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Ratsmädelgeschichten

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Concordia deckte den Tisch und setzte hübsche, bunte Tassen darauf, die große Kaffeekanne und ein Stück selbstgebackenen Kuchen.

„Das ist zum Schulanfang,“ sagte sie.

Daß es so zugehen könne, hatten die beiden armen Sünderlein sich nicht vorgestellt. Dann nahm Concordia noch ein Glas mit drei frischen Rosen, das im Fenster stand, und setzte es neben den Kuchen auf das weiße Tuch.

Den Mädchen wurde es ganz feierlich zu Mute.

Alle nahmen ihre Stühle, auch Budang, und setzten sich um den Tisch. Als die Jungfer eben eingießen wollte, da fiel eine von den drei Rosen aus. Sie hatte daran gestoßen, und die schönen rosa Blättchen lagen auf dem weißen Linnen. Die Jungfer nahm ein paar davon und streute sie in Rösens und Mariens Tassen, that ein Stückchen Zucker dazu, goß Milch darauf und sagte: „Das ist etwas sehr Gutes, dergleichen bekommt man nicht alle Tage. Nehmt Ihr auch ein Tröpfchen Kaffee dazu?“ Da nickten die beiden, und es gefiel ihnen trotz der Verlegenheit, in der sie sich befanden, außerordentlich.

Als Budang sah, daß seine liebe Tante Concordia so sehr freundlich mit den Mädchen war, stimmte ihn das gegen die Rangen auch milder, und er rückte ihnen die Kuchenschüssel hin. Da sahen sie ihn bedenklich an und wurden rot. Sie trauten ihm nicht recht. Die Jungfer aber, der diese Feier unversehens zu groß geworden war, sagte: „Eure Lehrer sollen ja recht unzufrieden mit Euch sein. Die Jungfer Veit sagte mir, daß ihr die Schule schwänzt und am faulsten von allen seid – ? Ist das wahr?“

Da nickte Marie, und der gute Bissen blieb ihr im Munde stecken. „Nun, ich will Euch einmal etwas sagen,“ begann die Jungfer nach einer Weile und hatte eine Stimme, so hell, wie ein Glöckchen, „das geht nicht mehr, daß Ihr so faul seid; denn sehr bald werdet Ihr ganz große Mädchen. Zeigt doch dem Heinrich manchmal Eure Arbeiten; der weiß, ob sie schlecht sind oder gut. – Nicht, Heinrich?“ wendete sie sich an ihn. „Das thätest Du? Du siehst den beiden ihre Sachen manchmal nach?“ Da fühlte Heinrich sich geehrt und sagte: „Ja!“, machte aber eine kühle und gleichgültige Miene dazu.

Nun saßen sie mit der Lehrmeisterin über der Arbeit, und Budang war hinausgegangen, und sie hatten allerlei verfängliche Fragen betreffs des französischen Unterrichts, den sie bei der Jungfer beginnen sollten, zu bestehen. Als die Stunde zu Ende war und sie die Treppe hinuntergingen, da rief ihnen die Jungfer Concordia nach: „Geht nur, und laßt Euch von Heinrich sein Marmottchen zeigen; er wartet unten im Eselstalle.“

Richtig, da stand Budang und sagte ziemlich mürrisch: „Kommt nur herein, da ist etwas!“ Schüchtern folgten ihm die Mädchen. Das war eine Herrlichkeit in dem Eselstalle. Sechs Esel und ein kleines Eselchen mit einem lockigen, dicken Kopf, das ihnen über alle Maßen verrückt und fidel entgegensprang. – Was war doch der Budang für ein glücklicher Junge!

„Da seht die Esel,“ sagte er etwas spitzig und sah die Mädchen leicht spöttisch von der Seite an.

„Budang,“ begann Röse und nahm sich zusammen, „wir waren’s.“

Budang antwortete nichts. Das war den Ratsmädchen eigentlich sehr rätselhaft und etwas unheimlich. Aber er zeigte ihnen einen lebenden Hamster, den er im Eselstall in einer Kiste hatte und den er das „Marmottchen“ nannte und sagte ihnen, das sei ein französischer Name und hieße auf deutsch das „Murmeltier“. Er ließ sich das Hamsterchen in den Ärmel kriechen, aber er erlaubte nicht, daß Marie und Röse das Tier anfaßten, und alle drei machten im Eselstalle miteinander ab, daß Röse und Marie den nächsten Aufsatz mit Budang zusammen arbeiten wollten und bestimmten die Stunde dazu. Und wirklich half ihnen Budang so treulich dabei, daß Röse, die nebenbei gesagt, eine miserable Schrift hatte, vom Lehrer darunter gesetzt bekam: „Gut gedacht, aber schlecht geschrieben.“ Das war ihr nicht ganz angenehm, denn sie mußte Budang die Unterschrift zeigen. Budang lachte aber darüber.

So saßen die dreie, des Müllers Heinrich und die Ratsmädchen, wie es sich gerade traf, oben bei Rats im Dachstübchen, oder in der großen Stube bei der Jungfer Loisette miteinander und arbeiteten. Das ging anders wie früher, wo den Mädchen die Schule und alles, was damit zusammenhing, ein rechtes Ärgernis war. Budang hatte eine außerordentliche Lust zum Arbeiten, es ging ihm leicht von der Hand, und es machte Rösen und Marien den Eindruck, als vergnüge er sich damit. Nie war er schlechter Laune dabei und immer eigentümlich liebenswürdig. Die Ratsmädchen waren über diese Erfahrung erstaunt und sahen in Budang eine Merkwürdigkeit, von der sie nicht recht wußten, was sie davon halten sollten.

Einmal, als die Mädchen mit Budang über dem Arbeiten saßen, betrachtete sich Röse den Freund, der sich mit seinem Lockenkopf über das Buch gebeugt hatte, ernsthaft und kaute an der Feder. Budang saß ihr gegenüber, da fuhr sie mit ihrem Finger leise in sein dickes, blondes Haar, so daß er mitten in seinem Eifer aufblickte. „Budang,“ sagte sie noch immer nachdenklich, „Du willst wohl so ein großes Tier werden, wie wir hier so viele haben?“ Damit meinte Röse, die sich mit Vorliebe schlecht auszudrücken pflegte, die weltberühmten Dichter, von denen ich im Anfang erzählt habe und die zu jener Zeit in der Stadt wohnten. Budang verstand sie, denn er war an derlei Redensarten von ihr gewöhnt und sagte ernsthaft: „Ja, wer das könnte! – So dumm zu fragen. Du fragst doch manchmal wirklich dumm. – Ich werde Arzt!“ fügte er hinzu; und er wurde es später auch. „So?“ sagten die Mädchen, und wieder einmal erschien ihnen der Freund in einem anderen Lichte und außerordentlich verständig, daß er schon mit aller Ernsthaftigkeit vorsorgte und über Dinge bestimmt hatte, die ihn heute und auch morgen noch nichts angingen.

Budang war den Mädchen ein guter Lehrmeister, denn da er kaum älter war, als sie, trat ihnen sein Ernst, seine Güte, sein heitrer Fleiß recht nahe, und es kam ihnen vor, als wenn sich diese Dinge gut mit ihren Jahren vertrügen, denn bis jetzt hatten sie gemeint, mit ernster Arbeit und was damit zusammenhängt, habe es bei ihnen noch völlig Zeit. Von Budang hatten sie, ohne daß sie es recht wußten, mehr gelernt, als ihr lebelang vorher, und sie waren jetzt bald daran, aus zwei wilden, faulen Nichtsnutzen ein paar allerliebste Mädchen zu werden.

So ging der Sommer hin.

Anfang August wurde in Weimar, wie wohl auch anderwärts, ein Volksfest gefeiert, das Schützenfest. Auf einer Wiese vor der Stadt da waren Schaubuden errichtet, und in jeder war etwas Merkwürdiges und Närrisches zu sehen. Schon wochenlang vorher hatten die Herrlichkeiten, die es zu betrachten geben würde, die Gedanken der Ratsmädchen beschäftigt. Als endlich der Tag herankam, da holten sie die frisch gewaschenen weißen Kleider aus dem Schrank, die Mutter half ihnen bei dem Anziehen, und statt ihrer schwarzen Lederschuhe setzte sie ihnen grüne nagelneue Stiefelchen auf den Tisch und flocht ihnen in die langen Zöpfe grüne seidene Bänder.

So aufgeputzt stolzierten sie miteinander über den Markt, zunächst der Gassenmühle zu, mit der sie sich längst ausgesöhnt hatten. Budang guckte schon zum Fenster heraus und rief ihnen entgegen: „Kommt rasch herauf zur Tante Concordia, rasch! – Und Ihr habt ja grüne Bänder und habt auch grüne Schuhe!“ Da lachten die beiden über das ganze Gesicht, denn sie wußten gar wohl, weshalb die gute Mutter sie mit dem schönen Schuhwerk überrascht hatte. Es war ihnen sehr wohl und fröhlich ums Herz, und sie sprangen die Treppe hinauf. Oben stand Concordia und hielt zwei Kränze in die Höhe, die waren prächtig voll gebunden aus schönen rosa Malven.

Da rief Röse auf den ersten Blick: „Die Malven hat der Budang stibitzt! Ich weiß auch, wo er sie her hat. Über Goethes Garten, da stehen welche.“

„Dummes Zeug!“ sagte Jungfer Concordia. – Aber ich glaube beinahe, es war etwas Wahres daran, denn der Budang guckte so schlau. – Die Jungfer führte sie vor den Spiegel und drückte ihnen die Kränze fest in die Stirne und sagte mit ihrer glockenhellen Stimme: „Ihr seid doch prächtige Mädel, Ihr Ratsmädchen, und nun macht, daß Ihr auf das Schützenfest kommt!“

Auf der Vogelwiese war ein Gedränge, es schnurrte, lärmte und schrie von allen Seiten und schon von weitem. Wie sie mit Budang die breite Allee hinaufgingen und noch nicht recht wußten, wo sie ihren Groschen anbringen sollten, da sahen sie zwei Männer kommen: der eine, klein und untersetzt, auf der Brust einen prächtigen Stern, der andere von mächtiger Gestalt, stattlich im langen blauen Gehrock. Und alles machte den Männern ehrerbietig Platz. Budang und die Ratsmädchen wußten gar wohl, wer ihnen da entgegenkam. Der kleine war Karl August, der gute und weise Fürst, Großherzog von Weimar; der andere Goethe, der Dichter. Budang zog die Mütze und sagte: „Da kommen sie!“

Und da waren sie auch schon ganz nahe, und die Mädchen standen und knixten, und Budang wußte nicht, was für ein Gesicht er machen sollte, als Karl August Röse und Marie an die Hand faßte und sagte: „Ei, da seid Ihr ja auch, Ihr Mädchens. Kommt einmal mit! Und Du kannst auch mitkommen!“ wendete er sich an Budang, dem das Blut zu Gesichte stieg. Am Wege unter den Bäumen stand die kleine, grüne Jagddroschke von Karl August, die jedermann kannte. Der Großherzog rief den Kutscher und ließ die Kinder sich hineinsetzen, hob selbst die zierliche Röse in den Wagen und nickte ihr zu. „Nun zu!“ rief er. „Nun fahr Er die Bälge einmal tüchtig in die Runde und schaffe Er sie wieder hierher!“ Ganz so sagte er und nichts anders. Jetzt fuhren die dreie in der berühmten Droschke über die Vogelwiese und waren gar zufrieden mit sich und aller Welt; und die Mädchen freuten sich, daß Budang mit ihnen war; denn sie hatten ihn lieb und wußten, daß er es gut mit ihnen meinte. Und alle dreie hielten sich an den Händen, so halb aus Freude und halb, weil es sie verlegen machte, mitten durch die vielen Leute zu fahren, und sie saßen geputzt nebeneinander, und die Sonne schien, und alle schauten ihnen nach. Das war ein herrlicher Tag.

 

Die dreie aber blieben in guter Freundschaft ihr lebelang und gedachten der glücklichen Jugend, als sie miteinander alt geworden waren.

Und das alles hat mir meine Großmutter erzählt, und da ist kein Wort hinzugesetzt. Sie hat das alles miterlebt, denn das Ratsmädel, die Röse, ist meine liebe, gute Großmama.

Zweite Geschichte
Es geschehen Dinge, über die man sich in unsern Tagen verwundern würde

Das war eine schöne, urwüchsige Zeit, in der man zu Weimar lebte. Von allen vier Windseiten ging Frische, die ganz Deutschland durchwehte, auch über das kleine Nest.

Es war kurze Zeit nach Beendigung des Freiheitskrieges, kurze Zeit nach des großen Napoleons Sturz, und die Befriedigung, etwas erreicht und errungen zu haben, lag wie eine gute, gesunde Luft, die jeder zu seinem Wohl, zur Stärkung seiner Menschenwürde und Kraft einatmen konnte, über den Landen ausgebreitet. Den Gemütern, die jahrelang unter Druck und Not gelitten, die um ihr Hab und Gut und ihre Sicherheit sich geängstigt hatten, war in dieser Zeit, von der ich rede, auch der Rausch des Befreitseins und der Begeisterung geschwunden und hatte sich in das Gefühl einer allgemeinen Genesung umgewandelt. Und welche Frische, welche Hoffnungskraft erhebt sich in einem Menschen, der nach langer Trübsal, nach schwerem Drucke gesundend aufatmet! und ein ganzes Volk, das zu Leben wieder erwacht, welcher Reichtum, welche Überfülle an Freude, an Heiterkeit, an Leichtsinn entfaltet sich da!

Der Ausdruck von Elend, von Aufruhr, der einstimmig aus den Völkern sich erhebt, ist die gewaltige Sprache, die das Menschengeschlecht mit dem Schicksale spricht. Kein Donner der Elemente ist so großartig drohend, wie die einige Stimme des murrenden und in Elend gesunkenen Volkes. Und kein Ausdruck der Freude ist so mächtig, so herzerquickend, wie das Aufleben des zu neuem Behagen erwachenden Volkes.

Kein Sonnentag gleicht der heiteren, lebendigen Ruhe, die nach Angst und Kampf über Dörfern und Städten liegt; das Unbedeutendste ist in solcher Zeit Träger und Verkünder einer großen Errungenschaft.

Jede frohe Scene zeigt uns das Gedeihen von Generationen, zeigt uns, daß die alte, bewährte, auf hohe Ziele deutende Kraft des Menschengeschlechts wieder siegreich durchgedrungen ist.

In der kleinen Stadt Weimar aber hatte diese Kraft gerade in den Jahren der Bedrängnis ihre höchste Offenbarung gegeben; ungestört von den tiefgreifenden Unruhen ihrer Nation lebten in den Mauern des Städtchens die hervorragenden Menschen, die durch ihr Leben und ihr Wirken verkündeten, daß die Sterblichen Schöpfermacht in sich tragen, daß sie dem, was wir göttlich nennen, verwandt sind.

Aber nicht jene Großen sind es, von denen ich erzählen will, sondern denen wende ich mich von neuem zu, die, während die Gewaltigen für Ewigkeit und Ruhm lebten, unscheinbar sich ihres unscheinbaren Daseins freuten; denen neige ich mich zu, die vergessen sind; denen, deren Lieblichkeit, Hoffen und Träumen wie Blütenregen niedersank, im Niederfallen schon vergehend. Die beiden „Ratsmädel“ sind es, die Röse und Marie, mit den dicken Zöpfen, die aus jener vergangenen Zeit wieder auftauchen sollen, die beiden schelmischen Kinder, die in den Kriegsunruhen aufgewachsen sind, die in ihrer Kindheit, in der Wünschengasse, vor ihrem Hause die Franzosen haben kampieren sehen, die mit dem Kosacken, der bei ihnen im Quartier lag, in seiner Kibitka über die guten deutschen Felder in Weimars Umgebung geflogen, gesaust und gerasselt sind, denen die Plünderung des Städtchens zu allerlei merkwürdigen Erlebnissen verhalf – die beiden Mädchen, die in der unruhigen, sorgenvollen Zeit eine überschwänglich lustige, freie Kindheit erlebt hatten, die das Glück genossen, weniger, als es in ruhigeren Jahren der Fall gewesen wäre, erzogen, beobachtet und gebildet worden zu sein.

Zu welch einer fröhlichen, gesegneten Generation gehörten die beiden Ratsmädel, die mit ihren Kameraden und Kameradinnen ein sorgenloses, unbedrücktes Leben führten!

In aller Harmlosigkeit schwänzten sie die Schule und trieben ihren Schabernack, wie wir wissen, mit Nachbarn und Nachbarinnen.

Wie bedrückt und unfrei erscheint die Jugend in unseren Tagen, der das Harmloseste als Vergehen, jeder Freiheitsdrang, der sie einmal von ihrem ehrbaren Wege ablenkt, als schwer strafbar gekennzeichnet wird.

O, du arme heutige Jugend! Ahntest du, welchen Reichtum „Jugend“ im Anfange jenes Jahrhunderts umschloß, welchen Überschwall von Leben! Du könntest dich bitter beklagen, gekränkt und betrogen würdest du dir erscheinen, von Anfang an gealtert, in Pflichten eingezwängt! Welchen trübseligen Eindruck würden deine kärglichen Freiheitsstunden dir geben, die man klug und berechnend wie eine Medizin, nach Überanstrengung dir zugemessen hat, wenn du vergleichen könntest! Wenn du wüßtest, was ich weiß!

Ja, ein unbefangenes, menschenfreundliches Auge findet, trotz aller weisen, sachgemäßen Widerlegung, daß es dir, o Jugend, übel in unseren Tagen ergeht!

Doch auf und nieder bewegen sich die Ereignisse auf Erden, und es kommt eine Zeit, wo die Jugend wieder aufatmen kann.

So ruhig und bedächtig geht es nicht fort, wie jetzt.

Aus Bewegung, aus Kampf, aus Besorgnis der Erwachsenen, der Alten, werden ihr wieder unbeaufsichtigte, berückende Freiheitsstunden erstehen, – aber wann?

Jetzt zu jener vergangenen Zeit, die den jungen Herzen von damals ihre Wünsche, ihre Rechte, ihr Streben nach Wundersamem, Bedeutungsvollem im reichsten Maße erfüllte.

Röse und Marie waren, wie wir aus dem ersten Teil ihrer Abenteuer und Erlebnisse erfahren haben, noch zur rechten Zeit in die Hände der Jungfer Concordia geraten und zu der Freundschaft von deren Neffen, des guten, vortrefflichen Budang, ehe alle Aussicht, daß sie etwas lernten und ein paar tüchtige Mädchen wurden, bei ihnen verloren war. Ihr Budang hatte ihnen treulich geholfen, daß sie mit Ach und Krach bis zu einer höheren Klasse ihrer Schule gekommen waren. Was für ein guter, prächtiger Junge war doch dieser Budang! Seit die beiden Mädchen ihn kennen gelernt hatten, schien für sie gesorgt.

Sie arbeiteten unter seiner Leitung, machten mit ihm und seinen Freunden Streifzüge in die Umgegend. Die Mutter unserer beiden, die Frau Rat, konnte ruhig ihre Rangen dem ihr als ausgezeichnet bekannten Neffen der Jungfer Concordia überlassen.

Sie hatte damals mit Bedacht Concordia als Lehrerin ihrer Kinder ausgewählt und freute sich, wie heimisch Röse und Marie in der Gassenmühle, in der, wie wir wissen, Concordia mit ihrem Bruder, dem Müller, und dessen Sohn Budang hauste, geworden waren.

Ich will jetzt wie folgt beginnen:

Im Winter wurde bei Rats eine einzige Stube geheizt. In der stand der Arbeitstisch des Vaters, in der saßen die Mutter, die Brüder und die beiden Ratsmädel. – Alle Geduld miteinander übend, alle auf den Vater Rücksicht nehmend, alle so still und besonnen wie möglich.

Die Ratskinder waren an diese bedachtsamen Winterstunden gewöhnt, die ihre starken Lebensgeister zu dem außerordentlichsten respektvollen Schweigen herabdrückten.

Die Brüder arbeiteten während dieser Zeit. Man hörte das Kritzeln der Federn von Vater und Söhnen. Die Mutter und die Mädchen waren mit Näharbeiten beschäftigt.

Ein Flüstern, von dem Marie und Röse einen ausgedehnten Gebrauch machten, war gestattet.

Die beiden hatten sich unausgesetzt zu erzählen, trotzdem sie alles und jedes miteinander erlebten, oder gerade deswegen. Sie hatten jede ihre verschiedenen Auffassungen von den mancherlei Dingen, die sie tagsüber aufstöberten; denn, gottlob, die würdigen Stunden im Familienzimmer währten nicht lange, der Vater hatte durch sein Bürgermeisteramt viel außer dem Hause zu thun, und eine feste Regel war, um fünf Uhr etwa wurde Schicht gemacht; da drehte er den Schlüssel an seiner Schreibtischklappe um.

Mit diesem Tone strömten die Lebensgeister zurück in die Gemüter.

Die Augen leuchteten, Röse und Marie legten ihre Näharbeit beiseite, brachten dem Vater übereifrig den Pelz und Hut, denn der Bürgermeister machte jetzt seinen ihm zuträglichen Gang um die Stadt, um dann mit seinem alten Freunde, dem Kupferstecher Müller im „Elephanten“ sein behagliches Stündchen zu verschmauchen.

Kaum aber war er zur Thür hinaus, so langten Röse oder Marie hinter den großen Ofen; da hatten sie einen Stock, an dem ein weißes Tuch wie ein Fähnlein befestigt war, den steckten sie zum Fenster hinaus. Das geschah Abend für Abend und mochte seinen guten Grund haben.

Denn nicht lange währte es, da hörten die lauschenden Mädchen von ferne einen munteren, rhythmischen Pfiff, so energisch, so lustig, so voller Leben.

Es war eine charaktervolle Art zu pfeifen und immer gleichbleibend, nie mit einem Tone von der gewohnten Art abweichend. Mit diesem Pfiffe kündigte sich Budang an, der treue Kamerad.

Vorsichtig und freundlich steckte Budang, wenn das Signal gegeben war, den blonden Ruschelkopf zur Thüre hinein, um sich erst zu überzeugen, ob das Feld auch rein sei, das heißt, ob der Herr Rat auch wirklich nicht mehr an seinem Arbeitstische sitze.

„Nun komm nur,“ rief ihm dann die Mutter entgegen, und die Mädchen standen schon bereit, ihn zu empfangen. Darauf machte Budang, ehe er noch eintrat, ein Zeichen nach der Treppe zu, und zwei seiner Kameraden, die auf einer der oberen Stufen auf seinen Wink lauerten, traten mit ihm ein.

Der eine war Franz Horny, ein bildschöner Junge von siebzehn Jahren. Er wohnte an der Ecke der Wünschengasse und war von jeher ein guter Freund der Ratsmädel gewesen, bei denen er auch in Achtung stand. Sie hielten beide viel von seiner Fertigkeit im Zeichnen, hatten darin auch nicht unrecht und bewiesen Geschmack; denn Franz Horny bildete sich in der Folge zu einem guten Künstler aus, der in Amalfi in bester Jugend starb. Sein Bild hängt sonderbarerweise dort in einer Kapelle und wird als Heiligtum verehrt. Es mag aus Zufall dahin gekommen sein oder durch irgend ein wunderliches Geschick.

Man erzählt sich, daß der schöne, liebenswürdige Künstler in dem Orte, in dem er gestorben, eine abgöttische Verehrung von der Bevölkerung erfahren habe. Er soll ein merkwürdiger und einnehmender Mensch gewesen sein, dessen Schönheit und Talent auffallend waren. Dies habe ich von Friedrich Preller, dem Maler der Odyssee und dem Jugendfreunde Hornys. Zu der Zeit, als er mit seinen Kameraden die Winterabende bei den Ratsmädchen sich vergnügte, war er ein träumerischer, sanfter Junge, der von allen gern gesehen wurde.

Der zweite Gefährte, den Budang mitbrachte, war Schillers jüngster Sohn Ernst, frisch im Aussehen und Wesen, der seine freie Zeit gar zu gern in Rats behaglichem Familienzimmer verbrachte. Das erste, nachdem die Begrüßung vorüber, war, daß Budang sich zu seinen Gefährten wendete, die sogleich mit den Mädchen in ein lustiges Plaudern kommen wollten, und sagte: „Erst müssen sie zeigen, daß sie mit ihren Arbeiten fertig geworden sind.“

Budang war seiner, von Jungfer Concordia erhaltenen Aufgabe, die Mädchen zu überwachen, treu geblieben. Röse und Marie mußten ihm ihre Arbeiten bringen. Sie thaten es auch, wie etwas, was sich von selbst versteht, mit allem Ernste.

Nun setzte er sich, nahm die Hefte vor, und war etwas nach seiner Meinung gar zu unmöglich geraten, so mußten sich die beiden Faulpelze daran machen und unter seiner und Ernst von Schillers Leitung die Sache noch einmal schreiben.

Unangenehm war es für alle Teile, wenn sie ihr Pensum, wie die Arbeiten der Ratsmädel gelehrt benannt wurden, schlecht gelernt hatten. Da gab es ein äußerst langweiliges Überhören ohne Ende, ehe man an die beliebte Abendunterhaltung kam, und die Mädchen wurden von Budang hart angelassen. In einer Ecke mühte sich Ernst von Schiller, abwechselnd mit Budang, an Röse ab, die das Auswendiglernen so schwer zu stande brachte, daß es ein Skandal war, wie Röses Freunde sich über diesen Mangel ausdrückten.

Für Marie, deren Gedächtnis vorteilhafter ausgestattet sein mochte, genügte einfache Hilfe. Sie war ein für allemal Franz Horny zugewiesen, der sich seinem Amte mit Geduld und Bewunderung für das schöne Geschöpf unterzog.

Die Ratsmädel glichen zwei Knospen von lebensvollster Frische und Kraft. An ihnen mochte nichts Angekränkeltes sein, nichts, was nicht ebenmäßig sich entfaltet hatte, und nichts, was nicht auf eine noch viel lieblichere Vollendung hindeutete. Sie schienen mehr, als man gewöhnlich unter jugendfrisch versteht. Sie waren urwüchsig, eigenartig und harmlos, wie es junge, von Menschen unbehelligte Tiere sind.

Und unbehelligt waren sie, von aller Welt gern gesehen, die Freude der Wünschengasse; wer blickte ihnen nicht nach, wenn sie mit ihren langen, schweren Zöpfen, die noch vor kurzem so manchem Gassenbuben um die Ohren gesaust waren, die Straße hinabgingen? Sie bildeten den Stolz der Untergebenen ihres Vaters, „die Ratsmädel“, denen man allen Respekt erzeigen mußte.

 

Ja, ihr Ruf war bis ins Schloß gedrungen, wie wir wissen. Überall aber fühlten sie sich gleich wohl, gleich sicher, ob auf den Gassen, ob im Schloß, ob unter den würdigen Bekannten ihres Vaters, oder unter ihren guten Freunden und steckten bis über den Kopf in Wohlbehagen. Die urgesunden Geschöpfe! Wer aber hatte auch solche Freunde, wie unsere beiden?

Hatten sie die unumgängliche Überhörungsstunde, den Anfang der schönen Winterabende, hinter sich, und blickten Budangs Augen unter den dicken, blonden Locken nicht mehr so strenge auf Beantwortung seiner Fragen dringend, die den beiden oft sauer genug wurde, dann begannen die behaglichen, unvergeßlichen Stunden. Was aber thaten, was unternahmen sie an solch einem Abend? Sie spielten Lotto. Sie saßen eng aneinander gedrängt, die Mutter, die Brüder, die Mädchen, die Freunde und spielten Lotto um Pfeffernüsse vom Konditor Ortelli, den die Franzosen damals ausgeplündert hatten; aber mit welchem Eifer wurde gespielt, mit welchem Feuer! und wie wurde gelacht! Worüber sie wohl lachten? Über unschuldige Scherze, über eine Anekdote aus dem Leben der drei braven Jungen, über einen Ausspruch Rösens, die groß war in trocknen, vielsagenden Bemerkungen; darüber, daß Budang eine Locke über das Auge gefallen war, und er gerade durch den Ringel blickte. Dergleichen konnte Röse und Marie außer Rand und Band vor Lachen bringen, so daß die Mutter sie manchmal ermahnte, ja, sie aus dem Zimmer steckte, damit sie sich draußen in der Dunkelheit und Kälte einmal erst wieder auf sich selbst besinnen sollten. Sie kamen dann jedesmal in unverminderter Heiterkeit wieder herein und immer mit einer guten Idee, die ihnen wahrscheinlich bei der Abkühlung gekommen war.

Sie schlugen eine Verkleidung vor, einen Tanz. Sie kamen mit der Bitte zurück, die Freunde und Brüder sollten sie im Stuhlschlitten fahren.

Durch solch einen lebensvollen Vorschlag entstanden die schönsten Stunden. Er schien so ganz aus dem Herzen zu kommen, aus dem innersten Verlangen heraus, und wie er von Herzen kam, so ging er zu Herzen, so wurde er ausgeführt, so wurde er auch von der Mutter gestattet, die eine liebevolle Frau war und wohl wissen mochte, wie göttlich, wie unwiederbringlich, wie leichthinschwindend die Jugend ist.

So haben die Ratsmädel herrliche Winterfahrten gemacht, bei Sonnenuntergang, bei Mondschein; jede in einem Stuhlschlitten, Bruder und Freunde hinter sich, die sie in Windeseile durch die Straßen der Stadt fuhren. So zog das leichte, lustige, vergängliche Gesindel auch an dem Hause vorüber, in dem der lebte, der für die Ewigkeit schuf.

Sie fuhren über die hellen Lichtscheine, die aus den Fenstern Goethes auf den Schnee fielen, und dachten sich nichts dabei, wußten wohl kaum, daß sie vorübergefahren.

Was kümmerten sich unsere Ratsmädchen um „die großen Leute“ in Weimar. Mochten die thun und schreiben, was sie wollten, die Ratsmädchen hätten nie und nimmer mit ihnen tauschen mögen! So im Schlitten sitzen, von lieben Freunden geschoben zu werden, daß es ist, als sprühten Funken, und hinaus in den Mondenschein, unter bereiften Bäumen, auf glatter Schneebahn hinzufliegen, das ist Seligkeit, das ist Glück!

Und welche Streiche spielten sie, über die man jetzt Ach und Weh schreien würde, steckten Budang in Mädchenkleider und gingen mit ihm spazieren. Weshalb sie das thaten? Gott weiß es! Sie wußten es jedenfalls selbst nicht, thaten es grundlos, vergnügten sich herrlich, hatten alle dreie das Bewußtsein eines wunderbaren Geheimnisses, wollten sich über jeden, der ihnen begegnete, totlachen, brachten harmlose Spaziergänger durch ihr Gelächter in Verlegenheit, kauften sich bei Ortelli Kuchen, den sie, nachdem Budang zu Hause sich wieder ausgeschält hatte bei einem Täßchen Kaffee, das ihnen warm gestellt worden, verzehrten, im süßen Bewußtsein, eine Heldenthat ausgeführt zu haben.

In einem alten weimarischen Hause hatten sie zu jeder Zeit Zutritt, konnten dahin mitbringen, wen sie mitbringen wollten, und blieben immer willkommen, das war die Apotheke am Markte.

Der Apotheker stand mit Rats in Verwandtschaft. Er war ein gelehrter Herr, mit dem Titel Professor, und zu der weimarischen Apotheke durch seine Heirat gekommen; die Frau war Witwe des früheren Apothekers und hatte ihrem zweiten Manne das blühende Geschäft zugebracht.

Zu diesen Leuten gingen die Mädchen mit Vorliebe. Die Vettern und Basen im Hause paßten zu ihnen, und sie konnten immer sicher sein, dort eine wohlgemute Gesellschaft zu treffen. Die Frau Professor hatte die Genugthuung, wegen ihrer Kochkunst in der ganzen Bekanntschaft berühmt zu sein; so gab es auch für die beiden Schleckermäuler, die zu Gaste kamen, immer etwas Gutes zu schnabulieren, was ihnen zu jeder Zeit gelegen war; denn bei Rats ging es nicht hoch her.

Und was war diese Apotheke für ein sonderbares Haus! Ein alter, reichverzierter Erker schmückte es, den ein steinernes, verzwicktes Weiblein auf seinem Nacken zu tragen schien. Das alte Weib war unsern beiden von jeher rätselhaft und unheimlich erschienen. Ein langgestrecktes Gewölbe diente zum Apothekerladen. Dies Gewölbe war außerordentlich finster. Nur soweit die niedere Glasthür und das einzige Fenster Licht einließen, machte es einen behaglichen, wohlthuenden Eindruck; nur so weit schienen die verschiedentlichen Düfte, die aus ungezählten Büchsen und Büchschen, aus unendlichen Schiebkästen aufstiegen, angenehm und zuträglich zu sein. Die Mädchen hielten es für ausnehmend gesund, in der Apotheke tief Atem zu holen; und wenn einem der Apothekerkinder etwas fehlte, setzte es sich hinunter zu den Gehilfen und atmete fleißig.

Auch Röse und Marie hatten schon öfters solch eine Kur sich vorgeschrieben; aber sie hielten sich nur da auf, soweit das Tageslicht, unverfälscht durch Dämmerung, die sich weiter nach hinten in dem Raume ausbreitete, eindrang.

Das Gewölbe war an seinem letzten Ende fast dunkel. Bei dem Scheine eines Lämpchens hantierte dort ein widerwärtiger Gehilfe, vor dem Röse und Marie ebenso wie ihre Vettern und Basen eine außerordentliche Scheu hegten.

Aus seiner finstern Ecke drangen scharfe Gerüche, die durchaus nicht heilkräftig sein mochten. Der Gehilfe rieb, stieß im Mörser und rührte in mächtigen, weißen Schalen, die aus der Dämmerung gespenstisch herausleuchteten. Um diesen ältlichen Gesellen, der einen gar sonderbaren Blick hatte, spannen sich allerlei Sagen und Gerüchte. Man erzählte sich, daß dieser unheimliche Bursche in seinem kleinen, wackeligen Schreibpult, das im Gewölbe stand, ein Buch bewahre, in dem er den Sterbetag so manchen guten Weimaraners vierzehn Tage, bevor derselbe einträte, sich notiere, wie man sich seine Hemden auf den Wäschezettel aufschreibt.

Dies Verfahren des Gesellen hatte ihn mit einem furchterregenden Nimbus umgeben.

Unter den weimarischen Leuten würde sich ein jeder geweigert haben, das Medizinfläschchen oder Pulver, das er abzuholen kam, aus der Hand des fatalen Gehilfen in Empfang zu nehmen, denn man sagte, daß er es, ehe man hinter seine Schliche gekommen sei, mit einem unheilbringenden Lächeln überreicht habe. Was an dem Treiben des Gehilfen wahr sein mochte, hat wohl schwerlich jemand erfahren; denn ich weiß nicht, ob das Buch der dem Tode geweihten Weimaraner, das in der Apotheke geführt wurde, je zum Vorschein gekommen ist.