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Ratsmädel- und Altweimarische Geschichten

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Das dritte Ratsmädel

Die Ratsmädel hatten noch eine Schwester; eine Schwester, die sie wunderbarerweise gar nicht kannten. Sie hatten schon als Kinder oft in der Dämmerung sich von ihr unterhalten, wenn der Schnee fiel, und sie daheim still in der Familienstube stecken mußten. – So eine unbekannte Schwester zu haben, draußen in der weiten, unbekannten Welt, war doch etwas höchst Merkwürdiges!

Sie hatten von jeher sehr gern von dieser Schwester gesprochen; es war ihnen dabei zu Mute gewesen, als erzählten sie sich Märchen.

Ja, und draußen mußte der Wind gehen und Schnee fallen! – Sie mußten in der Dämmerung sitzen, und niemand durfte sie beachten; dann kam die Schwester dran, und sie unterhielten sich darüber, wie diese wohl aussehen könne.

Sie war um fünf Jahre älter als Röse und war die Tochter aus des Vaters erster Ehe, und nach ihrer Mutter Tode von ihrer Großmutter mit nach München genommen worden. Als darauf Herr Rat zum zweitenmal heiratete, hatte die Großmutter ihre Enkelin ganz bei sich behalten.

Dann vergingen viele Jahre, und als die Schwester Barbara schreiben gelernt hatte, schrieb sie pflichtschuldigst aus dem fernen München alle Weihnachten an den Herrn Vater und die Frau Mutter nach Weimar.

Diesen Brief lasen die Ratsmädchen jedesmal mit wunderlichem Schauer.

Einmal schrieb auch die Großmutter.

»Hochverehrend liebenswertester Herr Sohn!

Ihr liebs Schreiben hat mich sehr glücklich gemacht, woraus ich sah, daß es Ihn und der Frau und den guten Kindern wohl und gut geht. Auch bei uns fehlt nix. Man wird ein alts Möbel, das heißt, um von mir zu reden. – Waberl wird groß. Sie tritt die Kindsschuh aus. – Kurios, was für ein ruhiges Mädel sie immer war. Grad als wenn meine geliebte Tochter in Gott sie für ihre alte Mutter in Voraussicht so geboren hätte.

Herr Sohn, ich hab' gar keine Not mit ihr g'habt, das müßt' ich lügen.

Hinter der großen Frauenkirche, da haben wir seit Jahresfrist jetzt unser Quartier.

So eine große Kirche habt ihr sicher nit in eurer Stadt.

Wabi sagt: ›Wie eine große, dunkle Wolke steht sie auf dem kleinen Platz und verfinstert die Häuser.‹

Sie wirft ihren Schatten auch über unser Haus. Aber es ißt doch gut wohnen. – Fünf Fenster in Front, drei Fenster die große Stub und zwei Fenster die Schlafstub, dazu Alkoven, ein kleines, schwarzes Küchl, Holzleg und Speicher. Kurz alles, was der Mensch braucht – und das Glockengeläute obendrein.

Das weckt uns schon um fünf Uhr des Morgens. Das ißt ein Geläut, Herr Sohn, wie zum jüngsten Gericht.

Mein Hausgeist ißt ein frommes Kind.

Herr Sohn mögen mir nit zürnen.

Die Großmutter meint, es wär' ein bisserl zu fromm geraten. Es thut's der Großmutter nit gleich an Lebenslust. Die Großmutter hält das Leben vor eine recht hübsche Sach und wäre dabei allerhand noch mitzunehmen, was sich bietet, wie ißt Kommödi und Aufzüg, wenn zu sehen sind, und ein Gang zu guten Freunden, und ein gut Obst und ein gut Bier. Gottes Gaben sind verschiedenerlei.

Waberl hingegen scheint zu meinen: ›Nur das Himmelreich ißt gut.‹

Herr Sohn mögen mir nit zürnen, ich hab' sie allweil aufgemuntert, aber genutzt hat's nix, sie ißt wie sie ißt. Und eine alte Frau weiß, daß an einem Menschen nit viel zu schiegen und zu richten ißt. Sie laufen einher, wie der Herr Gott sie in seiner Laune gemacht hat.

Aber der Herr Sohn verspricht mir, sowie ich alte Frau daß Zeitliche gesegnet habe, das Kind zu sich zu nehmen, damit es ihm nit in das Kloster eschappiert. Sie trägt das Bildnis der heiligen Jungfrau an einem Schnürl um den Hals, was bedeutet, daß sie besonders dem Schutz der heiligen Jungfrau anvertraut ißt.

Das ißt so eine Sach bei den Schwestern, von denen sie unterrichtet ißt. Sie ißt halt brav und fleißig gewesen, aber ich mein' schon, das Bildl un die Schwestern haben sie den weltlichen Dingen entrückt.

Um noch etwas Besunders zu erwähnen: Sie hat eine Gabe an sich, die mir wohl und auch nit wohl gefällt. Sie hat eine gesegnete Hand. Und das ißt so gekommen: Ein Kindel in unserm Haus hatte die Fraisen und war gottserbärmlich geplagt. Zufällig hat die Waben das Kindel in die Arme bekommen und hat's umhertragen un gestreichelt un die Fraisen sind weggewesen wie weggeblasen und wenn's wieder kommen sind, da haben die Leut in ihrer Angst nach der Waben geschickt – dann hat's sich rumgeredet und es sind welche kommen mit einem Mäderl, das den Rotlauf hatte, und Waberl hat's gestrichen und geliebkost, und auch das Mäderl ißt gesund worden.

Und wenn wir jetzt bei einand sitzen und spinnen oder Wäsche flicken, da klopft's hin und wieder an die Thür und es kommt eins herein mit Zahnschmerz oder hat die Gichter und will sich von der Waben kurieren lassen.

Nun in Gottes Namen! Es kann ja wohl nit von Uebel sein?

Aber das Mädchen, mei Waben thut mir halt leid, – wenn's so still und brav dahinlebt.

Ich hab's ›mein Hausgeist‹ benamst: Herr Sohn, ich hab' Ihm von Ihrem Kind geschrieben, damit Sie wissen, wie's in die Höh gewachsen ißt, – und damit Sie, wenn ich das Zeitliche gesegnet hab', sich beeilen, das Madel zu sich zu rufen.

Indessen wünschen wir unter dem trostreichen Gesang des freudenreichen Alleluia! Leben Sie wohl und seyn Sie von uns alle beyde herzlich gegrüßt, der Herr Sohn, die liebe Frau und die Kinder. Zugleich daß ich Zeitlebens verbleib'

dero
Großmutter.«

Dieser Brief war es hauptsächlich, der auf die Ratsmädchen wie ein Märchen wirkte.

Sie waren stolz darauf, in einem düstern Haus, das von einer Riesenkirche beschattet wurde, eine Schwester zu haben, die eine Mutter Gottes am Halse trug, eine katholische Schwester! Sie sprachen von dem fürchterlich lauten Geläut, von dem die Schwester geweckt wurde, und daß sie mit ihren Händen die Kinder heilte und Leute mit Zahnschmerzen.

Daß gerade ihnen so etwas Merkwürdiges begegnen mußte!

Einmal stand bei Rats eine katholische Magd im Dienst, der waren sie auf Schritt und Tritt nachgeschlichen, denn sie erwarteten immer etwas Merkwürdiges von ihr. Den Rosenkranz der Magd hatten sie befühlt, in ihr Gebetbuch geschaut, – und sie hatte ihnen einmal das »Heilig« vorgesungen, – etwas ganz Außerordentliches.

Das »Heilig« machte den Ratsmädeln tiefen Eindruck. – Häulig! – Häulig! – Häulig! kam es wie aus einem tiefen Keller herauf.

Heilig! Heilig! Heilig! Hell wie aus höchster Höhe.

Dann wieder: Häulig! Häulig! Häulig! aus dem tiefsten Keller – und so fort. So sang es die Magd ihnen vor, und sie selbst hatten es bei Spaziergängen oft zu singen versucht.

Auch von der Beichte war ihnen von der Magd erzählt worden.

Das war alles so unaussprechlich geheimnisvoll. Die Weimaraner zu jener Zeit hatten von »dem Katholischen« keine rechte Idee.

In Weimar gab es auch keine katholische Kirche, und die Magd mußte jährlich einmal nach Jena wandern zur großen Osterbeichte. Da kam sie ihnen vor, wie eine Person aus der biblischen Geschichte, so erhaben; und sie wären augenblicklich mit ihr gegangen, um zu beichten.

Sie beneideten sie.

Ihr eigener Gottesdienst kam ihnen, zu ihrer Schande sei's gesagt, dann ziemlich langweilig vor. Etwas Längeres als eine Predigt schienen ihnen auf der Welt nicht zu existieren.

Das war das Längste.

Aber Budang, Ernst von Schiller und Horny brachten ihnen zum Trost, wenn sie zur Kirche mußten, immer winzige Blumenbouquetchen zum Mitnehmen, oder Budang schnitt ihnen ihre Namen besonders kunstvoll aus, oder auch gaben sie ihnen Malzbonbons mit.

Die Kameraden selbst gingen nur dreimal des Jahres: zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten; dann war es ein großes Fest neben dem Fest, denn da gingen sie alle miteinander.

Wenige Jahre, nachdem Rat Kirsten den langen Brief der Großmutter erhalten hatte, kam wieder einer. Und Röse und Marie lasen auch diesen. Das war auch ein sehr merkwürdiger Brief. Die Großmutter schrieb:

»Hochverehrend libswertester Herr Sohn!

Mein arm Waben hat einen netten Handel mit mir.

Sie ißt halt dazu ausersehen, ein Gott wohlgefälliges Engerl zu sein, das arme Mädel.

Herr Sohn, – 's ißt nun so weit mit mir, wie's sich's gehört, wenn der Herr Gott ein End machen will.

Vorhanden ißt, von allem was gewesen, nur ein zerlumpeter Leichnam noch, voller Gebresten und Jammer, der mir und dem Mädel ein bös Stückl ums andre ausführt. – Um meinet und Ihres Willen mög's nun genug sein. Sie pflegt mich wie eine heilige Nonn – Gott sei's geklagt.

Da gibt's nix. – Ungeduld kennt's scheint's nit – und wenn ich mich ungebärdig stehl vor Schmerz.

Herr Sohn, 's ißt eine schlimme Krankheit, die mir Gott geschigt hat, ein Gebresten vor ein Tier zu gräßlich, geschweige vor ein menschlich Wesen.

Mein Waben ist nun durch Gottes Gnaden einundzwanzig Jahr – und so mög' es dem Herrn gefallen, mich baldn zu erlösen, das wünsch' ich söhnlich, denn ich jammere und stehn ihr die Ohren voll Tag und Nacht.

Sowie ich die Augen geschlossen hab', was durch Gottes Barmherzigkeit recht bald geschehen möge, schick' ich Euch das Mädchen, Ihr Kind, Herr Sohn. Wollen es als solches halten im Angedenken an die Mutter, meine seelige Tochter. Das walte Gott.

Es grüßt Sie, mit vollkommster Ehrerbietung, Herr Sohn und die lieb Frau und die Kinder

In Todesnot und Jammer
Die Großmutter.«

Also die geheimnisvolle Schwester sollte nun kommen!

Und sie würden nun zu »drei« sein!

Diese einfachen Schlüsse erschienen den Ratsmädchen über alles Maß außerordentlich.

 

Röse schrieb einen langen Brief darüber an ihren Bräutigam Ottokar Thon, der seit geraumer Zeit in Eisenach mit dem Großherzog war und auch noch bleiben mußte, zu Herrn Rat Kirstens ganz besonderer Freude.

Liebesgeschichten im eigenen Hause waren ihm unbequem. Sein Hauswesen sollte wie am Schnürchen gehen.

Der neuen Tochter sah das ganze Haus Kirsten mit Bangen entgegen.

Die Brüder wollten am wenigsten von ihr wissen. »Ich mein',« sagte der älteste, »wir hätten Weibsleute genug. Röse und Marie zählen doppelt.«

Die Mutter verwies ihnen streng solche Reden. Aber auch sie sah dem fremden Mädchen bänglich entgegen. Würde es ihr bei ihnen gefallen? Würde sie mit ihren Kindern Freundschaft schließen? Sie wollte ihr eine gute Mutter sein, aber würde das ernste Mädchen zu ihr Vertrauen haben? Auch die katholische Religion machte sie besorgt. Es war alles gar zu fremd.

Herr Rat Kirsten war der einzige, der es für gut fand, keinerlei Aeußerung zu thun. Das war seine Art so. »Also du machst ja wohl alles und richtest es ein.« Das war das einzige, was er über diese Angelegenheit zu seiner Frau sagte.

Frau Rat Kirsten und die Ratsmädchen aber reinigten das ganze Haus, vom Keller bis zum Boden, und richteten miteinander das Bett der neuen Schwester in der großen Dachstube, in der die Ratsmädel schliefen.

»Seid recht gut und freundlich mit ihr,« ermahnte die Mutter. »Sie muß bei euch schlafen, denn ihr müßt wissen, daß sie Schweres durchgemacht hat, und die traurigen Gedanken kommen über Nacht.«

Die Ratsmädel versprachen alles, was die Mutter von ihnen verlangte, und waren des besten Willens voll.

So kam der Tag heran, an dem sie die Schwester erwarten konnten. Ist sie groß oder klein, braun oder blond? Das waren die Fragen, die sie nicht beantworten konnten, denn die Großmutter hatte nie von Barbaras Aussehen ein Wörtchen geschrieben.

Aber beide waren der Meinung, daß sie groß sein müsse.

Der Vater war allein auf die Post gegangen, um sein Mädchen zu erwarten.

Er wollte es so.

Sie hatten im Familienzimmer einen feierlichen Kaffeetisch gedeckt, und ein Riesennapfkuchen stand mitten unter den Tassen, wie ein Berg.

Die Brüder waren da, die Mutter und die Mädchen.

Röse und Marie wollten zum Fenster hinausschauen, aber die Mutter verbot es ihnen.

»Das mag er nicht, das wißt ihr ja!«

Es war Oktober, ein sonniger Oktober mit bunten Bäumen, die sich ihrer Farben, ungestört von Regen und Nebel, freuen konnten.

In Weimar gehört so ein trockener, sonniger Oktober zur Seltenheit; gewöhnlich faulen die Blätter an den Bäumen, ehe sie abfallen. Dies Jahr aber war auch ein vortrefflicher Zwetschgenherbst. Die Zweige bogen sich unter der blauen Last, und bei Rat Kirstens auf der Hausflur standen heuer acht große Tragkörbe voll der reifsten Zwetschgen aufmarschiert zum großen Zwetschgenmuskochen, à Mann ein Korb; auch die neue Schwester war schon im Besitz ihres Korbes, und die Magd und Herr und Frau Rat, und jedes der vier Ratskinder.

Uebermorgen sollte großes Zwetschgenspellen sein, und tags darauf das Rühren und Kochen im Waschkessel, von früh morgens bis spät in die Nacht. – Ein Hauptfest, an dem geschwelgt und geschleckt wurde.

In ihrem Erwartungseifer aber hatten sie die Schritte auf der Treppe überhört.

Da öffnete sich die Thür, und der Vater trat ein. »Ich bring' sie euch,« sagte er mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.

Da stand die Schwester auf der Schwelle: klein, zierlich, aber reizend, – flachsblond. Sie steckte in einem schwarzen, engen Kleid und trug einen großen, schwarzen Holländerhut.

Röse und Marie waren ganz aus dem Gleichgewicht gekommen. – »So ein Geschöpfchen! So ein Püppchen!« dachten sie.

Jetzt lag das zarte Mädchen schon in Frau Rats Armen, und jetzt gab sie den Schwestern die Hand und bot ihnen den feinen Mund zum Kuß.

Röse hielt das fremde und doch so nahverwandte Händchen nachdenklich zaghaft in der ihren. »Was für Knöchelchen!« dachte sie. »Wie ein Rebhuhn.«

Sie banden ihr den Hut ab; drunter war feines Härchen, zierlich aufgesteckt.

»Mein Himmel, seid ihr Riesen dagegen!« rief die Mutter; und die beiden waren doch gar nicht übermäßig groß. Sie schaute lächelnd auf ihre Mädchen, die ziemlich verblüfft, aber voller Teilnahme jetzt neben der neuen Schwester standen. Sie sahen wie die Kraft selber aus, die Schelme, die sich auch jetzt, wie immer, zu einander neigten, weil sie gewohnt waren, sich alle Augenblicke etwas Wichtiges mitzuteilen. Diese zwei Schelme mit den rosigen Gesichtern, den sternklaren, dunkel bewimperten Augen, mit den um Stirn und Nacken ganz fein geringelten Härchen, die das Haar selbst weich in die Haut vermittelten; mit den runden Wänglein, den kecken, aber feinen Näschen, den unruhigen Schwatzmäulchen und den anmutigen Gestalten; mit den festgefügten, aber feingebauten Beinchen, die unter den kindlichen Röcken so deutlich daherschritten.

Jetzt standen beide Mädchen ganz gerührt da.

Sie machten sich mit der älteren Schwester wieder zu thun, rückten ihr den Stuhl, und Marie führte sie an den Tisch. Die Schwester bat, ob sie sich erst die Hände waschen dürfe. Marie ging sogleich zur Mutter und fragte dringlich nach einem Stück Mandelseife.

Und die Mutter gab es ihr aus der Kommode.

»Der können wir doch nicht von unsrer Schmierseife geben!« sagte Marie leise.

Und mit einem Stück Mandelseife und der neuen Schwester wanderten sie beide hinauf in die Dachstube.

Dann ging's an das feierliche Kaffeetrinken.

Die Schwester aß wie ein Vögelchen, und Röse und Marie nötigten sie gewaltig. Sie saß zwischen beiden. Der Vater hielt auch mit.

»Siehst du,« sagte er zu seiner ältesten Tochter, »mit diesen beiden großen Bernhardinerhunden,« damit deutete er auf Marie und Röse, »mußt du nun auskommen.«

Da lächelte das fremde Mädchen zum erstenmal.

Und der Vater hatte recht!

Wie sie so dasaßen, vorgebeugt mit ihren blonden Mähnen und den guten Gesichtern, die Schwester nicht aus den Augen lassend, ließ sich gar nichts Treffenderes von ihnen sagen.

»Sag mal,« fragte der Vater, um nur etwas zu sagen, »von eurer Wohnung aus konnte man die Alpen doch wohl nicht sehen?«

»Nein, aber aus unsern Speicherfenstern sehr gut.«

»Die Alpen?« erkundigten sich Röse und Marie zu gleicher Zeit. »Wie sehen die denn aus?«

Waberl zögerte: »So halt, wie eine ganze Kette von zackigen Bergen; auch manchmal wie Wolken und manchmal schneeweiß, wie aus lauter Eis, und manchmal himmelblau. Aber nur bei schönem Wetter kann man sie sehen.«

»So? Warst du auch einmal wirklich dort?«

»Nein, das ist zu weit.«

Röse und Marie wollten noch viel wissen. Ihre Schwester hatte so eine sanfte Stimme und sagte »net« statt nicht, und manchmal »halt«, – das gefiel ihnen; aber sie sprach nur, wenn man sie fragte.

»Du kannst die Leute von Zahnschmerzen und so was heilen, das wissen wir,« sagte Röse.

Da antwortete sie gar nicht und wurde rot bis unter die flachsblonden Härchen.

»Bst!« machte die Mutter leise.

Den Abend, als die Schwester schon im Bette lag, um sich von der langen, beschwerlichen Reise auszuschlafen, kamen Budang, Ernst von Schiller und Horny voller Neugier und Teilnahme, und die Ratsmädchen lieferten ihnen eine Beschreibung der neuen Schwester.

»Zum Anfassen ist sie mal sicher nicht,« sagte Röse. »Ich sag' euch, so zart! Knöchelchen wie ein Wickelkind! Gehen hört sie kein Mensch; weißt du, ihre Großmutter hat sie ihren ›Hausgeist‹ genannt, und – komisch! – einmal hat sie ›Bärbel‹ geschrieben, dann ›Waberl‹, dann wieder ›Wabi‹, dann schließlich nur ›Waben‹, ganz wie's ihr einfiel. Ihre alte Großmutter machte nämlich Schreibfehler.«

»Na, na!« meinte Budang vielsagend; da schwieg Röse beschämt. Die Orthographie war auch ihre und Maries stärkste Seite nicht.

Als die beiden Mädchen abends hinauf in ihre Stube schlichen, schauten sie neugierig nach dem Bett, in dem ihre Schwester in tiefem Schlafe lag.

»Wie ein Madönnchen,« flüsterte Marie.

»Aber so ein trauriges, kleines Mäulchen hat sie,« meinte Röse.

Am frühen Morgen, als die beiden Schelme noch den Schlaf der Gerechten schliefen, wusch und kämmte sich die sanfte, fremde Schwester lautlos.

Sie hatte so vorsichtige, rücksichtsvolle Bewegungen wie eine Krankenwärterin, steckte sich das blonde Haar zierlich auf, betete ihr Morgengebet, schlüpfte unhörbar aus der Thür und begab sich geradenwegs in die Küche.

Und als Frau Rat nach dem Frühstück ausschauen wollte, fand sie die Magd und ihre neue Tochter schon in voller Arbeit.

»Mein liebes Kind, du solltest doch noch schlafen nach deiner Reise!«

»Ich brauche wenig Schlaf,« antwortete das Mädchen freundlich.

Sie war den ganzen Tag auf den Füßen und fand, ohne zu fragen, immer etwas zu thun.

Bei dem Zwetschgenspellen und Zwetschgenkochen nahm das stille Mädchen die erste Stelle ein. Röse und Marie aber sahen die ganze Muskocherei für einen ausbündigen Spaß an und benahmen sich danach; sie aßen während der Arbeit, soviel sie unterbringen konnten, warfen sich mit Kernen, wühlten die Früchte durcheinander und vergnügten sich auf ihre Art.

Die Schwester hingegen wußte nichts von Spiel und Zeitvertreib bei der Arbeit.

Die Großmutter hatte ganz recht, daß sie das Mädchen ihren Hausgeist »benamset« hatte. Es war auch, als wäre bei Rats wirklich so ein Seelchen eingezogen.

Eine ganz große Arbeitskraft hatten sie gewonnen, unheimlich groß, wenn man bedachte, daß die von dem zierlichen blonden Mädchen ausging.

Jeder begann sich wie verwöhnt zu fühlen. Es wurde viel weniger im ganzem Hause gerufen und verlangt.

Röse und Marie waren beschämt, alles schon meist sauber aufgeräumt zu finden, wenn sie nach dem Frühstück in ihre Stube kamen, um ihre Betten zu machen. Und nicht nur das! Sie hatten an der zarten Schwester die allersorgsamste Kammerjungfer bekommen. Sie half ihnen, wo und wie sie nur konnte, und immer mit einer so lieblichen Dienstbeflissenheit, gewiß nicht, als wäre sie die ältere Schwester.

Ja, das ganze Hauswesen bekam einen glatteren, geräuschloseren Gang.

Das »dritte Ratsmädel« war und blieb still, antwortete freundlich, wenn es gefragt wurde, war immer gleichmäßig liebenswürdig, hatte aber ein ganz undurchdringliches Wesen.

»Schade!« sagten Röse und Marie. Sie waren nach einigen Wochen kaum bekannter mit ihr, als am ersten Tag, und wurden doch von ihr verwöhnt, daß es eine Art hatte.

Sie kämmte den beiden großen Schlingeln das dicke, lange Haar, was bisher immer Frau Rat besorgt hatte, flickte ihnen die Kleider, half ihnen nähen und schneidern und saß bis an die Ohren und mit einem rührenden Eifer in Röses Ausstattungsarbeiten.

Eines Tages gingen alle drei Schwestern miteinander durch den Park.

Da fragte Röse: »Sag' einmal, du erzählst gar nichts von dir. – Wir haben dich doch lieb, – erzähl doch!«

Das zierliche Mädchen sah sie ganz verwundert an. »Wie denn? – Was denn?« fragte sie.

»Na,« sagte Marie, »zum Beispiel, du bist doch viel älter als wir; warst du denn nie verliebt?«

»Nein.«

»Na, und war denn nie wer in dich verliebt?«

»Nein.«

»Bist du denn nie in Gesellschaft gegangen, und hast du denn nie getanzt?«

»Nein, die Großmutter war zu alt. Sie wär' schon mitgegangen; aber ich wollt' halt net. Ich hatte Angst, daß die Großmutter sich verderben könnt'.«

»Aber sonst hättst du's gemocht?«

»O ja, warum net?«

»Gefällt es dir bei uns?« erkundigte sich Röse.

»Ja.«

Da war die Unterhaltung wieder aus.

»Wie lebtest du denn daheim in München?« fragten sie nach einer Weile.

»Wir arbeiteten, und Sonntags gingen wir spazieren, und jeden Tag durfte ich in die Messe gehen.«

Jetzt erzählte sie ihnen unaufgefordert von der großen Frauenkirche, den riesig hohen Gewölben, den vielen Säulen, dem wundervollen Gesang, der mächtigen Orgel, den vielen Menschen, dem Weihrauchduft und den vielen, vielen Grabkugeln am Karsamstag.

»Ja, das war wunderschön!« sagte sie.

»Sehnst du dich danach?«

»Manchmal.«

»Daß du das nun hier aber nicht hast, bist du denn nicht traurig darüber?«

»Man soll niemand beschwerlich fallen,« antwortete sie kurz.

»Ach nein!« rief Röse. »Wenn man traurig ist, sollen die Menschen einen trösten. Uns wenigstens kannst du alles sagen. Wir sagen auch alles.«

»Bist du nicht einmal in München in der Komödie gewesen?« forschte Marie.

»Ja, einmal.«

»Na, und?« fragten beide. »Wie war's denn da?«

»Passabel.«

»Und was sahst du denn?«

»Einmal ›Die Brüder‹, das andre Mal weiß ich's gar nimmer.«

 

»So? ›Die Brüder‹? Das kennen wir hier ja gar nicht!« meinten sie verwundert.

»Na, wart', nächstens gehen wir alle miteinander einmal in die Komödie, wir und Budang und die andern, da wirst du sehen, daß es hier nicht nur ›passabel‹ ist.«

Und nun erzählten sie ihrer Schwester von ihren Streichen: wie sie mit Budang, Ernst von Schiller und Horny aller Nasenlang durchs Hinterpförtchen ins Theater geschlüpft seien, – und wie herrlich das war. Sie berichteten ihr Abenteuer mit dem Großherzog Karl August, wie der sie beobachtet habe, und daß sie nun seit Jahren mit seiner Erlaubnis »unbezahlt« ins Theater gingen, fanden aber bei ihrer Schwester kein besonderes Verständnis.

Sie fühlten beide, daß die arme Schwester es kümmerlich gehabt habe, trotzdem ihre verstorbene Großmutter eine sehr gute Frau gewesen sein mußte. Die Schwester that ihnen leid.

Und als sie das nächste Mal mit Budang zusammenkamen, sagten sie ihm: »Weißt du, die ›Waben‹,« so nannten sie die Schwester, weil ihnen das gefiel, »ist eigentlich wie ein altes Weibchen aufgewachsen. Sie versteht uns gar nicht, das arme Ding. – Und so verschlossen wie sie ist! Weißt du, nichts als Pflicht und Bravheit.« Budang war auch sehr mitleidig gestimmt; sie beschlossen alle, ganz besonders »nett« mit ihr zu sein.

Merkwürdigerweise hatte Budang keinerlei bissige Bemerkungen gemacht, als sie Wabens Pflichttreue und Bravheit als etwas ganz extra Mitleiderregendes hingestellt hatten.

»Sie ist sehr niedlich,« sagte er, »und sieht nicht älter aus als wir.«

»Ja, aber ich glaube, aus jeder von uns gingen zwei Waben zu machen.«

»Aber nicht aus der Bravheit,« sagte Budang. Er konnte sich's doch nicht verbeißen.

Und sie ließen sich's von ihm ruhig gefallen, denn sie glaubten an ihn.

In die Komödie gingen sie denn auch bald und beeiferten sich alle, es der fremden Schwester recht ans Herz zu legen, was sie schön fanden. Sie hatten sie in die »Zauberflöte« geführt.

Aber sie bemerkten zu ihrem Erstaunen, daß Waben während der Vorstellung die Augen fest geschlossen hielt.

»Die schläft!« sagte Marie zu Budang. Und Röse stieß ihre Schwester leicht an.

»Du schläfst ja!«

»Nein,« sagte Waben, »ich höre auf die Musik.«

Jetzt aber schloß sie die Augen nicht mehr, sondern sah nur nieder.

Nach einer Weile fragte Röse wieder: »Weshalb siehst du denn nicht auf die Bühne? Das ist jetzt unser Allerbester, der da singt.«

»Mir gefällt's net; die Musik spielt ganz was andres, als die Schauspieler vorstellen. Die Musik ist aber wunderschön!«

Was die Schwester gesagt hatte, flüsterte Röse Budang zu, der hinter ihnen saß.

Und Budang nickte dazu.

Er sprach dann in der Pause mit Waben über die Musik. Sie sagte ihm: »Ich wollte, die Großmutter hätte die Musik bei ihrem Tode hören können, – das wär' eine Himmelfahrt geworden! Die arme Großmutter!«

Der Waben standen die dicken Thränen in den Augen.

»Sie hat sehr ausstehen müssen,« meinte Budang. »Röse und Marie haben's erzählt.«

»Ach, ausgestanden!« erwiderte das Mädchen erregt. – »Da gibt's kein Wort dafür! Wer das mit angesehen hat, den freut nichts mehr.«

Es war das erste Mal, daß sie ihren Thränen freien Lauf ließ, seit sie von daheim fort war.

Das hatte die Musik gethan.

»Wollen Sie lieber nach Hause gehen?« fragte Budang.

»Ach nein,« sagte das zarte Mädchen. »Sie hat's ausgehalten, und ich soll net mal dran denken können? Hier wird's einem, als wär's erst gestern geschehen, – und das ist gut. – Die armen Seelen brauchen unser Mitleid. Sie werden überall zu schnell vergessen.«

Mit den armen Seelen meinte sie natürlich die der Abgeschiedenen.

Röse, die zugehört hatte, überlief ein Schauer. »Die armen Seelen«, das kam ihr so geheimnisvoll vor, so wie aus einem uralten Märchen. Ueberhaupt, obwohl die Waben ein tüchtiges und zuverlässiges Hausmütterchen war, würden sich die Ratsmädel nicht gewundert haben, wenn es sich herausgestellt hätte, daß sie wirklich ein Hausgeist sei, ein armes Seelchen oder sonst so etwas. Sie erschien ihnen immer fremder.

Aber die beiden Schelme fühlten sich nicht durch sie bedrückt und kritisiert. Es war ihnen in ihrer Nähe wohl.

Sie klöppelte für beide Mädchen ganz wundervolle Klosterspitzen nach einem alten Spitzenrest, den sie mitgebracht hatte.

»Ja, weshalb machst du's denn nicht für dich selbst?« fragte Röse.

»Wär' net übel,« war die Antwort.

Die Waben wurde wöchentlich einmal zu Schopenhauers Adele eingeladen und kam so in den Kreis der geistreichen jungen Damen, die alle um einige Jahre älter als die Ratsmädchen waren, und denen die Ratsmädchen ihrer Zeit Liebesbriefchen hin und her getragen hatten, die sie aber alle in ihrem Leichtsinn erst unten auf der dunklen Wittumstreppe indiskreterweise gelesen hatten. Das heißt, Liebesbriefe waren es auch im eigentlichen Sinne des Wortes nicht, sondern vielmehr sprachen die jungen Damen sich gegenseitig über den Zustand ihres Herzens in langen Episteln aus und machten den Ratsmädeln damit, ohne es zu wollen, das größte Gaudium; denn sie dachten nicht entfernt an die Treulosigkeit der beiden Schelme.

Bei Adele Schopenhauer waren wöchentliche Zusammenkünfte dieser jungen Damen und einiger schöngeistiger Jünglinge; die Waben war nur durch die größten Ueberredungskünste ihrer Schwestern dahin zu bringen, Adeles Kränzchen zu besuchen.

Nach einigen Wochen schien sie freilich recht gern zu gehen. Die langen Zuredereien und das Drängen hörte von selbst auf. Sie ging still und kam still, sprach über nichts, was sie dort in der Gesellschaft erfahren hatte, – aber es schien etwas Lebendigeres in ihr Wesen gekommen zu sein. In dieser Zeit war es zum erstenmal, daß sie bei Rats ein silberhelles, junges Lachen hörten. Und die Mutter meinte: »Laßt sie – fragt nicht!«

Sie war so reizend, so elfenhaft und so liebenswürdig diensteifrig.

Frau Rat sagte: »Was ist die Waben für ein süßes Kind; wie ein Sonnenstrahl, so still und gut!«

Frau Rat hatte sie ganz besonders ins Herz geschlossen.

Ja, die Waben war viel heiterer. Es schien, als wäre aus dem jungen, pflichttreuen Nönnchen ein junges Mädchen geworden. Sie blühte wahrhaft auf und wurde jeden Tag reizender. Man hörte sie die Treppen hinauf- und hinablaufen. Sie ging nicht mehr so krankenwärterinmäßig, und Röse und Marie hörten sie einmal singen, als sie sich das Haar machte.

Sie lauschten an der Thür; es klang ihnen beiden, wie dazumal, als ihre Lerche, die sie zu Weihnacht bekommen hatten, zum erstenmal im März ganz unvermutet im dunklen Bauer die ersten leisen Töne hören ließ.

Das Herz war ihnen bei diesen wunderbaren Lerchentrillern, die aus der dunklen Ecke kamen, erbebt.

Alle im Hause freuten sich, daß Waben auflebte.

So war sie auch einmal wieder ganz wohlgemut zu Schopenhauers gegangen, und spät abends bei Mondenschein und Winterkälte wandelte sie über hartgefrorenen Schnee am Arm eines jungen Mannes, der sie von Schopenhauers heimbegleitete, die alte Wittumstreppe hinab, die von der Esplanade zur inneren Stadt führt.

Der junge Mann hatte ihr den Arm geboten. Er hatte das schon öfter so gethan; es war ihm zu einer angenehmen Gewohnheit geworden, das liebliche Geschöpf heimzubegleiten. Sie hatten keinen besonders weiten Weg vor sich, aber sie verstanden ihn auszunützen. Die Waben hatte noch nie so viel hintereinander geplaudert, als auf der kurzen Strecke, die zwischen ihrem elterlichen Hause und dem Hause der Schopenhauern lag, – und der junge Mann war ein sehr aufmerksamer Zuhörer. Bei dem hellen Mondlichte war zu konstatieren, daß die Waben einen durchaus nicht ungefährlichen Begleiter hatte: hochgewachsen, schlank, mit einem prächtigen Kopf, groß geschnittenen Zügen, reichen, dunklen Locken; dabei vornehm in Gang und Haltung, liebenswürdig und galant in der Art, wie er mit dem kleinen Persönchen sprach, sich zu ihr neigte und ihr Geplauder anhörte.

Sie gefiel ihm, das war kein Zweifel.

»Demoiselle Barbara, wie kann man nur so ein Nixchen sein! Ich fühle Ihren Arm nicht mehr als eine Feder.«

»Ja, es ist dumm,« sagte Waben, »ich bin ein bisserl klein; aber da ist nun nichts zu machen.«

»Ein Mädchen kann gar nicht klein und zart und süß genug sein,« erwiderte er.

»Das find' ich net,« meinte sie. »Man soll vor einem Mädel doch Respekt haben, und sie soll ordentlich arbeiten können. Ich bin freilich viel stärker, als ich ausseh', gottlob! Sonst könnt' ich mir das Salz zum Brot net verdienen.«

»Nun, verdienen? Wer spricht denn von verdienen?«

»Glauben Sie,« fragte Waben, »ich möchte daheim schlafen und essen, wenn ich mir net sagen könnte, ich hab's verdient? Was denken Sie denn? Halten Sie uns Mädel für Tagediebe? Oder für was denn?«