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Dalmatinische Reise

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So weit sich in Öl denken läßt, überlege ich, warum wohl diese Menschen eigentlich reisen mögen. Auf den Schiffen stecken sie die Köpfe zusammen und erzählen sich Anekdoten. Manchmal nennt einer den Namen einer Insel, da sehen sie hin und sagen: A! Und schon stecken die Köpfe wieder beisammen. In den Hotels interessiert sie die Kost, und sie vergleichen, was man um dasselbe Geld in Wiesbaden, Ischl und Sorrent zu essen kriegt. Zuweilen lassen sie sich von einem Führer durch die Stadt treiben, der ihnen ungeduldig Daten zuwirft, die er aus dem Baedeker hat. Und sie verlassen das Land, ohne jemals mit einem seiner Bewohner ein Wort gesprochen zu haben. Der Hofrat Burckhard hat einmal einer Dame von Rom erzählt, da rief sie, den Gatten stupfend: »Ach ja, Rom! Erinnerst du dich? Da wo uns der liebe weiße Pudel zugelaufen ist!«

Der reiche Reisende hat für ein Land wirklich bloß einen wirtschaftlichen Wert. Der arme, der Student, der junge Künstler, der Lehrer, hat auch einen geistigen. Denn der lernt das Volk kennen und es ihn. Den hätte Dalmatien nötig. Der könnte dann, heimgekehrt, von diesem wunderbaren Land erzählen, und von der tiefen Not, in der sein edles Volk gefangen liegt. Und dies wäre der Tag der Freiheit. Denn das heutige Dalmatien wird unmöglich sein, sobald man nur einmal davon weiß.

Ein einziges Mal möchte ich, bloß eine Woche lang, zehn ruhige rechtliche Männer, Kaufleute, Landesgerichtsräte, Hausbesitzer aus Krems oder Steyr, durch Dalmatien geleiten!

8

Wieder nach Cattaro. Doch der Paß ist noch immer verschneit. Keine Post nach Cetinje. Selbst mein Milo Milosevič kann mir nicht helfen. Also wieder auf das Schiff zurück. Das ist der rechte Tag, im Sonnenschein nach Spalato zu fahren, nach der »Stadt in Illyrien«, wo Orsino Herzog ist, die schöne Gräfin Olivia nach dem verstorbenen Bruder weint und des Junkers Tobias schmatzendes Gelächter durch die Gassen schallt! Wunderlich froh macht mich der Gedanke. Und die strahlende Sonne, der strahlende Schnee, das strahlende Meer! Alles schwebt in linder Lust, alles lächelt und wiegt sich. Ein leises Klingen ist in der lauen Luft. Und die weißen Möven, über dem Schiff, im Sonnenschein! In mir knistert's von Erwartungen. Und es spricht durch meinen Sinn:

 
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist,
Spielt weiter! gebt mir volles Maß!
 

Die Worte des Herzogs verfolgen mich. Gebt mir volles Maß! Wie das Merkwort meines Lebens ist mir das immer. Was sich auch mit mir begibt, mich verlangt nur immer wieder: Spielt weiter, gebt mir volles Maß! So hielt der Knabe schon die gierigen Hände hinaus, dem Leben alles abzunehmen, was es zu geben hat. Und immer dann gleich wieder weiter. Und immer wieder: Spielt weiter! Und immer noch die Qual, daß es noch immer nicht das volle Maß ist. Gebt mir volles Maß!

Wie so ein menschliches Hirn, einmal erregt, questert und quirlt und aus einem Eimer in den anderen schöpft! Plötzlich ist ein altes Wort aus dem Hyperion bei mir: »Meine Seele wallt mir über von mir selbst und hält im alten Kreise nicht mehr.« Und ein anderes springt an, das ich neulich erst las, es ist von Roosevelt: »Ich will euch die Lehre vom vollen Leben verkündigen!« Und dazwischen läutet es immer noch hinein:

 
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist,
Spielt weiter! gebt mir volles Maß!
 

Es ist vielleicht nie Tieferes von der Musik ausgesagt worden, als daß sie der Liebe Nahrung ist. Denn da nun die Liebe der Welten Nahrung ist, ohne die das große Kreisen, ausgehungert, schon verstummt wäre, ist also Musik das wahre Wunderbrot, an dem sich die Schöpfung mästet. Und wer uns die Lehre vom vollen Leben verkündigen will, kann es nur, indem er die Musik in der Menschheit mehrt. Musik aber entsteht, wenn eine Seele von sich selbst überwallt und aus dem alten Kreise bricht. Und ist nichts als ein ewiges: Gebt mir volles Maß! Und indem sie die Liebe nährt, wird sie von ihr aufgezehrt, Musik verhallt, aber ihr Brüder und Schwestern, klagt nicht, sie hat sich nur verwandelt und was von ihr übrig bleibt, ist Liebe. Musik läßt überall bei den Menschen Liebe zurück… Wie die kleinen Wellen da den Mund aufreißen, aber aus ihm springt immer wieder ein Mund, der immer wieder einen Mund auswirft, so speit in mir ein tanzender Gedanke den anderen aus, der, gleich wieder zerstiebend, schon wieder eine neue Zunge zeigt, und bald ist es nur noch ein Kreiseln und Klingeln von flimmernden und gischenden Worten in mir, die sich winden, und ich weiß nichts mehr und fühle nur mein Blut tanzen. Und: spielt weiter, gebt mir volles Maß!

Es ist aber dafür gesorgt, daß der Mensch nicht in den Himmel wächst, und so soll ich plötzlich verhaftet werden, weil ich versucht habe, den Flug der weißen Möven zu photographieren. In Gravosa stürzt ein Büttel aufs Schiff, der mich verlangt. Ich frage noch: »Vom Grafen Orsino wohl, der Herzog in Illyrien ist? Aber Ihr irrt, ich bin Antonio nicht!« Doch klärt man mich auf, daß es der kaiserlich-königliche Kommissär der ragusanischen Polizei, dem telegraphiert worden ist, den Spion mit den langen Haaren zu verhaften. Weil aber der Spion in Zeitungen schreibt, geschieht es nicht, man nimmt mir nur den Kodak ab, und ich erinnere mich, wie sich der Hofrat Burckhard einst als Ochsentreiber hundertfünf Gulden verdient hat, indem er einem alten Bauer half, sein störrisches Vieh nach Sankt Gilgen zu bringen, wofür ihm der fünf Gulden gab, was der Hofrat dann in der Zeitung beschrieb, wofür er von dieser noch hundert Gulden bekam. Das will ich auch, ich will auch meinen Ochsen treiben. Und ich setze mich hin, mein dalmatinisches Abenteuer zu beschreiben.

Lustig ist, wie die Passagiere mir ausweichen, seit ich fast verhaftet worden bin. Man kann ja doch nie wissen! Aber die Leute vom Schiff, Matrosen und Aufwärter, lieben mich seitdem. Ich werde noch einmal so gut bedient. Ich muß doch trachten, nächstens einmal ganz verhaftet zu werden. Spielt weiter, gebt mir volles Maß!

Nun aber will ich die Feder eintauchen und Adjektive fischen, für meinen Ochsentrieb! Es dämmert schon, das Meer geht still. Durch die matten Scheiben sieht in den weißen Dampf von Zigaretten der Abend veilchenblau herein.

In aller Früh reißt es mich aus dem Schlaf. Und auf und fort! Der Sebastian spricht:

 
Sehn wir die Altertümer dieser Stadt!
Laßt uns unsere Augen weiden
Mit den Denkmälern und berühmten Dingen,
So diese Stadt besitzt.
 

Und kaum ist der Sebastian still, spricht mich Malvoglio, spricht mich die zärtlich verbuhlte Gräfin an, und das alte Stück geht mir in allen Gassen nach. Ich lache mich aus, um es abzuschütteln. Aber überall ist die Luft hier von ihm voll.

Diese Stadt sitzt in einem Palast. Ein alter Mann hat seiner Einsamkeit ein Haus gebaut, und in dieses Haus haben sich dann dreitausend Menschen versteckt. Der Tote wehrt sich immer noch und will allein sein. Aber die Lebenden fragen nicht und zwängen sich durch und überall ist Lärm. In die starken alten Mauern haben sie kleine Fenster gebrochen, und blühende Blumen hängen heraus, und lachende Lippen grüßen herab. Ein ungeheures Beispiel starker Menschen ist's, die nichts achten als ihr eigenes drängendes, schwellendes, brennendes Leben. Es gibt keine Stadt, in der der Ruf des Lebens stärker ist. Von hohen Türmen, aus tiefen Kellern, in engen Gassen, zwischen Säulen, durch Tore jauchzt taumelnd das Leben. Hier sind kaum vierzigtausend Menschen, aber man glaubt sich unter hunderttausenden. So laut dröhnt der Schritt des Lebens hier.

Nur der Bezirkshauptmann hört es noch nicht.

Es leidet mich nicht, vor alten Kapitälen zu stehen und an den toten Diokletian zu denken. Die drängende, stoßende, treibende Menge nimmt mich auf und hüllt mich ein und reißt mich mit. Herrlich, sich so zu verlieren, nichts mehr von sich zu wissen, nichts mehr zu spüren als einen starken großen stillen Strom! Und während rings um mich, in einer Sprache, die mir unbekannt ist, das Leben spricht, fällt mir ein alter Spruch des weisen Schlesiers ins Gemüt:

 
Je mehr du dich aus dir kannst austun und entgießen:
Je mehr muß Gott in dich mit seiner Gottheit fließen.
 

Und mitten in dem scharfen brenzlichen Geruch dieser bäurischen Städter mit ihren zottigen Kutten ist es mir eine selige Lust, mich aus mir ganz auszutun und zu entgießen. Sie drängen mich, sie schieben mich, ich weiß nichts mehr, ich will nichts mehr, durch unbekannte Gassen geht's, hier lacht ein Gesicht, dort zürnt ein Auge, mich aber trägt in festen Armen eine Macht dahin. Und nur manchmal sagt es leise noch in mir: Jetzt müssen wir aber doch gleich beim Garten der Gräfin Olivia sein!

Ärzte sollten Nervösen verordnen, das Gewühl von Massen aufzusuchen. Nichts tut Ängstlichen oder Unruhigen besser, als wenn ihnen einmal die Selbstbestimmung abgenommen wird und sie sich treiben lassen. Der Wille ruht aus und wir sind ja wahrscheinlich alle im Willen krank. An der Entfernung von der Gemeinschaft kranken wir. Dem Menschen ist nun einmal zugewiesen, erst im anderen sich selbst zu finden. Worauf man sich denn ebenso einen reaktionären als einen demokratischen Vers machen mag. Hauptsächlich aber einen erotischen. Ich glaube, daß, was den Mann zum Weibe treibt, zuletzt dieselbe Macht ist, die Massen beseelt. Das liebende Paar, der Marsch von Knaben in gleichem Schritt und Tritt, die Kirche, die Gemeinde, die Stadt, das Volk, der Staat, es sind alles nur Erscheinungen, Verwandlungen desselben Triebs. Bei katholischen Prozessionen, wo Eros in allen seinen Gestalten mitgeht, spürt man das sehr stark. Alle Mysterien, von Eleusis bis Echternach, wurzeln darin. Alle Propheten haben es gewußt. Und es ist sonderbar, daß es in unserer Zeit nur einer gewußt zu haben scheint: Walt Whitman. Vielleicht der einzige bisher, der die Demokratie wirklich erkannt hat: als Erfüllung des Eros.

 

Und nun, auf dem Markt in das Café Troccoli tretend, bin ich plötzlich entführt, wie durch Faustens Mantel. Draußen ist der Orient in allen Farben, aber drinnen das Quartier latin, mit langen Haaren, fliegenden Krawatten und dem Tumult atemloser Reden. Junge Maler sind's, die hier, beim Diokletian, einen Boul' Mich' etablieren.

Ich sinne dem Diokletian nach. Ein dalmatinischer Bauer, der Kaiser wurde, ein glücklicher Feldherr, ein großer Verwalter, ein Künstler war, die Macht verachten lernte, Rom haßte, den Thron verließ und wieder in die Heimat ging, um in großer Pracht ein Eremit zu sein. Salomon und Cäsar und der große Fritz und der zweite bayrische Ludwig in einer Person. Mit Zügen eines asiatischen Schwelgers, eines Landsknechts, eines aufgeklärten Despoten, eines Artisten und eines Weisen. Vom Feldwebel zum Kaiser. In Ägypten und an der Donau Sieger. Zwanzig Jahre lang Herr der Welt. Mit den Höflingen grausam, ein Freund der Armen. Ein Organisator. Der Erbauer der Thermen in Rom. Die Christen verfolgend. Und dann nach zwanzig Jahren der Tat, des Ruhms, der Macht wieder heim. (Wie Shakespeare dann wieder nach Stratford heimritt.) Und sitzt dann noch neun Jahre hier und sieht über das Meer hin und hört noch die heidnische Welt zerbrechen und die verhaßten Christen siegen. Er stirbt, Salona fällt, das Volk flüchtet vor den Avaren in den Palast, den er seiner Einsamkeit erbaut hat, und der schweigsame Palast verwandelt sich in eine lärmende Stadt.

Mittag wird's, die kroatischen Pariser gehen, ihre großen Hüte schwenkend, wie die Gascogner Kadetten. Ihre Lustigkeit hat mich angesteckt. Es freut mich auf einmal gar nicht mehr, an den alten Diokletian zu denken. Und morgen ist Fastnacht! Wie dumm, in der lauten Stadt allein zu sein und Steine anzusehen, in der Stadt des Junker Tobias!

Ich will essen gehen. Und dann Nachmittag nach Salona. Und es wäre doch wirklich talentlos, wenn mir gar nichts begegnet in der Stadt der munteren Jungfer Maria.

Essen ist nun in Spalato kein Vergnügen. Ein kahler Raum; es riecht wie in einem Keller. Mißmutige Kellner in fleckigen Fräcken. Alles greift sich naß an. Und die Gäste sind der Kellner wert. Leopoldstadt. Daß da draußen, keine hundert Schritte weit, das blaue Meer sein soll, ist unglaublich. Mitten unter ihnen aber sitzt – ich reibe mir die Augen – nein, du bist wach, die Sonne scheint und draußen ist das blaue Meer und hier, gleich am nächsten Tische neben mir, sitzt wirklich die Gräfin Olivia, hochgeboren. Ich bin nicht talentlos.

Sie hat sehr schönes rotes Haar, ein feines weißes Gesicht mit einem unartigen Näschen, erfahrene Lippen, ein englisches Kleid, das von Zwieback sein wird, und einen sehr ungeduldigen erlauchten Ton mit den Kellnern. Ich rate hin und her, was ich aus ihr machen soll. Am ehesten vielleicht noch die Frau eines Offiziers, der in's Land hinein abkommandiert ist. Indem sie sich von meinen Blicken auskultiert fühlt, werden die weißen Wangen rot, der arge Mund zornig, das Näschen bübisch und sie beugt sich auf den Teller herab vor, so daß ich jetzt nur noch den roten Helm ihrer Haare sehen kann. Während ich sie dafür durch Gleichgültigkeit strafe, steht auf einmal gegenüber ein dicker alter Herr auf, tritt an meinen Tisch und fragt mich, ob es wahr ist, daß ich der berühmte Hermann Bahr bin. Ich antworte, daß ich das nicht weiß. Er sagt, gekränkt: Das müssen Sie doch wissen! Ich sage, gereizt: Das kann ich nicht wissen! Er sagt: Jeder Mensch weiß, wer er ist. Ich sage: Kein Mensch weiß, wer er ist. Er fragt: Also sind Sie nicht der Hermann Bahr? Ich antworte: Ja ich bin ein Hermann Bahr! Er sagt: No dann sind Sie's! Und er stellt sich vor und ladet mich ein, den schwarzen Kaffee mit ihm zu nehmen, aber nebenan im anderen Saal, weil es dort nicht so kalt ist, denn er hat die Gicht. Ich antworte nicht gleich, weil er gar nicht so verlockend ist, da wendet sich der alte Herr zur Gräfin Olivia, nebenan am Tisch, und sagt: Und vielleicht das Fräulein auch oder die gnädige Frau? Nun liegt der rote Helm ganz auf dem Teller. Ich sage: Gehn Sie nur voraus, ich komme dann vielleicht nach. Olivia schweigt. Er sagt: Denken Sie nichts Schlechtes von mir, Fräulein oder gnädige Frau, schauen Sie doch meinen weißen Bart an, aber ich glaube halt, daß Sie sich langweilen! Eigentlich ist er sehr nett und ich bin ein Rüpel. Aber der rote Helm im Teller schweigt. Der Alte geht.

Ich bleibe noch ein paar Minuten, zahle gemächlich, stehe dann auf, nehme meinen Hut und meinen Rock und frage: Werden Sie nun zu dem braven alten Herrn gehn?

Unter dem roten Helm hervor antwortet es: Wenn Sie gehen!

Ich will das aber noch deutlicher haben und frage: Ohne mich nicht?

Es ist doch sehr hübsch von ihr, daß sie gleich antwortet: Nein.

Da sage ich: Aber wozu brauchen wir dann erst den braven alten Herrn?

Sie wiederholt, lachend: Nein. Den braven alten Herrn brauchen wir wirklich nicht.

Ich schlage vor, lieber nach Salona zu fahren. Sie will nur noch rasch telephonieren. Indem wir dann zum Wagen gehen, sagt sie: Ihre Photographie hängt nämlich seit fünf Jahren in meinem Zimmer. Und es kommt heraus, daß die Gräfin Olivia Schauspielerin geworden ist und einmal in einem meiner Stücke mitgetan hat. Und in Salona will sie mich in das Haus einer Freundin aus Sarajevo bringen, die meine Bücher mag. Und für den Abend hat sie mir telephonisch geschwind einige Leute bestellt, und es sind gerade die, an die ich Empfehlungen mit habe. Das menschliche Leben ist höchst einfach. Man muß nur so talentvoll sein, sich um die rechte Stunde im richtigen Gasthaus an den rechten Tisch zu setzen.

Vormittag bei Diokletian, dann in den slawischen Wogen der Gassen, am venezianischen Rathaus vorüber ins Quartier latin, jetzt im Wagen mit einer heiteren Wienerin, die Ibsen spielt, ins Land hinein, das ganz spanisch wirkt. Wirklich, wie um Burgos herum ist die Landschaft hier, in ihrem großen, unmenschlichen, barbarischen Ernst, der die Bäume, jedes Haus, jede Regung eines einzelnen Geschöpfs verschlingt. Esel traben; in den Säcken, zwischen Körben oder auch hinter der Last sitzt oder liegt lässig ein sorglos lallender Mensch; man sieht kaum, ist es ein Mann oder ein Weib oder ein Kind, man sieht nur einen bunten Fleck, ganz hinten auf dem Esel, und während der Esel trabt, steigt aus dem bunten Fleck ein stammelnder, flackernder, wankender Gesang. Aber schon hat auch den trabenden Esel mit dem bunten Fleck die furchtbar unbewegliche Strenge dieser zeitlosen, grundlosen, leblosen Landschaft verschluckt. Ich suche vergebens, das Gefühl zu nennen, das ich hier habe: von einer gänzlichen Leere zugleich und doch auch einer ungeheuren Größe. Als hätte Gott hier zunächst erst bloß den Raum erschaffen, und der stünde nun wartend da, bis Gott ihn später einmal füllen wird.

Da blitzt vor uns, am Ende des Blicks, hoch auf dem steilen Berg, ein krachendes Weiß auf. Etwas ungeheuer Lebendiges hat dieses Weiß, in der Grabesstille des erstarrten Raums. Wie das Leben selbst winkt dieses blühende Weiß. Es ist Clissa, die Feste, die das Tal sperrt. Kroatisch, venezianisch, ungarisch, türkisch, wieder venezianisch, österreichisch, französisch und wieder österreichisch ist seine Vergangenheit gewesen. Jetzt steht ein Korporal mit einem Zug unserer Soldaten dort.

Plötzlich erscheint ein blauer See, die Bucht von Salona, wir kommen über die alte türkische Brücke, Häuser blinken hell, die ganze Landschaft ist verwandelt, die Gräfin Olivia schildert mir ihre Nora, da halten wir schon bei ihren Freunden, eine junge Frau von einer seltsamen schweren maurischen Schönheit kommt uns entgegen und ich habe mich in dem ein wenig sezessionistelnden Zimmer, das ein Porträt Tolstois und eine große Reproduktion des Klingerschen Beethoven beherrscht, noch kaum behaglich gesetzt, als ich der gierig fragenden Frau mit den heißen schwarzen Augen vor allem von der Elektra erzählen muß, und überhaupt von Richard Strauß und wie das in Dresden alles gewesen ist. Dann erst gehen wir in die tote Stadt Salona, die, schon im 4. Jahrhundert v. Chr. griechischen Kolonisten gastlich, dann römisch, von Goten und Hunnen bedroht, im Jahre 639 von den Avaren zerstört worden ist. Wo wir aber hauptsächlich von d'Annunzio reden, in den aufgedeckten Tempeln und Bädern mit seiner blinden ahnungsvollen Anna wandelnd.

Bulič, der Schliemann von Salona, hat sich hier ein lustiges kleines Haus gebaut, ein bißchen kitschig, in einem nicht sehr glaubwürdigen altchristlichen Stil möbliert, mit allerhand Urnen, Steinen von Sarkophagen, Kapitälen als Leuchtern, Inschriften und Fragmenten. Hinter dem Häuschen beginnt das Manastirine (manastir oder namastir heißt das Kloster, namastirište der Ort, wo einst ein Kloster gewesen ist), der Bezirk der Ausgrabungen. Uns aber führt d'Annunzio, die Gräber der Atriden tun sich auf, mit den Leichen in Gold, das Fieber unvergessener Schrecken quillt, der Schatten Klytemnästras steigt und so sind wir wieder bei Richard Strauß, während über dem blauen Dunst des Abends das erblassende Weiß der alten Feste Clissa thront.

Und dann sitzen wir abends noch lange wieder unter dem Bilde des alten Tolstoi. Diese kleine Frau mit den großen schwarzen Augen ist merkwürdig. In Tanger sah ich solche Jüdinnen, die den unsrigen nicht gleichen, sondern in ihrer schweren schwellenden Anmut eher etwas Türkisches haben. Sie ist die Tochter eines Juweliers in Sarajevo, hat aber durchaus die geistige Form einer westlichen Intellektuellen. Dem Leib Suleikas scheint durch ein Wunder der Geist Mirbeaus eingegeben. Ihr Mann, ein Ingenieur, der hier eine Zementfabrik einrichtet, setzt sich ans Klavier und spielt aus dem Lohengrin. Sie tritt zu ihm und singt mit ihrer kindlichen Stimme bosnische Lieder. Und dann kommt noch, die lustige Verwirrung zu vollenden, aus der Stadt der Doktor Tartaglia, der der Sohn eines italienischen Grafen und ein fanatischer Anwalt der kroatischen Demokraten ist. So haben wir jetzt, in der geistigen Luft von Beethoven, Tolstoi und Richard Strauß, hier beisammen: eine Wiener Ibsenspielerin aus der Schule Jarnos, eine türkische Jüdin mit nordwestlichen Empfindungen, einen Ingenieur und Wagnerianer, einen gräflichen Demokraten von italienischem Namen und kroatischer Gesinnung und einen Wiener Hausherrn aus Linz vom Deutschen Theater in Berlin; hier am Adriatischen Meer, im Salona der Argonauten, das zum Kampf der Griechen um Troja zweiundsiebzig Schiffe gestellt hat, unweit der von Shakespeare belebten Stadt Spalato, die einst der Palast des Kaisers Diokletian war, in Gesprächen über Olbrich, d'Annunzio, Klimt, die Duse, Masaryk, den Trialismus und die Sezession. Dies ist Österreich.

Die Tartaglias sind einst auf einem Kastell da droben irgendwo gesessen. Da waren sie Kroaten. Da haben sie mit den Türken gerauft. Ein Türkenschädel wird in der Familie noch aufbewahrt. Dafür wurden sie zu venezianischen Grafen gemacht. So waren sie plötzlich Italiener. Bis dann dieser hier, der Ivo, nach Prag kam, da besann er sich eines Tages und entdeckte wieder, daß sie Kroaten sind.

Das haben die Menschen in Österreich voraus, daß sich hier, wer nur ein wenig über sich nachdenkt, als ein Ergebnis vieler Verwandlungen erkennt. Anderswo hat es der Nachkomme leicht, das Erbe der Väter anzutreten, denn es enthält einen einzigen Willen und überall denselben Sinn. In uns aber rufen hundert Stimmen der Vergangenheit, der Streit der Väter ist noch nicht ausgetragen, jeder muß ihn aufs neue noch einmal entscheiden, jeder muß zwischen seinen Vätern wählen, jeder macht an sich alle Vergangenheit noch einmal durch. Denn die Vergangenheit unserer Menschen hat dies, daß keine jemals abgeschlossen worden ist, nichts ist ausgefochten worden, der Vater weicht vor dem Sohn zurück, aber im Enkel dringt er wieder vor, niemand ist sicher, jeder fühlt sich entzweit, unseren Menschen ist zu viel angeboren. Anderswo mag einer getrost den Vätern folgen, wir können es nicht, denn unsere Väter, uneinig unter sich, rufen erst unser Urteil an. Je ne puis vivre que selon mes morts, hat Barrès gesagt. Wir aber können nicht nach unseren Toten leben, weil wir zerrissen würden, denn jeder unserer Toten zerrt uns anders. Nous sommes la continuité de nos parents, sagt Barrès, toute la suite des descendants ne fait qu'un même être. Wir sind noch nicht soweit; wir haben es noch nicht dazu gebracht, aus Vorfahren und Nachkommen ein einziges Wesen zu machen; dies ist vielmehr eben erst unser Problem, das unsere Generation überhaupt erst erkannt hat. Aus den bosnischen Tartaglias, die dort in den Bergen gegen die Türken standen, und den italienischen Tartaglias, die gräflich in venezianischen Sitten schwelgten, nun einen gemeinsamen Tartaglia zu machen, der jene mit diesen so verschmilzt, daß beide sich in ihm erfüllen, ist das Problem des heutigen Tartaglia. Und meines ist, den frohen deutschen Sinn des jungen Webers, der vor zweihundert Jahren vom Rhein nach Schlesien kam, in das ängstliche Gemüt gehorsamer Staatsdiener und den eingeborenen Trotz des unbändigen Oberösterreichers so zu gewöhnen, daß jeder meiner Väter schließlich in mir Platz hat. Als wir uns vor zwanzig Jahren erhoben, war in Österreich der Wahn, man könne ein vaterloses Leben führen. Das nannte man Liberalismus bei uns. Wir aber erkannten, daß alles Leben darin nur besteht, ein Ende mit einer Vergangenheit und so den Anfang mit einer Zukunft zu machen. Doch Vergangenheit ist nie zu Ende, bevor sie nicht ein neuer Mensch in sich aufgesaugt hat; so lange muß ihr Gespenst unerlöst auf Gräbern irren. Und Zukunft hat erst begonnen, wenn in einem neuen Menschen alle Väter versammelt sind. Darauf hoffen wir, damit ringen wir, daran leiden wir, wir. Jetzt aber ist wieder eine neue Jugend da.

 

Diese Menschen, mit denen ich hier sitze, sind alle noch unter dreißig. Und mir ist es ein wunderschönes Gefühl, wie schnell wir in Erfüllung gegangen sind! Unser Leiden, unser Ringen, unser Hoffen, hier ist es gestillt. Es hat sich in ruhige Kraft und einen heiteren Willen verwandelt. Diese neue Jugend sucht nicht mehr, zweifelt nicht mehr, bangt nicht mehr. Sie weiß, was sie will, und sie weiß, daß sie's kann, sie wird es wagen. Sicher ist sie, ihrer selbst gewiß und von entschlossener Freudigkeit. In ihr sind die Väter erlöst, Zukunft ist da. Wir sind nur durch die Welt gerannt, unserer Sehnsucht nach. Diese stehen fest, in Bereitschaft, frohen Taten entgegen. Österreich kann beginnen.

Ich möchte noch dabei sein. Ich möchte noch Österreich erleben. Spielt weiter, gebt mir volles Maß!