Za darmo

Ratsmädel- und Altweimarische Geschichten

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Wenn ich eins aufschlug, so klopfte mir das Herz; es sah so unbeschreiblich kraus aus, und die rote Tinte herrschte in erschreckender Weise vor.

Einmal begab es sich, daß die ganze Klasse nachsitzen mußte, und der Lehrer sagte zu mir: »Hör' einmal, ich kann dir's nicht erlassen, du mußt mit dableiben.« Ich beschwor ihn, ich bat ihn, ich küßte seine Hand.

Er sagte aber: »Sei verständig, ich kann nicht anders.« Und so blieb es.

Jede Hoffnung im Leben schien mir zu Ende, ich fühlte mich zerbrochen, fühlte mich nicht fähig, diese Schmach zu tragen, so tausendfach ich sie verdient hatte. Als ich nach Haus kam, stand meine Mutter an der Treppe und reichte mir einen Teller mit Himbeeren entgegen. Sie hatte mich kommen sehen.

Ich konnte nicht gestehen, es war mir unmöglich – ich zitterte; ich hatte noch nie gelogen, noch nie etwas verschwiegen; – aber es ging nicht, ich brachte mein Unglück nicht über die Lippen. Die Güte meiner Mutter rührte mich unbeschreiblich – und ich nahm die Himbeeren, mit denen sie mich so freundlich überraschte, und da ich sie genommen und verzehrt hatte, konnte ich nun erst recht nicht beichten. Ja, hätte ich den Mut vor den Beeren gehabt, aber jetzt, nachdem ich das Gute genossen – das erschien mir abscheulich, trotzdem alles in Angst und Verwirrung geschehen war, ohne daß ich recht wußte wie.

Ich beschloß also, so unmöglich es mir vorkam, die schlimmen Angelegenheiten für immer zu verschweigen.

Das wurde mir bitterschwer, ich litt Tag und Nacht darunter. Ich grämte mich – aber ich konnte nicht reden – ich wurde kränklich – krank und bekam nach einiger Zeit ein Nervenfieber.

Bevor die Krankheit bei mir ausbrach, hatte ich einen Eindruck, der sie beschleunigte und vielleicht herbeiführte. Ich sah einen kleinen Holzschnitt; durch Zufall kam er in meine Hände. Auf diesem Holzschnitt war der Tod als Gerippe abgebildet, wie er durch ein Krankenzimmer schritt. Niemand bemerkte ihn, nur ein kleiner Wachtelhund bellte ihn an.

Dies Bild entsetzte mich so, daß mir die Sinne schwanden; ich fiel bewußtlos zusammen.

Es war niemand zugegen, als mir dies geschah – und niemand, als ich wieder zu mir kam; ich konnte mich vor Grauen, Furcht und Schwäche nicht erheben. Das schreckliche Bild war wie eingebrannt in meine Seele.

Ich fürchtete mich, konnte mich nicht regen und bewegen. Die ganze Welt erschien mir unheimlich und entsetzlich.

Wenn es so etwas Fürchterliches gab, wie konnte man da leben? Wie konnten die Leute noch lachen?

Ich hatte vom Tod gehört und mir wenig dabei gedacht. – Nun aber hatte ich ihn gesehen.

Mein ganzes Gemüt war in Trauer und Verzweiflung verwandelt.

Und wieder mußte ich schweigen – ich konnte nicht reden, fürchtete mich, etwas so Entsetzliches auszusprechen. Mir war, als müßte dann die abscheuliche Gestalt sogleich ins Zimmer treten.

So hatte mein armes Herz viel zu tragen.

Mein Schuldbewußtsein drückte mich noch immer nieder, und das Geheimnis, daß ich nun wußte, wer und was der Tod ist, vernichtete mich fast.

Von meinem Kranksein ist mir keine Erinnerung geblieben, nur weiß ich, daß, als ich wieder aufgestanden war und nicht mehr gehen konnte, ich mich darüber verwunderte und erfuhr, ich wäre sehr krank gewesen.

In die Schule bin ich nie wieder gegangen und ich bekam bei einem guten, freundlichen Manne Unterricht mit noch einem Mädchen. Unser Lehrer hieß Herr Bräunlich.

Ich hatte sein Gesicht gern und seine Stimme. Er war ein behaglicher Mensch, verstand es sogar, uns die Rechenexempel in Form kleiner, netter Geschichten vorzuführen; aber immer noch schlief mein Lerneifer und war auf keine Weise zu erwecken; auch fehlte mir jeder Ehrgeiz.

Nach und nach nahmen mehrere Mädchen an unsern Stunden teil, vortreffliche Schülerinnen, klug und weise. Ich blieb mit aller Gemütsruhe hinter ihnen zurück. Weshalb sollte ich es ihnen gleichthun? Ich sah den Zweck nicht ein.

Herr Bräunlich war mit mir sehr freundlich und nachsichtig. Die Mädchen wußten gar nicht, wie sie ihren Eifer am glänzendsten beweisen sollten. Wir hatten frei, uns die Gedichte, die deklamiert wurden, selbst zu wählen. Da überboten sich die Vortrefflichen in ellenlangen Balladen. Kein Gedicht war ihnen weitläufig genug. Schiller hatte wie für sie geschaffen – die Glocke, die Kraniche. Es konnte nichts lang genug sein.

Und ich liebte, es kurz zu machen, und wählte noch dazu traurige Lieder.

Die Mädchen sagten, dies geschähe aus Faulheit. Sie hatten nicht unrecht; aber es war noch etwas dabei. Ich liebte diese kurzen, traurigen Lieder. Seit ich das Bild vom Tode kannte und die schreckliche Gestalt so verzweiflungsvoll empfunden hatte, erschien mir das Leben nicht mehr harmlos und heiter. Ich liebte es nicht mehr, allein zu sein, ich fürchtete mich, wenn die Sonne unterging – die Träume brachten mir schlimme Erscheinungen – und das Bild des Todes stand unverwischbar in meiner Seele; das geschriebene oder gedruckte Wort »Tod« konnte mich zum Erzittern bringen.

»Armer, kleiner Narr,« sagte Herr Bräunlich, als ich wieder einmal ein recht trübseliges kurzes Gedicht glücklich gefunden und leidlich gelernt hatte.

Ich führte ein freies Leben – täglich nur eine Unterrichtsstunde und diese wurde zur Sommerszeit im Garten gehalten. Herr Bräunlich verschmähte es nicht, als wir zur Heuzeit ihm einen großen Haufen Heu aufgestapelt hatten, auf diesem Platz zu nehmen und so seinen Unterricht zu erteilen.

Vor und nach jeder Stunde führten wir grauenhafte Zigeuner- und Rittergeschichten aus, hatten dazu in einem Kasten das tollste Zeug zusammengetragen, Schnurrbärte, Säbel, Decken, Mützen mit wallenden Hahnenfedern; wir besaßen prächtige Dinge. Wie in den Unterrichtsstunden, spielte ich auch bei den Spielen eine sehr untergeordnete Rolle. Gewöhnlich vergaßen meine Kameradinnen mich, und es hieß schließlich: sie kann die Kammerjungfer der Prinzessin sein, oder der Hund, oder das Bauernmädchen. Ich war es zufrieden und strebte nicht nach Höherem. Ich wußte auch, ich taugte zu nichts.

Die Aelteste und Vortrefflichste korrigierte meine Arbeiten, bevor der Lehrer sie in die Hand bekam, so war ich ihr dankbar und machte keine weiteren Ansprüche.

Unsre Spiele vergnügten mich außerordentlich, aber im Eifer drängte sich die Kammerjungfer oder der Hund vor, und that sich wichtig.

Im übrigen waren mir die Mädchen zu erhaben, zu vortrefflich, als daß ich mich ihnen hätte anschließen können. Sie kamen mir mehr oder weniger selbst wie Schulmeister vor, und ich wurde nie ein Angstgefühl vor ihnen los.

Die Gassenbuben und Gassenmädel vor unserm Hause machten mir einen vertrauenerweckenderen Eindruck und waren auch samt und sonders meine Freunde, mit denen ich mich bis zum Dunkelwerden vergnügte, winters und sommers. Schlittenfahren, Schneeballen, Lauscheck, schwarzer Mann, Verstecken, Schreien, Laufen, in Angst und Eile vor den Verfolgern um die Häuser huschen, das war etwas! Und wenn mich ein Mädel mit zu ihrer Mutter nahm und ich im niedern Stübchen mit den guten Leuten zu Abend essen durfte, wie behagte mir das, wie war das heimlich, so klein und warm!

Die glückliche Zeit, in der Herr Bräunlich uns nachsichtig lehrte, war zu Ende. Es sollte jetzt ein Vornehmer, ein Würdiger kommen, einer, der uns in die höheren Wissenschaften einzuführen hatte.

Wer aber hätte mir wohl den guten Herrn Bräunlich ersetzen können, der in mein Censurenbuch jedesmal zu Weihnachten schrieb: Helene war gut; aber gar nicht fleißig, hat auch wenig aufgemerkt, aber da sie brav ist und im Betragen eine 1 erhielt, und zwar die 1 mit dem Stern, denke ich, der heilige Christ soll ihr so viel bescheren wie den Schwestern und ihr die schlechten Fortschritte nicht nachtragen.

Mit solchem freundlichen Begleitschreiben versah Herr Bräunlich meine schlechten Censuren zu Weihnachten Jahr für Jahr, wenn ich sie meinem guten Vater vorzeigen mußte.

Aber auch Herr Bräunlich fühlte einmal das Bedürfnis, mich exemplarisch zu strafen.

Wir hatten den Unterricht zum Teil im Hause Friedrich Prellers, und zwar wie immer gegen Abend; es war zur Winterszeit, also schon völlig dunkel.

Ich liebte diese Stunden zur Abendzeit, sie hatten etwas Anheimelndes – und ich glückseliges Geschöpf besaß eine kleine Laterne und eine große Anzahl Wachslichter.

Und mit dieser Laterne machte ich mich überaus gern auf den Weg. Ich zündete sie schon in der allerersten Dämmerung an, und es war mir wenig störend, wenn die Leute mir nachblickten und die Gassenjungen lachten. Ich fühlte mich glücklich, mein eigenes Licht zu haben, und außerdem war mir's ein behagliches Gefühl, daß keine Dunkelheit mich überraschen konnte.

Meine liebe Mutter hatte diese Laterne und die Kerzen, die sie immer erneuerte, mir geschenkt.

Sie wußte, daß ihre Tochter ein großer Furchthase war. Ich hatte es ihr vertraut, daß die Dunkelheit mir das Schrecklichste auf der Welt sei. Da hat sie mich ausgelacht; aber tags darauf hatte ich mein Laternchen.

So kam ich funkelnd wie ein Glühwurm zur Unterrichtsstunde.

Mein Herr Bräunlich war schlecht aufgelegt, und am Ende der Stunde sagte er mit einem Mal feierlich zu mir gewendet: »Für deine jahrelange Faulheit und Unaufmerksamkeit muß einmal eine Strafe kommen. Du gehst heute abend mit mir und bleibst, bis ich dich nach Hause bringe. – Während der Zeit schreibst du an mich, wie auch an deinen Vater einen Zettel, auf dem du versprichst, dich zu bessern.« Das traf mich wieder wie ein Donnerschlag bis ins innerste Herz; aber ich verhielt mich vollkommen ruhig. Ich wollte den Mädchen nicht die Freude machen, daß sie mich unglücklich sähen.

Als wir beide, Herr Bräunlich und ich, uns auf den Weg machten, blieben die andern zurück. Ich zündete stumpf und verzweifelt mein Laternchen an.

Da hörte ich die Mädchen lachen und trat mit dem Fuß auf und murmelte: »Diese Dummhüte.«

 

»Was hast du denn?« sagte Herr Bräunlich.

»Die da drinnen lachen mich aus!« sagte ich.

»Nein, das thun sie nicht,« antwortete er, »es sind ganz gute Mädchen.«

»Die sind nicht gut,« sagte ich. »Ich weiß, daß sie mich auslachen!«

Wir hatten den Unterricht, wie ich schon sagte, im Hause Friedrich Prellers gehabt, des Malers der Odyssee. Und ehe wir noch aus der Thüre waren, kam er selbst, seine schwarzseidene gewirkte Kappe tief in die Stirn gezogen.

»Na Lenchen,« sagte er, »wo geht's denn hin?« Sein altes bedeutende Gesicht konnte vor Güte und Freundlichkeit strahlen.

»Ich nehme sie mit mir, sie muß einmal eine Strafe bei mir absitzen, Herr Professor!« sagte Herr Bräunlich würdevoll.

»Ja, in drei Teufels Namen!« – der alte Preller liebte solche kräftige Ausdrücke – »Lenchen, was ist dir denn eingefallen? Ja, es mag ein schweres Stück sein, mit solchen Mädels fertig zu werden. Machen Sie's nur gnädig, das Lenchen ist kein böses Mädchen.«

»Nein, das ist sie nicht,« sagte Herr Bräunlich, »aber das Abscheuliche an ihr ist, daß sie nichts lernt, daß sie faul ist. Dabei ist sie nicht so arg dumm und könnte alles besser machen; aber sie rührt sich nicht.«

»Lenchen! Lenchen!« sagte der alte Preller. »Fleißig muß man sein. Was denkst du denn – gottlob, daß du kein Junge bist!«

Ich war tief beschämt – an dem alten herrlichen Preller hing mein ganzes Herz. Er war so gut mit mir. Ich hatte das große Glück, wenn er abends still seine wundervollen Studien und Skizzenbücher und Zeichnungen durchblätterte, hin und wieder neben ihm sitzen zu dürfen, um mitzuschauen, und that dies mit Leidenschaft und Andacht.

Und er wußte nun so genau, wie es um mich stand! Verzweifelt ging ich neben Herrn Bräunlich die dunkle Belvedere-Allee entlang. Mein Laternchen leuchtete mir und ihm.

Das Herz schlug mir angstvoll. Ich wußte, daß ich es nie zu Hause gestehen würde, was mich getroffen, und noch einmal solch eine Schmach verschweigen, ging auch nicht. Es war beides unmöglich. Beides wollte ich nicht. Also blieb nur ein drittes übrig. Das war einfach und überstieg meine Rechenkunst nicht. Es durfte nie bis dahin kommen, daß Herr Bräunlich mich mit zu sich hinaufnahm. Ich hatte ja Beine – und was für flinke. Gottlob! dachte ich.

Als wir durch die Marienstraße gingen, war mein Entschluß gefaßt, und als wir an den Alexanderplatz kamen mit seiner herrlichen Wiese und dem großen Taxusbusch darauf, da sah mein Herr und Meister mit einmal, wie das Laternchen Sprünge machte, und wie es von seiner Seite gehuscht war. Wir hatten Mondschein, und ich lief, was ich konnte, die Wiese entlang; hörte meinen Lehrer rufen, hörte ihn laufen – und schnaufen.

Ich kam unter dem Taxusbusch an, und wir liefen um denselben herum.

Herr Bräunlich schien seine Ehre dareingesetzt zu haben, mich zu fangen; aber das Laternchen war flinker, als er glaubte.

Ich drohte ihm, außer Atem, als er sich einmal bedenklich genähert hatte.

Ich drohte ihm, mit tiefem Grauen im eigenen Herzen, wenn er mir noch weiter nachrenne, würde ich auf den Friedhof laufen.

»Herr meines Himmels, machst du Geschichten!« rief er pustend. »Mach, was du willst – aber schlecht ist's von dir!«

»Nein, sagen Sie, daß es nicht schlecht ist!« rief ich von weitem und stand still, als ich sah, daß auch er still stand – »und sagen Sie's Papa nicht.«

»Gut,« antwortete Herr Bräunlich immer noch pustend, »es sei dir geschenkt, ich sag's auch nicht.«

»Aber daß es nicht schlecht von mir ist, müssen Sie mir auch noch sagen!«

»Gut,« rief er ungeduldig; »aber mach, daß du nach Hause kommst.«

Wer war glückseliger als ich! Mein Herz schlug leicht und zufrieden, es hatte sich alles vortrefflich gemacht, und ich ging stolz im Gefühl meines Sieges durch die Straßen.

Bei Gelegenheit frug mich der alte Preller, wie die Strafe abgelaufen sei, und ich erzählte ihm alles wahrheitsgetreu; da sagte er mir, daß ich es nicht übel gemacht habe. »Es ist immer gut,« meinte er, »wenn man sich zu helfen weiß.«

Auch Herr Bräunlich und ich, wir blieben gute Freunde.

Aber wie schon gesagt, Herr Bräunlich tauchte unter, ein andrer auf.

Von der ersten Stunde an wurde dieser »Neue«, der ganz unzweifelhaft ein vortrefflicher Lehrer war, mein Feind und wurde von mir gründlich und andauernd gehaßt. Er mochte in seiner Ehre gekränkt sein, daß man ihm, dem ausgezeichneten Manne, zugemutet, ein so dummes Mädchen wie mich zu unterrichten, und behandelte mich danach.

Jedes Wort, das er an mich verschwendete, war Mißachtung und Spott. Tiefer und tiefer sank ich in den Augen meiner Mitschülerinnen und erschien mir selbst wie ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft. Mir fiel in einer der ersten Stunden das Wort »glimpflich« auf, und ich erkundigte mich nach dessen Bedeutung, da fuhr der Neue, der ein behender Mensch war und seine Glieder zu schleudern verstand, auf mich ein und schrie: »Bisher hat man glimpflich mit Ihnen verkehrt – das hat aber jetzt bei mir ein Ende« – und es war zu Ende.

Ich lebte geängstigt und wahrhaft gehetzt; kam ich zum Unterricht, so hatte ich die Empfindung, als befände ich mich die Zeit über vor der Mündung einer geladenen Kanone, die jeden Augenblick losgehen konnte.

Jedes Geschöpf des Tierreichs, das mir auf meinem Weg zu dem gefürchteten Meister begegnete, sah ich mit neidischen Augen an. Die Verantwortung, Mensch zu sein, war mir sehr drückend. – Wie gern hätte ich mit so einem munteren Pferdchen getauscht, oder mit einem lustigen Hunde oder mit jeder Katze.

Wenn ich ins Haus eintrat, legte ich einen kleinen Stein in einen Winkel mit dem Gelöbnis: komme ich leidlich mit heiler Haut wieder heraus, so will ich dankbar den Stein mit mir nehmen und zum Angedenken aufbewahren. Doch legte ich mir eine ganz gewaltige Steinsammlung an, denn es mochte gewesen sein, wie es wollte, ich nahm den Stein aus Dankbarkeit, daß die Sache überhaupt zu Ende gegangen war, jedesmal mit mir.

So nahm ich nicht zu an Weisheit und Verstand, an Gnade bei Gott und den Menschen, sondern sank tiefer und tiefer in der Achtung aller derer, die über meine glänzenden Erfolge unterrichtet waren.

Das Unglück hatte es einmal gewollt, daß ich in der Angst und Verwirrung, in der ich mich vor dem Unterricht gewöhnlich befand, meinen ganzen Haufen trauriger Hefte bei einer unserm Haus befreundeten Familie hatte liegen lassen. Mit welchem Schreck bemerkte ich dies! Die Hefte, meine greulichen Hefte! – Wie mich das durchfuhr!

Wenn man nun einen Blick hineinthut! Und sie werden es thun. Das war mir ganz sicher.

Mit welchem Bangen machte ich mich auf den Weg, sie mir wieder zu holen, wie langsam schlich ich die Treppe hinauf, wie zaghaft zog ich die Schelle! – Und was stand mir bevor!

Sie hatten mich kommen sehen und öffneten mir selbst die Thüre, eine ganze Schar mir sehr würdig erscheinender Damen, Gott weiß, wer noch dabei war. Sie ließen mich nicht herein, sondern öffneten nur halb und reichten mir mit der Feuerzange meine Hefte einzeln heraus und riefen: »Bessere dich! Bessere dich!« und lachten, und die Hinteren stellten sich auf die Zehen, um über die Vorderen hinweg mich sehen und mir gute Lehren geben zu können. Ich war wie vernichtet, wütend zum Zerspringen; aber ich nahm die einzelnen Hefte von der Feuerzange ab, stumm und im Herzen zerrissen; schmachvoll erschien mir's, daß ich sie nahm. Als die Sache zu lange dauerte, riß mir die Geduld, und ich lief davon, und meine Peiniger kehrten mir mit dem Besen die übrigen Herrlichkeiten die Treppe hinab nach. Sie ahnten wohl nicht, was sie mir anthaten – fast sinnlos vor Verzweiflung, Wut und Schande, sammelte ich meine Habseligkeit ganz außer mir auf und lief bleich mit verweinten Augen nach Hause, zählte mein Geld nach, um mir neue Hefte zu kaufen und die alten zu verbrennen. Es reichte nicht; aber ich verbrannte sie dennoch.

In dieser Zeit kam es, daß der Gestrenge uns einen Aufsatz gab: Die Vorzüge des Menschen vor dem Tiere.

Dabei schien mir wenig Witz zu sein – und ich beschloß, das Gegenteil zu behandeln: die Vorzüge des Tieres vor dem Menschen. Das leuchtete mir weit mehr ein, und was hatte ich zu verlieren, ein Donnerwetter mehr oder weniger, darauf kam es mir nicht an.

Ich setzte mich daran und ließ mein Licht leuchten, machte meinem Herzen Luft und schrieb wahrhaft glückselig, stand vor lauter Wonne auf einem Bein während des Schreibens, pfiff und war der besten Dinge.

Noch nie hatte ich so viel in meinem Leben geschrieben, es kam mir immer Neues in die Finger. So war das Arbeiten ein Vergnügen. Ja, wenn es sich immer um Dinge handelte, bei denen man mit Leib und Seele dabei sein könnte! Aber dies langweilige Getreibe von Zahlen und Namen, Regeln und Ausnahmen, mit denen man Herz und Hirn beschweren mußte, da konnte man nicht verlangen, daß ein vernünftiges Geschöpf sich daran mitbeteiligen sollte!

Ich gab meinen feurig verfaßten Aufsatz ab mit aller Gemütsruhe und erhielt ihn zu seiner Zeit mit stummer Verachtung von dem Gestrengen zurück. Er durchbohrte mich mit majestätischen Blicken – sagte mir, daß sich derjenige, welcher diesen Aufsatz verfaßt habe, einen übeln Spaß mit mir erlaubt habe. Ich hätte beim Abschreiben nicht einmal bemerkt, daß das gestellte Thema verändert wurde – übrigens sei dieser Aufsatz vortrefflich, und er hätte ihn in seiner Ersten Klasse vorgelesen, habe dabei aber bemerkt, daß dies ein Aufsatz sei, den eine ungeschickte und faule Schülerin sich von fremder Hand habe arbeiten lassen, um damit einen Betrug auszuführen.

Ich erwiderte ruhig, daß diese Arbeit von mir sei, bekam aber wieder einen majestätisch verächtlichen Blick, der mir Schweigen gebot.

Und ich schwieg – ich war zufrieden, stolz und beglückt; was der Gestrenge von mir dachte, war mir vollkommen gleichgültig, er hatte sich bei mir durch Poltern und Ungerechtigkeit die Achtung verscherzt. Es kamen jetzt öfters Aufsätze, unter denen in Schriftzügen zu lesen war: Gut, aber nicht selbst verfaßt.

Alles Uebel aber hat sein Ende, so auch hier. –

Ich sollte konfirmiert werden, und da meine guten Eltern wohl meinten, daß mir ein religiöser Halt im Leben wohlthäte, sollte diese Zeit der Konfirmation mir besonders zu Herzen gehen.

Ich kam für den Sommer zu einem Pfarrer und Dichter.

Nachdem die mächtige Sehnsucht nach meinem reizenden Elternhaus und all der Wärme, Liebe und Güte, dem wundervoll »Heimischen« erträglich überwunden war, fand ich mich in einer wahrhaft beglückenden Umgebung. Alle waren unbeschreiblich gut mit mir. Die Frau Pastorin verwöhnte mich; sie war eine eigenartige, wie mir später bewußt wurde, eine Jean Paulsche Gestalt, zart im Empfinden, dem Uebersinnlichen zugeneigt, dem Humor zugänglich, lebhaft und schön.

Der Pfarrer war die Güte selbst, lebensprühend, dabei markig, kräftig und heiter.

Im Haushalt ging es frei und ländlich zu.

Der Religionsunterricht gestaltete sich vortrefflich, mein ganzes Herz ging mir auf. Denn der Ballast von alle dem Gelerne, Aufgesage fiel weg. – Mein Pastor plagte mich nicht mit Gesangbuchsliedern. Wir unterhielten uns, er hörte geduldig meine Fragen, meine Einwendungen, wir kamen auf dies und jenes zu sprechen. So kam es auch einmal, daß er aufstand, an den Bücherschrank ging und den Faust herausholte.

Noch nie hatte ich einen Blick hineingethan, und er begann zu lesen. Er las lebhaft und hinreißend.

Ich saß vor ihm, wahrhaft entrückt. Da öffnete sich die Thür, und die Frau Pastorin trat ein und blieb, als sie hörte, was hier vorging, mit offenem Munde in der Thür stehen.

»Ja, was fällt dir denn ein?« rief sie. »Du sollst ja Religionsstunde halten – das ist nicht recht von dir – das ist nichts für das Kind.«

»Nun, ich dächte, das könnte ihr nichts schaden,« sagte mein Pastor ganz kleinlaut, »stell' dir vor, dieses Mädchen kannte den Osterspaziergang noch nicht einmal!« rief er und schlug das Buch zu.

Die Frau Pastorin erklärte, daß sie dies für kein Unglück halte – »und du hast es nun ja auch nachgeholt,« sagte sie.

Noch denselben Nachmittag rief mich die Frau Pastorin und las mir, jedenfalls als Gegengewicht, aus einem Buche vor, das die Geschichte der Märtyrer poetisch behandelte. Zu diesen Vorlesungen fand sich eine alte nette Dame ein, und beide Frauen gaben sich den Schicksalen der Märtyrer mit außerordentlicher Begeisterung hin. Die Frau Pastorin saß manchmal wie verklärt da, und die alte Dame auch.

Die Dame fragte mich, ob dies nicht eine herrliche, gottbegnadete Zeit gewesen sei, und ob ich mir etwas Wundervolleres vorstellen könnte, als als Märtyrer zu leben und zu sterben.

Mir war es etwas beängstigt zu Mute, und ich wagte zu sagen, daß es jetzt doch wohl keine Märtyrer mehr gäbe.

 

»Leider, leider – nein!« rief die alte Dame schmerzlich aus.

Ich aber hatte ein tiefes Mitleid mit diesen guten Heiligen, dachte mir immer, wie schrecklich es sei, daß sie sich bis zu Tode quälen ließen mit der schönen Aussicht, dann in einen wundervollen Himmel zu kommen – und daß sie sich damit vielleicht gar verrechnet hätten – so etwas fürchtete ich sehr, sprach dies aber nicht aus, da die Empfindung in mir lebte, daß man dies für sich behalten müsse.

Ich hatte noch nicht das Ewige, das Unsterbliche in mir gespürt, dasjenige, was wert sei, nie unterzugehen, was andre Leute mit solcher Bestimmtheit in sich vermuten und wissen und mit aller Energie verteidigen. Ich dachte damals nie darüber nach. Wenn ich mich abends niederlegte, sagte ich zu mir: Ob ich nun eine Nacht schlafe und nichts von mir weiß, oder eine Ewigkeit, das bleibt sich gleich.

Damals schrieb ich auf ein Blättchen, das ich mir aufbewahrte: Einen Augenblick bewußtlos – eine Ewigkeit bewußtlos!

Ich habe dies dann später meiner kleinen, überspannten Käthe im »Herzenswahn« in den Mund gelegt – hatte aber meine Lust zum Grübeln mit diesem Worte beruhigt und war völlig zufriedengestellt.

Das hinderte mich aber durchaus nicht, Freude an meinem Religionsunterricht zu finden.

Ich war zu dieser Zeit sehr glücklich, lief abends mit Holzpantoffeln durchs Dorf, die Kinder im Haus, die Mädels in der Nachbarschaft waren mir willkommene Kameraden. Sonntags fuhr ich mit dem Pastor jedesmal früh auf die Filiale, kehrte mit ihm bei Schulmeisters ein und ging mit ihm zur kleinen Kirche. Er hatte dann beim Schulmeister seinen schwarzen Talar schon angezogen und sah sehr würdig und stattlich aus.

Dann saß ich in der kleinen moderigen Kirche und sah die Bauern kommen, indes die Schwalben zwitscherten und an den Fenstern vorüberhuschten. Dann hörte ich meinen Pastor predigen. Die Bauern bekamen manchen kräftigen Brocken von der Kanzel aus zugeworfen, an dem sie, im Fall sie ihn aufhoben, eine Weile kauen sollten.

Wenn wir wieder nach Hause kamen, gab es Schokolade.

Der Tag meiner Konfirmation war sehr feierlich, die Eltern, die Schwestern, mein Großmütterchen und unsre junge, reizende Erzieherin kamen alle von Weimar.

Ich trug zur Feier ein weißes Kleid, und die alte Dame, die für die Märtyrer schwärmte, hatte meine Haare gelockt und sie mit einer Rose zusammengesteckt, versicherte mir auch nach der heiligen Handlung – sie hätte sich mit aller Gewalt in die Hinrichtung ihrer Lieblingsheiligen versetzt, während ich am Altar gestanden hätte, sei es ihr so gewesen, als wäre ich diese Heilige, und die Ceremonie eine Hinrichtung.

Das kam mir sehr übertrieben vor.

Uebrigens gefiel mir meine Konfirmation außerordentlich, es war mir so geheimnisvoll und gehoben zu Mute. Es wurde niemand mit mir konfirmiert, das gefiel mir auch, und ich hatte den Tag über bei jeder Gelegenheit die denkbar besten Vorsätze gefaßt. Alle waren so unbeschreiblich gütig mit mir, und das stimmte mich sehr dankbar.

Freilich, daß man mir sagte, ich wäre jetzt eine erwachsene Person, das erschien mir wenig erfreulich und auch wenig wahrscheinlich, war mir übrigens auch gleichgültig, ich war, was ich war, und damit gut.

Der Pastor las am Abend Droste-Hülshoffs Gespenstergedichte vor, den Grauen und die Doppelgängerin. Bis ins innerste Herz war ich davon erschüttert, so daß ich die ganze Nacht mit den tollsten Phantasieen zu thun hatte und mich fürchtete, wie noch nie in meinem Leben.

Die Pastorin hatte mir meine ganze Stube zur Feier dieses Tages mit Blumen und Guirlanden wahrhaft ausgefüttert, wie ein grünes Nest.

Es war alles hier so schön und beglückend gewesen, daß ich schweren Herzens Abschied nahm. Die Pastorin wußte nicht, was sie mir noch Gutes anthun sollte, und steckte mir alle Taschen voll herrlicher Aepfel. Zwei davon brachte ich unter meinem Hut unter, und die rollten mir wieder hervor, als ich irgend jemand vom Wagen aus noch einen Abschiedskuß gab. Sie wurden mir wieder darunter gesteckt, und ich fuhr mit meinen Eltern davon.

Jetzt übergehe ich eine kleine Zeit; ich blieb nach wie vor Schulmädchen, hatte aber nur bei unsrer von mir sehr geliebten jungen Erzieherin Unterricht.

Ich besuchte das Theater hin und wieder, denn jetzt durfte ich von unsern abonnierten Plätzen Gebrauch machen, und so begab es sich, daß ich der Aufführung von Wagners »Tristan und Isolde« beiwohnte. Ich war überwältigt, hingerissen, betäubt, berauscht. – Die Gewalt in dieser Musik erfaßte mich völlig. Kurvenals Horn durchbebte meine ganze Seele, und ich glaubte hinsterben zu können in den gewaltigen Tönen der Erwartung, der Angst, des Zweifels. Wundervoll empfand ich zuletzt das Sichauflösen alles Leidens, alles Lebens.

Es war zu viel für mich gewesen, ich litt unter den mächtigen Eindrücken, war wie berauscht. Auf dem Heimweg erschien es mir unmöglich, jetzt das gewöhnliche Leben wieder zu beginnen. Es mußte etwas geschehen, etwas Außergewöhnliches – das Leben mußte sich anders gestalten, um mich und mein Empfinden wieder aufnehmen zu können. Aber wie, was sollte geschehen?

Ich stand vor unserm Hause im Dunkeln, voller Sehnsucht nach etwas, was die Wunder, die ich eben durchlebt hatte, und die Alltäglichkeit in Einklang bringen sollte, und ich dachte, daß ich zu meinem Pfarrer gehen wollte.

Als ich hinauf zu meiner Mutter kam, bat ich sie, mich schon den andern Morgen zu den guten Leuten reisen zu lassen. Sie erlaubte mir dies gern; ich teilte ihr auch den Grund meiner Reise mit, der sie einigermaßen zu wundern schien.

Am frühen Morgen fuhr ich glückselig ab. Ich war mit mir durch meinen Entschluß wieder ins Gleichgewicht gekommen.

Als ich im stillen Dörfchen ankam, empfingen sie mich überrascht und freundlich. Es war an einem Frühlingsnachmittag. Die Pastorin führte mich sogleich ins Wohnzimmer, ließ Kaffee kochen, und ich traf eine muntere Gesellschaft. Pastors hatten schon seit einigen Wochen drei junge Mädchen zum Besuch. So ging's lustig wie immer im Hause zu.

Als ich der Pastorin während des Kaffees mein Anliegen vorbrachte und sagte, daß ich gekommen sei, um am Sonntag das Abendmahl hier zu nehmen, sah sie mich kopfschüttelnd an und schwieg.

»Ja, aber so etwas schreibt man doch vorher,« begann sie würdevoll. »Was fällt dir denn ein? Weshalb bist du denn nicht heut' morgen gekommen, um wenigstens zur allgemeinen Beichte da zu sein? So kannst du das Abendmahl gar nicht nehmen. Was stellst du dir vor – ohne Beichte!«

Die gute Pastorin war in Eifer gekommen, und ich fühlte mich sehr beschämt, weshalb, wußte ich eigentlich nicht.

»Das geht gar nicht,« sagte sie wieder entschlossen, »was sollen denn die Leute denken? Da muß wegen dir Privatbeichte gehalten werden, und den Leuten muß gesagt werden, daß du privatim vorbereitet worden seist.«

Denselben Nachmittag noch rief mich der gute Pastor in sein Studierzimmer.

»Geh nur,« sagte meine gute Freundin, »und wenn du etwas auf dem Herzen hast, sag es ihm – und wenn es das größte Unrecht wäre, verschweigen darfst du's nicht. – Ich möcht' wohl wissen,« setzte sie gedankenvoll und etwas neugierig hinzu, »weshalb du jetzt gerade das Abendmahl nehmen willst?«

In des Pastors Zimmer brannte schon die Studierlampe, und er empfing mich ernst und wohlwollend und feierlich. Er fragte mich, ob ich irgend etwas auf dem Herzen hätte.

»Nein,« sagte ich.

Er fragte dieses und jenes mit sehr ernster Miene.

Ich sagte ihm aber, daß es mir sehr wohl ginge.

Er fragte mich, ob ich mit mir selbst zufrieden sei.

Ich sagte ihm, daß ich nie über mich selbst nachdächte.

Es kam nichts zu Tage, was ihn oder mich beunruhigt hätte, und da sich zu seiner großen Verwunderung durchaus nichts fand, so erteilte er mir nach den Worten der Bibel die Vergebung aller meiner Sünden. Da faßte ich seine beiden Hände, sah ihn an und sagte: »Ich habe ›Tristan und Isolde‹ gehört,« und ich sagte es wohl mit solch einem Ausdruck, daß auch er mir in die Augen sah.