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Als ich zur Besinnung kam, dämmerte eine neblige, fröstelnde Helle um mich her. Die vier Lampen hingen schein- und regungslos von der Decke. Ein freudiger Schreck fuhr durch mein zermalmtes Inneres. Ist es möglich? haben wir – haben einige von uns diese Nacht überlebt?

Ruhig und gemessen rauschten draußen die Räder des Dampfers. Hier innen herrschte tiefe, feierliche Stille. Alles schlief. Ein friedlicher Morgen drückte seine segnende Hand auf die Schrecken der Finsternis, die hinter uns lag. Die übriggebliebenen Menschenreste schlummerten glücklich einem neuen Leben entgegen. Wir waren in der Themse. Die Stewards räumten ab und deckten die Tische für das Frühstück. Einen von außen Kommenden hätte allerdings die Atmosphäre hierzu kaum eingeladen. Wir waren zum Glück daran gewöhnt; sie war sozusagen unser Eigentum; und eine unendliche Leere erfüllte Herz und Magen. Stillvergnügt, mit halbgeschlossenen Augen sah ich die Rindskeule von gestern und den kalten Hammelsbraten aufmarschieren und die lange Reihe der Teetassen ihre Löffelchen präsentieren. Schon damals sah man es ihnen an, daß der Obersteward ein Preuße war: alles hübsch in Reih' und Glied. Dann sprang ich aus dem obersten Stockwerk, in dem ich gehaust hatte, und nahm beinahe den Kopf meines Untermanns mit, der sich eben erkundigen wollte, ob er denn auch noch lebe.

In der Erwartung baldiger Trinkgelder fragten die Stewards aufmunternd nach unserm Befinden und brachten den schwächeren Leidensbrüdern die dampfenden Teetassen nach den Betten. Es war ein köstliches Getränke unter obwaltenden Umständen. Alles lächelte. Jeder suchte damit anzudeuten, daß die andern sich doch noch weit erbärmlicher aufgeführt hätten und sich heute in guter Gesellschaft kaum sehen lassen könnten. Doch schien es ein stillschweigendes Übereinkommen, gesprächsweise auf Einzelheiten nicht einzugehen. Nachdem man sich in dieser Art auch moralisch rehabilitiert hatte, ging es eilig aufs Deck.

Das also war England, der Hort der Freiheit, der Kern der größten Weltmacht unsrer Zeit, das Ideal der jungen Maschinentechniker aller Welt. Es war ein herrlicher Morgen nach englischen Begriffen, wie ich sie später kennen lernte. Es schneite nicht, es regnete nicht, und man sah nichts. Grau in Grau lag Wasser und Land vor uns: stahlgrau, silbergrau, blau-, grün- und braungrau, alles merkwürdig fern und groß und wunderbar zart, das gespenstige Bild einer kaum irdischen Welt, über welcher eine verschwommene, rundliche Lichtquelle zu schweben schien, an der Stelle, wo in andern Ländern zu dieser Tages- und Jahreszeit die Sonne steht.

Glatt und munter schwammen wir mit der steigenden Flut den Strom hinauf. Dampfer plätscherten in weiter Ferne, ehe sie aus dem Nebel heraustraten und, selbst Nebelbilder, an uns vorbeiglitten. Himmelhohe Segelschiffe, alle Segel ausgespannt, traten plötzlich still und feierlich, wie Gespenster, aus dem Silbergrau heraus, schwebten lautlos vorüber und waren verschwunden, ehe man sich zweimal umsah. Am Ufer zeigten sich jetzt nackte Masten, wie entnadelte Tannenwälder, formlose Wesen mit Sparren und Stangen nach allen Richtungen. Dann hörte man ein leises, dumpfes Brausen, das langsam anschwoll und alles in geheimnisvoller Weise durchdrang, selbst das laute Rauschen unsrer Räder; dazwischen manchmal einen scharfen Knall, einen Pfiff, ein lautes Gepolter, weitschallende Rufe von Schiffern aus unsichtbaren Fischerbooten. Alles kühl und feucht und fröstelnd. Bald aber kamen deutlichere Umrisse von Häusern, riesige, schwerfällige Vierecke, himmelhohe Schornsteine. Das Brausen wurde lauter und schwoll zum dumpfen, unablässigen Brüllen der erwachenden Millionenstadt. Jetzt zeigte sich eine bekannte Form über den zackigen Umrissen unzähliger Schornsteine, wie ein alter, guter Freund: der Tower mit seinen vier Ecktürmchen. Den kannte und liebte ich ja schon seit meinem sechsten Jahr, in einem übel zerrissenen Orbis pictus. Und gleich darauf sperrte uns in dem immer glänzender werdenden Nebel eine gewaltige Geisterbrücke den Weg, welche die glasartig spiegelnde Wasserfläche begrenzte: Londonbridge.

Unser Dampfer machte jetzt unruhige, stockende Bewegungen. Mächtige Schiffe wimmeln um uns her, durch die er sich durcharbeiten muß. Scharfe Kommandoworte, Pfeifen und Schreien scheint hierzu nötig zu sein. Alles drängt sich aufs Deck; Koffer und Mantelsäcke, Kinder und Frauen. Der Kampf ums Dasein erwacht rücksichtslos unter Menschen und Dingen. Ein halbes Dutzend Matrosen drängt sich nach dem einen Radkasten durch. Sie schieben die Landungsbrücke zurecht. Das dröhnende Brausen der Riesenstadt lastet betäubend auf den Ohren. Erdrückende, wirre Häusermassen hängen über uns herein, feindlich, drohend. Jetzt heult unsre Dampfpfeife ein ohrenzerreißendes Geheul. Jemand, der halb verrückt sein muß, läutet auf einem benachbarten Schiff eine Glocke, als wollte er den jüngsten Tag einläuten. Unsre Maschine hält still. Zischend und speiend fährt der überschüssige Dampf durch das Rohr am Schornstein, das zitternd wie eine Orgelpfeife im tiefsten Baß in den Lärm einstimmt. Die Landungsbrücke fällt ans Ufer. Wie Schafe, die den Kopf verloren, drängt sich alles zwischen die Geländer des engen Stegs. Wehe dem Regenschirm, der quer zwischen die aufgeregten Beine der sich bildenden Seeschlange aus Menschenleibern gerät.

Ich selbst stak mitten in dem sich langsam durchtrichternden Knäuel und riß an meinem Koffer, der zwischen den Knieen eines Herrn stak, welcher hinter mir drei Kinder zusammenzuhalten suchte. So ging's über die Brücke. »Aber ums Himmels willen, wo bezahlt man denn?« rief ich in wirklicher Seelennot. »Ich habe ja noch nicht bezahlt!« Die Leute starrten mich an, große Fragezeichen in den Gesichtern. Zum Glück verstand mich niemand. Ich spürte jetzt festen Boden unter den Füßen. Alles rannte durch die finstern Gebäude und schwarzen Höfe der Katharinendocks in die Lower-Thames-Straße hinaus, nach Fiakern schreiend, nach Gepäckträgern, nach Gepäck, nach Weib und Kind. Einen Augenblick lang lag mein Koffer auf einem Tisch, der das Zollamt vorstellte; ich suchte nach meinen Schlüsseln. Im nächsten hatte ihn ein Mann ergriffen, auf die Schulter geschleudert und rannte davon. Ich sah, schon ziemlich in der Ferne, das teure, wohlbekannte gelbe Leder über den Köpfen der Menge manchmal auftauchen. Das ging denn doch über den Spaß: mein ganzes Hab' und Gut! Ich rannte ihm nach; natürlich.

Draußen, im Getümmel einer engen, düsteren Straße, in der das Fuhrwerk ineinandergriff wie die Zähne eines Uhrwerks, stand mein Mann neben einem Handsome, auf dessen Dach sich bereits mein Koffer befand, als ob er dort zu Hause wäre. Es blieb keine Zeit, mich zu besinnen. Das Maul eines Pferdes stieß mir an den Hinterkopf. Der Mann streckte mir eine riesige Hand entgegen. Ich legte einen Franken hinein, in der bangen Erwartung einer schwer durchzuführenden Diskussion über die fremde Münze und von etwas Kleingeld englischen Geprägs. Aber ich wurde angenehm enttäuscht. Mit einem gutmütigen Nicken, halb Herablassung, halb Zufriedenheit andeutend, war der Mann verschwunden, ohne seine Ruhe, ohne eine Sekunde seiner Zeit zu verlieren. Einige Augenblicke später sah ich ihn noch einmal, unter einer riesigen schwarzen Kiste, von zwei Damen verfolgt, die laut schreiend ihre Regenschirme in der Luft schwangen.

Staunend nahm ich in dem ersten Handsome Platz, das ich in meinem Leben sah. Eine wunderbare Maschine, deren sinnige Konstruktion mir erst nach Wochen einleuchtete. Durch ein Loch in der Decke schien mein Kutscher herunterzuschreien: wo ich hin wolle. Kaum hatte ich Zeit, in meinem besten Gymnasialenglisch »Middleton square, Islington« zu rufen, als der Deckel, mit dem das Loch geschlossen werden kann, wieder zuflog und sich mein Pferd, scheinbar führerlos – denn der Führer sitzt hinter mir, in einem Kistchen auf dem Dach des Fahrzeuges – ruhig trabend in dem reißenden Strom von Karren und Wagen, Pferden und Menschen verlor. Seitdem die Landungsbrücke des Dampfers ausgeworfen worden war, konnten kaum fünf Minuten vergangen sein. Welcher Reichtum an Erlebnissen und Eindrücken in dieser Spanne Zeit; welches Volk, mit seinem »Zeit ist Geld!« – Die Straßen wurden etwas freier, das Getümmel etwas weniger betäubend. Ich war in England, mitten im Lande, dem Norden zutreibend, als verstehe sich all das ganz von selbst.

Aber – gütiger Himmel! Ich wollte ja meine Überfahrt erst bezahlen! »Cabman – Cabman! Kutscher! Fiaker!« – Ich stieß den Deckel in meinem Dach wieder auf und begann zu explizieren. Der Mann schüttelte seine ziegelrote Nase herein – das einzige, was ich von ihm sehen konnte – und fuhr ruhig weiter nach Norden, immer nach Norden, endlose Straßen hinter sich lassend, die nach und nach immer stiller wurden. Es war gut, daß ich einen Kompaß bei mir hatte. Jetzt bogen wir um die dreißigste Ecke, ungefähr. Anfänglich hatte ich im Gewirr der unteren City die Ecken gezählt, aber auch diesen schwachen Faden bald verloren. Eine grüne, viereckige Oase öffnete sich jetzt vor uns, mit einer kleinen gotischen Kirche in der Mitte, ernst, still, vielleicht etwas pedantisch, ein klein wenig langweilig dreinsehend, aber sauber und sonnig, umgeben von vier Mauern, Häuser vorstellend, die sich glichen wie ein Ei dem andern. Jedes hatte das gleiche eiserne Gitter, das es vom Square trennte, die gleiche, blanke Sandsteintreppe, den gleichen glänzenden Klopfring an der braunpolierten Haustüre. Es tat dem Auge ordentlich weh, daß nicht auch die metallenen Hausnummern die gleichen waren. Der Cabman sprang von seinem lustigen Sitze herunter und schlug drei donnernde Schläge gegen ein sorgfältig verschlossenes Tor. Keine fünf Sekunden vergingen, ehe ein liebliches blondes Wesen, mit einem wahren Engelskopf und einem kleinen, flachen Spitzenteller darauf, vorsichtig öffnete und mich mit einem ermutigenden Lächeln begrüßte. Sie sah sofort, daß dies besser war, als mich in ein englisches Zwiegespräch zu verwickeln; nahm meinen Koffer, bezahlte den Cabman, der etwas brummte, denn er hätte sich lieber mit mir direkt verständigt, schob mich durch die Haustüre, klappte sie scharf zu und legte eine Kette davor.

 

»Missis Bitters Boardinghaus?« sagte ich endlich, mit einem Fragezeichen. Es ging mir doch fast etwas zu sehr wie meinem Koffer in den Katharinendocks.

»Yes, Sir!« sagte der Engel mit dem Spitzenteller.

Missis Bitters Adresse hatte mir mein Schwager gegeben, der vor zehn Jahren in diesem Hause gewohnt hatte, um die kirchlichen Verhältnisse Englands zu studieren. Er hatte seiner alten, verehrten Freundin gleichzeitig geschrieben, daß ich möglicherweise eines Tages eintreffen werde. Sie selbst stand jetzt unter der Salontüre, den Fremdling freudig, wenn auch etwas gemessen begrüßend: eine würdige, muntere, fünfzigjährige Dame, wie mir schien. Sie war zweiundsiebzig, und ich war vorläufig geborgen.



Ein unbeschreiblich stiller Sonntag brachte meine erregten Nerven zur Ruhe, wenigstens äußerlich. Im Innern brauste noch immer die See, die Häuser im Square schwankten ein wenig, wenn ich sie nicht scharf ansah, und ein nagender Gedanke wollte sich nicht verscheuchen lassen. Ich hatte meine Überfahrt noch immer nicht bezahlt! Die Entfernung des stillen Middletonsquares vom Meer, vom »Nordischen Walfisch«, von dem tollen Treiben an der Themse schien mit jeder Stunde um hundert Meilen zu wachsen und damit die Möglichkeit, mein schuldbeladenes Gewissen von seinem Alp zu befreien. Wenn es mir nun recht schlecht ginge in diesem unbegreiflichen Land, mußte ich nicht fortwährend denken: geschieht dir ganz recht! Ein Mensch, der nicht einmal seine Überfahrt bezahlt hat! Vielleicht war ich, wie Missis Bitter, jünger, als ich aussah; denn ich konnte das kindische Gefühl nicht los werden. Nachmittags ging ich sechs- bis achtmal um die gotische Kirche herum spazieren und besah mir die vier Spitzen des trutzigen Turms von allen Seiten. Das englische Glockengeläute, ein regelmäßiges Anschlagen von drei glockenhellen Tönen – Prim, Quint, Terz, Prim, Quint, Terz –, das dreißig Minuten lang fortdauert und dann wieder von neuem beginnt, kann den hartgesottensten Sünder mürbe machen. Es wurde gegen Abend auch mit mir schlimmer. Ich schüttete endlich der mütterlichen Freundin meines Schwagers das ganze Herz aus; sie schien sofort bereit, auch mir Mutter zu werden, und richtete mich mit heiteren Trostesworten auf, soweit ich sie verstand. Das sei ganz einfach! Ich könnte ja morgen meinen ersten Ausflug nach der Unteren Themse-Straße machen, das Bureau der Antwerpener Dampfer aufsuchen und alles regeln. So konnte ich mein englisches Leben wenigstens als ehrlicher Mensch beginnen. Ich schlief meine erste Nacht auf englischem Boden, in einem Riesenbett, getröstet, wie ein Sack.

Als wackerer junger Deutscher kaufte ich mir am frühen Morgen einen Stadtplan und machte mich zu Fuß auf den Weg nach den Katharinendocks. Solange ich niemand zu fragen brauchte, ging alles vortrefflich. Die end- und zahllosen Straßen wurden wieder enger, der Lärm lauter, das Gedränge dichter. Gegen zehn Uhr erreichte ich den Platz vor der »Bank«. Hier, wenn irgendwo, ist der Mittelpunkt der Welt dieses Jahrhunderts. Man spürt es ordentlich. Staunend, halbbetäubt betrachtete ich das wirre Bild: ein Kaleidoskop, von einer Riesenmaschine gedreht, mit rennenden Menschen aus allen Weltteilen statt der übereinanderstürzenden farbigen Steinchen. Und jeder schien genau zu wissen, was er wollte, und rücksichtslos drauf loszugehen. Aber auch ich durfte mich nicht aufhalten. Es waren wohl genug Taschendiebe und sicher auch andere Spitzbuben in diesem brausenden Gedränge. Ich mußte mich beeilen, wieder ein ehrlicher Mensch zu werden. Der Weg dazu ging durch Cornhill nach Osten.

Ohne es zu ahnen, ging ich dort an einem Hause vorüber, in dem ich später zwanzig Jahre lang den größeren Teil meiner Arbeit und ein Stückchen meines Glücks finden sollte. Wer wohl die blinden Passagiere alle führt, die in diesem Millionengewimmel umherirren. Auch keine kleine Arbeit, das!

Jetzt wurde das Gedränge schmutziger. Der Themsenebel hing hier noch in den Straßen, und die riesigen Warenhäuser mit ihren Schätzen aus Ceylon und Cuba, aus Hongkong und Callao neigten sich schwarz und schwermütig gegeneinander; düstere Geldprotzen, die stillbrütend der Welt Arbeit geben und Bewegung. Wer weiß, vielleicht auch mir, dachte ich, und sah sie etwas scheu an. Sie gefielen mir nur halb.

Nun war's mit dem Stadtplan zu Ende. Dort gähnte mir das schwarze Loch entgegen, durch das ich gestern meinen Einzug in England gehalten hatte. Ich mußte fragen. Ein hastig vorbei rennender Handlungsgehilfe hatte keine Zeit, zu antworten. Ein vierschrötiger, gutartiger Packträger rief zwei andre herbei. Zu dritt berieten sie, in welcher Sprache ich mit ihnen zu verkehren versuche. Und es war mein bestes Gymnasialenglisch, »made in Germany«, eine allerdings damals noch nicht übliche Bezeichnung! Die Verhältnisse wurden mehr und mehr hoffnungslos, bis uns ein deutscher Indigo-Agent mit einem riesigen Notizbuch und prächtig blauen Fingern aus einem Kellerloch heraus zu Hilfe kam. Es ergab sich, daß ich nur drei Häuser von dem Bureau entfernt war, das ich suchte: dort, gegenüber der Trinkstube mit der roten Laterne über der Türe.

Das schwarzbraune Haus, dessen blauschwarze Fenster nie einen Lichtstrahl aufgefangen zu haben schienen, war ein Labyrinth von Gängen und engen Treppen. Überall brannte Gas; es wäre sonst nicht bewohnbar gewesen. Zahllose Türen und Türchen gingen auf die Gänge und waren in alle Winkel eingebaut. Auf jeder stand auf Milchglas, in schwarzen, schmucklosen Buchstaben, der Name einer Firma, einer Gesellschaft, eines Unternehmens in fernen Ländern – Nevada, Singapore, Neufundland, Mexiko, Sidney, Kairo, Valparaiso – alles, was die glühende Sonne beschien, schien in dem schwarzen Loch zu hausen. In einer Ecke des ersten Stocks fand ich meine Antwerpener Freunde. Es war mir, als fände ich alte, liebe Bekannte. Ich trat ohne weiteres ein, da die Türe fortwährend auf und zu ging.

Eine mit Schaltern versehene Glaswand trennte einen langen, schmalen Streifen des niederen Saales ab und schied die Besucher von den Beamten, die hinter den Glasscheiben hausten. Aus dem ersten offenen Schiebfenster winkte mir jemand. Was ich wolle? Ich begann zu erklären. Nach ein paar Worten, die ich mutig und erfolgreich zusammengestellt hatte, unterbrach er mich. »Sie brauchen den Kassier! Dritter Schalter, rechts!« Wie der Mensch das wissen konnte? Ich war ja noch gar nicht so weit in meiner Erklärung. Aber er war fertig mit mir und sprach schon mit meinem Hintermann in jenen fürchterlichen, endlosen Worten, die mir in diesen ersten Tagen so viel Sorge machten und von denen jedes, wie sich später herausstellte, einen ganzen Satz bedeutete. Wie soll man aber wissen, wo ein Wort aufhört und das nächste anfängt, wenn man sie nicht gedruckt sieht?

Ich übersetzte bereits am dritten Schalter rechts mit Anspannung aller Geisteskräfte und möchte gerne für den Gebrauch späterer blinder Passagiere das Gespräch mit dem alten Kassier, der mich mit verwirrender Aufmerksamkeit anstarrte, wörtlich wiedergeben. Allein ich fühle mich, angesichts einer großen literarischen Schwierigkeit, fast ratlos. Meinen deutschen Bericht mit englischen Bruchstücken – und was für Bruchstücken! – zu schmücken, ist geschmacklos. Auch würden sie auf den deutschen Leser nicht entfernt den Eindruck machen, der das mürrische Gesicht des Kassiers nach und nach erheiterte. Am nächsten komme ich wohl meinem Ziele, wenn ich unser beiderseitiges Englisch möglichst wörtlich und wahrheitsgetreu in mein geliebtes Deutsch übertrage.

»Ich komme,« begann ich, »ich tue kommen, bezahlen wollend ein Billet Antwerpen-London, dasselbige nicht bezahlt habend für das Überfahrt am Samstag.« Dies schien mir ziemlich gut, namentlich hatte ich das Gefühl, gewisse charakteristische Sprachfeinheiten mit großem Erfolg angebracht zu haben.

»Was wünschen Sie?« fragte der Kassier brüsk, wie wenn er keine Zeit hätte, Sprachfeinheiten zu würdigen.

»Ich tue wünschen, bezahlt zu haben ein Billet Antwerpen-London, dasselbige nicht habend gekauft zu rechter Zeit und dennoch mich befindend in England, unbezahlt. Samstag – Nordischer Walfisch –« fügte ich noch erklärend bei, ohne weitere Satzbildungen zu versuchen.

Dies war doch, sollte ich meinen, deutlich. Aber, anstatt mich zu verstehen, fing der alte Herr an, die Geduld zu verlieren. Wahrscheinlich war er kein Engländer.

»Antwerpen-London – Billet bezahlen!« rief ich meinerseits laut und etwas ärgerlich. Es war unangenehm, wenn man sein möglichstes tut, als ehrlicher Mensch zu handeln, auf solch erschwerende Hindernisse zu stoßen.

»Aha,« rief der Kassier jetzt erfreut. »Welche Klasse?«

»Zweite Klasse!« antwortete ich, ebenfalls zur Versöhnung die Hand bietend.

»Sechzehn Schilling, sechs Pence!« sagte er in geschäftsmäßigem Singsang, stempelte mit einem Knall ein Billet und warf es durch den Schalter. In großgedruckten Lettern stand auf dem roten Papierstreifen: London nach Antwerpen. Zweite Klasse.

»Nein, nein, nein!« rief ich entsetzt. »Ich wollen nicht London nach Antwerpen, ich wollen bezahlen Antwerpen nach London. Ich wollen nur bezahlen, ich wollen nicht reisen; habend schon gereist vom Kontinent nach England. Bezahlen! Antwerpen nach London. Verstehen Sie?«

»Aber der Kuckuck, Sie sind ja in London!« Er sah mich besorgt an. Es ging ihm ein Licht auf: mit mir war es offenbar nicht ganz richtig.

»Das der Fehler, mein Herr!« sagte ich, mich innerlich zur Ruhe ermahnend. »Ich in London, habend nichts bezahlt am andern Ende, und wünschen zu bezahlen Passage, Überfahrt. Verstehen Sie? Antwerpen, London!«

Er streckte jetzt den Kopf aus dem Schalter, um mich deutlicher zu sehen. Solche Leute waren ihm noch nie vorgekommen. Er hatte sichtlich begriffen und wurde freundlich.

»Na nu!« sagte ich fast schmeichelnd, indem ich einundzwanzig Franken auf das Zahlbrett legte.

»Ja, lieber Freund,« sagte er nach einer langen Pause, in der er mich vollständig eingesogen hatte, langsam und sichtlich bemüht, verstanden zu werden. »Wir verkaufen hier keine Billette für die Fahrt von Antwerpen nach London. Da müssen Sie wieder nach Antwerpen fahren, und ich glaube, es wäre für Sie das beste. Oder wenn Sie mit dem Kapitän des Schiffes sprechen wollten; vielleicht nimmt der Ihr Geld. Hier können wir's nicht brauchen.«

»Aber der Teufel! Wo finde ich den Kapitän in dieser großen Stadt?« rief ich erregt.

»Sie brauchen nicht zu fluchen, wackerer, junger Mann,« antwortete der Kassier, sanft den Kopf schüttelnd; »Sie sind eine Merkwürdigkeit. Wenn ich Zeit hätte, würde ich Ihnen suchen helfen. Jack, wo ist Kapitän Brown?«

»Er sitzt drüben im Goldenen Drachen!« piepste eine dünne Jungenstimme aus einer Ecke des Bureaus.

»Haben Sie's gehört? Haben Sie verstanden? Drüben über der Straße, unmittelbar über der Straße! Im Goldenen Drachen. Brown wird Ihr Geld schon nehmen, wenn Sie ihm zusprechen. Adieu!«

Ich dankte dem braven Herrn in unartikulierten Lauten und fand mich erfolgreich über die Straße in die düstere Schenkstube des Goldenen Drachens. Ein langer Schenktisch trennte auch sie in zwei Hälften. Auf der einen Seite, deren Hintergrund, halb Keller, halb Apotheke, mit einem phantastischen Aufbau von Fässern und Flaschen geziert war, befanden sich sechs elegant gekleidete Damen mit großartigen Chignons, die sich bemühten, vierundzwanzig weniger elegante Gäste auf der andern Seite feucht zu erhalten. Auch hier brannte Gas. Alles stand, alles schwatzte, lachte und trank; schwarze, braune und goldgelbe Biere, wunderliche Weine, heiße und kalte gebrannte Wasser aller Art, aus denen die Damen mit großer Behendigkeit dampfende Gemische brauten. Und alles war für mich neu, fremd, unheimlich. Hier galt es nun, Kapitän Brown zu finden, dessen Bild, wenn ich es je aufgefaßt hatte, mir in den Tiefen der Seekrankheit völlig entschwunden war. Ich beobachtete eine Zeitlang meine Umgebung und entdeckte nichts Ermutigendes; rote Nasen, triefende Augen, scheinbar halbbetrunkene Matrosen, ein paar ältere Damen von unzweifelhafter sozialer Stellung; aber auch einige anständig aussehende Herren, die hereinhuschten, rasch und stumm ein Glas leerten und wieder in den Mittagsnebel hinausstürzten. Meine Beobachtungen führten zu keinem Ergebnis. Es mußte etwas geschehen. Ich stellte mich an den Schenktisch, sah mich um, wie wenn ich die ganze Gesellschaft freihalten wollte, und rief laut: »Kapitän Brown! Kapitän Brown!«

 

Mein Nachbar, ein kleiner, dicker Mann mit Riesenknöpfen an seiner Jacke, die aus dem Fell eines unbekannten wilden Tieres gemacht zu sein schien, drehte sich langsam um.

»Ich bin Kapitän Brown. Was wollen Sie von mir?«

Viktoria! Aber jetzt galt es wieder, sprachlich zu glänzen. Die ganze Schenke lauschte gespannt.

»Ich bezahlen wollen Billet Antwerpen-London; sechzehn Schilling, sechs Pence!« begann ich entschlossen. »Zweite Klasse. Verstehen Sie?«

»Ich bin nicht der Purser!« sagte der kleine Mann mit düster werdender Miene. »Da müssen Sie ins Bureau hinauf. Dort sitzt das Federvolk. Der dritte Schalter, rechts! Fragen Sie nach Mister Whitley.«

»Aber ich tue kommen von Mister Whitley,« erklärte ich. »Ich tue wünschen sprechen mit Sie, Kapitän Brown, nicht habend bezahlt meine Passage.«

Nach einer Viertelstunde harter Arbeit, an der sich der größere Teil der Gesellschaft beteiligte, verstanden wir uns; aber der Schweiß stand mir auf der Stirn.

»Well,« sagte der Kapitän, »Sie sind eine Kuriosität. Wenn Sie mit Gewalt wollen: her mit dem Geld! Man muß die Ehrlichkeit bei diesen Ausländern ermutigen.«

Er steckte meine einundzwanzig Franken mit wohlwollendem Lachen und unbesehen in die offene Tasche und schüttelte mir die Hand. »Was wollen Sie nehmen? Ein Glas Ale? Einen Sherry? Hallo, Jungen!« – Der Kapitän schien plötzlich von Freunden umringt zu sein. – »Was wollt Ihr nehmen? Brandy? Whisky? Ale, Porter, Stout? Jeder nach Belieben; ich bezahle. Wir trinken auf die Gesundheit dieses Gentleman; meines Freundes. Mister Dingsda. Wie heißen Sie?«

Sie begrüßten mich alle freudig. Der Kapitän erzählte sechsmal hintereinander – eine prächtige sprachliche Übung mit kostenlosen Repetitionen für mich – wie er seinen neuen Freund gewonnen habe. Sie begrüßten mich aufs neue mit allen Zeichen wohlwollender Herablassung und erzählten sich untereinander, wie Kapitän Brown zu seinem neuen Freunde gekommen war. Die feinste der Damen hinter dem Schenktisch wechselte das Zwanzigfrankenstück in ehrliches englisches Geld um. Wer beim ersten Umtrunk Bier genommen hatte, nahm beim zweiten ein Glas Whisky und umgekehrt. Ich selbst wollte heute nicht schon wieder, und so früh am Tag, Ale trinken. Es war mir von Antwerpen her noch zu wohl in Erinnerung. Ich wählte Sherry. Es war ja ebenfalls ein nationales Getränke der Engländer, und die kleinen Weingläschen, die hierfür üblich sind, ließen ein Experiment leichter ausführen und gefahrloser erscheinen. Der Kapitän zahlte alles aus der Tasche, in der sich mein Überfahrtsgeld befand. Er duldete keine Einrede.

»Also nochmals und zum Schluß, meine Herren,« rief er, »auf die Gesundheit dieses Gentleman. Ein ehrlicher, rarer Dutschman, oder was er sonst sein mag! Hipp, hipp, hurra!«

Sie wollten mir offenbar alle Ehre antun. Wir tranken, wir schüttelten uns die Hände; es wurde fast eine Völkerverbrüderung daraus; selbst ein Chinese beteiligte sich schmunzelnd. Warum sollte ich mich sträuben? Sie meinten es sichtlich alle herzlich gut. Mein Sherry hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Ale, das mir noch von Antwerpen her in freundlicher Erinnerung lag. Es war nicht ganz dasselbe, aber merkwürdig ähnlich.

Dann trennten wir uns. Der Kapitän begleitete mich bis unter die Türe und versicherte mich wiederholt seiner unbegrenzten Hochachtung. Ich hatte in dieser Stunde einen Freund fürs Leben gewonnen, was ich erst zwölf Jahre später an der Küste von Peru erfahren sollte.

Vergnügt steuerte ich wieder dem stillen Middletonsquare zu. Meine erste englische Expedition war glänzend gelungen und erfüllte mich mit freudiger Hoffnung für die Zukunft. Auch hatte ich jetzt einen Lebensplan für die nächsten Wochen festgelegt. Ich wollte ruhig in der grünen Oase sitzen bleiben und zunächst mein Englisch etwas mehr den Verhältnissen anpassen, die mich hier umgaben. Drei Wochen konnten hierbei nicht wohl nutzlos vergeudet werden. Dann aber hinaus, in bitterem Ernst!

Als ich in mein Zimmer trat, fand ich einen soeben angekommenen Brief auf dem Tisch. Von Belgien. Hat am Ende Cockerill in Seraing seinen Irrtum eingesehen und will mich nun mit Gewalt zurückholen? Zu spät, Verehrtester! Trop tard! um mich Ihnen verständlicher zu machen. Ich erbrach den etwas schmutzigen Umschlag.

Keine kaufmännische Handschrift, wie sie die Leute von Seraing schreiben; auch kein ganz musterhaftes Französisch. Aber leserlich und deutlich genug. Es war ein Schreiben des Schwarzen Ankers aus Antwerpen.

»Monsieur!

Verzeihen Sie, daß wir uns beehren, Sie zu benachrichtigen. Sie haben am 4. April 1861 eine Flasche Englisch Ale bestellt und eine Flasche Sherry vertrunken. Vom feinsten Sherry, zu zehn Franken fünfzig Centimes die Flasche. Unsre Marie hat eine Verwechslung gemacht, und Sie haben den Irrtum getrunken. Dann sind Sie so schnell abgereist, ehe wir es bemerkt haben. Da Sie nicht wollen unglücklich machen unsre Marie, die die Flasche ersetzen muß, bitte ich den Herrn Baron, zu schicken la différence, nämlich neun Franken, dreißig Centimes.

Um ferneren Zuspruch bittend

Agréez, Monsieur, l'assurance de nos sentiments les plus distingués.

Jean Pumperlakengarçon et chef de cuisine de l'ancre noireà Anvers.«

Nun war mir manches klar: mein wachsender Mut, mein kühner Entschluß, mein stürmisches Abschiedslied, das bis zum heutigen Tag kein Mensch zu lesen vermochte.

Und wenn ich heute, nach bald vierzig Jahren, zurückdenke an den Anfang meines Wanderlebens, an das wunderbare englische Bier und an den blinden Passagier von damals, so kann ich mich nicht enthalten – und will's nicht –, noch eines andern Versleins zu gedenken, aus einer Zeit, die weiter zurückliegt, fast an der Schwelle meiner Kindheit. Es fängt mit den Worten an: »Weg' hast du allerwege« und ist wahr geblieben, bis ich wieder einlief im alten Hafen.