürdigste und überzeugendste, sie wollten ein neues Band auf ihre großen Hüte, und sie bekamen es und waren glücklich.

Mittlerweile war der unglückliche Sommer auf seiner Kuhhaut dem Tode zugeschleift worden, und der Galgen trug seine Zierde zum letztenmal, denn Sommer war Weimars letzter Gehenkter.

Am Montag, himmelfrüh, brach von der Wünschengasse die Gesellschaft auf, unsere fünf guten Freunde, die beiden Schillerschen Töchter und ein kleines, mageres Pferdchen, das mit Ernst von Schiller in Beziehung stand, da es von ihm schon zu manchem Spazierritt gemietet worden war, wenn er einmal Lust bekam, auf Pferdesrücken sich dem Leben und seinen Gefühlen hinzugeben.

Jetzt war es mit Shawls, mit Päckchen und Körben beladen. Die rotpunktierten Kleider von den Ratsmädchen und den Schillerschen waren sorgsam dem guten Tiere anvertraut worden, und Ernst bekam von den Schwestern und von Röse und Marie wahrhaft begeisterte Erklärungen, die seine Klugheit, seinen ausgezeichneten Verstand betrafen.

Er hatte nämlich die Gesellschaft mit der Idee und deren Ausführung, das Pferdchen zu engagieren, überrascht. So zogen sie durch die morgenstille Stadt, dem langgestreckten Ettersberge zu, nach dem Gute des alten Sperber.

Welch schöne Verbindung von erster Jugend, herrlicher Morgenfrische, Aussicht auf ein paar gute Tage, allseitigem Wohlgefallen aneinander und Sorglosigkeit gab unsere Gesellschaft ab!

Sie hatten einen tüchtigen Marsch bis zum Gute des Herrn Sperber vor sich, und ein gutes Stück mußten sie über Felder, über schattenlose Wege gehen; aber ein frischer Wind wehte den ganzen Tag. Das Korn stand in Blüte und duftete, und die Sonne ließ die Wangen höher glühen; sie ließ die Züge der schönen Mädchen noch weicher, lebensvoller als sonst erscheinen.

Budang, ein großer Botaniker, war bemüht, die Gesellschaft auf allerlei Merkwürdigkeiten aufmerksam zu machen, und es dauerte nicht lange, so hatte das Pferdchen eine kleine Naturaliensammlung auf dem Rücken, und die Mädchen rote Mohnkränze auf den Köpfen.

Die Wege auf dem Ettersberg gaben dem Sammler reiche Ausbeute an allerlei Versteinerungen, und die Mädchen wußten es schon, es gab für alle zu schleppen, wenn sie mit Budang dort lustwandelten.

Gegen Abend erst gelangten sie zu ihrem Ziele, denn der Weg war durch allerliebste Aufenthalte, kleine Mahlzeiten, so viel als möglich verlängert worden.

Vor dem Gutsthore kam ihnen eine wohlbekannte Gestalt entgegen. Das war die Gutsbesitzerin selbst, die lustige, kleine Alte mit der großen, rosa Schürze, dem Schlüsselbunde, den nickenden Bändern an der Haube. Ein Windzug bewegte ihr die weite Schürze und ließ sie, bestrahlt von der Abendsonne, flattern und in unerhört Rosa-Farben-Tönen leuchten.

Die wartende Gestalt mochte auf die ankommenden Gäste einen verheißungsvollen Eindruck machen; denn mit Jubel und Winken und heiteren Lauten, mit noch durch die Entfernung unverständlichen Zurufen näherte man sich ihr.

Und ebenso schien sie erfreut zu sein, als die mit rotem Mohn bekränzten Mädchen, das Pferdchen, die drei Kameraden herankamen, denn sie schlug einmal über das andere Mal die Hände zusammen, man sah sie schon von weitem lachen, und als die Gäste so nahe waren, daß man wagen konnte, die Begrüßungsformeln etwas detaillierter und augenscheinlicher machen zu können, schwenkte die kleine, runde Frau ihr Schlüsselbund in der Luft und ließ es klingen und that dies mit außerordentlicher Geschicklichkeit, bog sich dabei mit dem Oberkörper hin und her, im Takte, je nachdem sie mit dem Schlüsselbunde, das sie wie eine Castagnette handhabte, klirrte und klapperte.

 

Die Gäste kamen schließlich laufend auf ihre Wirtin zu, und auch das Pferdchen wurde dazu veranlaßt, einen gelinden Trapp anzuschlagen. Nun allerausführlichste Begrüßung, Umarmung, jedes bekam seinen festen Kuß von der Frau Gutsbesitzerin.

„Nun, mein Alter wird Augen machen, wenn er Euch in den Kränzen sieht,“ sagte sie und betrachtete die Mädchen. „Seht nur einer, Klatschrosen! Ja, die Jugend! Die liebe Jugend! Die verdammten Klatschrosen! Und hier machen sie sich, ja, alles hat seinen Zweck auf Erden!“

Sie klopfte Röse auf die Wangen. „Aber habt Ihr denn gesehn,“ sie wies auf Rösens Kranz, „was das Zeugs dies Jahr gediehen ist? Da stecken ja die Felder voll zum Erbarmen. Na, der Alte wird Augen machen,“ schloß sie wieder. „Wo habt Ihr denn den Klepper her?“ begann sie aufs neue und klopfte dem Pferdchen auf die Schenkel, „der soll sich wundern, wie es ihm diese Tage gehen wird. Du alter Häckselsack,“ und wieder bekam das magere Viehchen einen freundlichen Klapps von seiner Wirtin, der gleichbedeutend war mit einer Anweisung auf ein paar tüchtige Metzen Hafer. Jetzt traten sie in den Gutshof ein.

Das war ein Gutshof! Jeder Mensch, dem Gott wohl will, sollte in schönen Jugendtagen einmal auf solch einem Gutshof ein paar Tage, ein paar Wochen gewesen sein, damit er wenigstens weiß, was Behagen, was Fülle, was Sauberkeit, Nützlichkeit, was gesunder, kräftiger Geruch, was schönes Vieh in gut gepflegten Ställen, was Wohlhabenheit und Stattlichkeit ist; damit er erst begreifen lernt, welche Harmonie zwischen dem schön geschichteten Misthaufen und der hohen, breiten Linde auf solch einem Hofe besteht, wie sie beide miteinander ein Ganzes bilden, einen einzigen Eindruck.

„Da kommt er ja, mein Alter,“ rief die muntere Herrin des schönen Hauses, und richtig, aus dem Laubengang, der um das Wohnhaus führte, trat der alte Sperber, der wunderlich gut zu seinem Frauchen paßte.

Auch er war eine kurze, rundliche Gestalt, wie es schien, behende, denn auch er bewillkommnete die Gäste schon von weitem mit den lebhaftesten Bewegungen, und wie die Frau das Schlüsselbund, so schwenkte er die große Tabakspfeife. Sein Gesicht hatte eine stark rötliche Färbung und leuchtete vor Behagen.

„Da kommt ja die Gesellschaft!“ rief der alte Sperber, als er schon unter der Bande stand. „Ihr habt’s gut gemacht, daß Ihr Euch Zeit genommen, unser Jochen Henner hat Euch ja vor so ein sieben Stündchen in Lützendorf getroffen, danach erwarteten wir Euch um eins, zwei herum.“

Der behagliche Alte zog seine dicke Uhr und hielt sie Budang unter die Nase. „Und was zeigt’s jetzt? Jetzt geht’s stark auf achte. Ihr mußtet dem Klepper wohl oft zureden, he? oder was habt Ihr denn eigentlich gemacht? Das ist ein miserables Vieh, wie kommt Ihr denn dazu?“

„Das ist Ernst sein Reitpferd,“ sagte Röse einigermaßen pikiert. Sie fand, daß das Pferdchen gar so übel nicht war, und daß sich Ernst oft sehr stattlich, wenn man nur den rechten Standpunkt hatte, darauf ausnahm.

„I, der Tausend, wohnt bei Euch in der Stadt ein närrisches Volk, wenn man das ein Reitpferd nennt! Meinetwegen!“

Er rief einen Knecht herbei und befahl ihm, „das Reitpferd“ in den Stall zu führen und abzuladen, und ging mit seinen frischen Gästen dem Hause zu.

„Schade, das ganze Gesindel kann nicht bei uns unterkommen, wir haben Euch beide, da – Euch beide“ – er wies auf Röse und Marie. „Ihr müßt eben zum Pfarrer, weil Ihr die Frau kennt; schlimm genug für Euch.“ Das murmelte er in den Bart und paffte blaue Wölkchen aus seinem Pfeifenkopf. „Sapperlotsches Volk, die Pastors,“ brummte er. „Aber jetzt wollen wir erst bei einander sitzen. Übrigens seid Ihr nur für die Nacht dort untergebracht. Am Tage werde ich mich hüten, Euch drüben zu lassen in dem Gewirre. – Teufel auch, es ist kein Spaß, dort unterkriechen zu müssen.“

„Uns macht es nichts aus, und wenn sie dort noch mehr hätten,“ versicherten die Mädchen. Es handelte sich hier um den großen Kindersegen des Pfarrhauses, das durch diesen Umstand für den Gutsbesitzer Sperber, der über alles seine Behaglichkeit und Ruhe liebte, etwas Unheimliches hatte.

Er verehrte den würdigen Pfarrherrn. Er war ihm ein angenehmer Begleiter, um mit ihm über Land zu gehen.

Sie spielten Tarok miteinander; doch bei allem, was er mit dem Pfarrer vornahm, mußte dieser durchaus von den Seinen isoliert sein. Ja, der alte Sperber vermied es sorgfältig – nur in den dringendsten Fällen machte er eine Ausnahme – sich nach des Pfarrers Frau und Kindern zu erkundigen. Er bestritt auch auf das heftigste und wiederholt gegen seine eigene Frau, daß er wisse, ob der Pfarrer zehn, dreizehn oder siebzehn Kinder habe, trotzdem er von der kleinen Gutsbesitzerin mit der Anzahl dieser armen Kinder auf das nachdrücklichste und eindringlichste, so oft er fragte, bekannt gemacht worden war. Er wollte es nicht wissen und damit basta!

Der Pfarrer hatte nach dem Tode seiner ersten Frau zur Lebensgefährtin eine Elementarlehrerin gewählt, die auch unsere Ratsmädel einmal unter der Fuchtel gehabt und die sich jetzt zur Beherbergung ihrer beiden früheren Zöglinge erboten hatte.

Als der Pfarrer dem Gutsbesitzer vor einigen Jahren seine in Aussicht stehende Verbindung mit dieser würdigen Person anzeigte, mit besonderer Hervorhebung eben dieser Eigenschaft, „der Würde“, sah der Gutsbesitzer ihn gleichgültig an, sagte: „Bon“, pfiff ein Stückchen, um vielleicht anzudeuten, daß der gegenwärtige Augenblick ihm von außerordentlicher Gleichgültigkeit sei.

Das Gutsbesitzerpaar hatte den einzigen Sohn in der Kriegszeit verloren.

Er war fürs Vaterland gefallen, und die beiden Alten hatten den Verlust tapfer getragen. Das schöne Gut war ohne Erben; aber sie zeigten sich beide gelassen darüber, hatten ihre Einrichtungen getroffen, Stiftungen bedacht und trugen ihren Kummer nicht zur Schau, hatten sich wohl auch damit auf eine gottergebene Weise abgefunden und lebten in Wohlgefallen aneinander ganz behaglich.

Das Abendessen, das die junge Gesellschaft bei ihren Wirten erwartete, zeugte von ländlichem Überfluß an den Dingen, womit die Leute unten in Weimar sparsam umgehen mußten.

Röse und Marie hatten seit jeher den Eindruck von dem Gute des alten Sperber gehabt, als wäre in Wahrheit hier das Land, in dem Milch und Honig fließt.

Bis in die Baumblüte hinein erhielt die Frau Gutsbesitzerin die besten Äpfelsorten noch so frisch und schmackhaft wie um Weihnachten und konnte ihren Gästen immer Überraschendes, Ausgesuchtes vorsetzen. Die alte Sperber hatte ihre ganz besonderen Geheimnisse, hinter die sie niemanden so leicht kommen ließ. Sie buck berühmte Kuchen, und in welchen scheinbar unvertilgbaren Massen! Rats hatten so manche Kiste, vollgepackt mit verlockenden Dingen, zu allerlei Festen und zur Kirmeß von der Frau Pate, wie die Gutsbesitzerin in der Wünschengasse benannt wurde, geschickt bekommen.

Und das Bild der Frau Pate stand Marie und Röse vor der Seele, stets umgeben von den verlockendsten Produkten ländlicher Koch- und Gartenbaukunst.

Während des Abendessens war man äußerst heiter, der Abendglanz des sonnigen Tages, den die junge Gesellschaft in aller Muße im Freien zugebracht hatte, in sorglosem Behagen, lag noch über den Gesichtern ausgebreitet, und die Stimmung aller schien wie von klarer Sommersonne durchdrungen.

Nachdem sie allen Herrlichkeiten gründlich zugesprochen, spielten sie in der großen Laube vor dem Hause Pfänderspiele; zwei junge Leute, die auf dem Sperberschen Gute ihre Lehrjahre durchmachten, fanden sich noch zu den übrigen, und mitten unter der ausgelassenen Jugend vergnügte sich das Gutsbesitzerpaar auf das beste.