Devolution

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»In unserem Glauben ist Gott der gütige Vater. Und genauso sehe ich es auch. In dieser Situation, glaubst du, dass dein Vater dich verstoßen würde, wegen dem, was du getan hast? Nein. Er wäre stolz auf dich. Er würde dich vielleicht sogar bewundern für das, was du deinen Mitmenschen gibst. Du hast geholfen – nicht getötet. Das Wort hast du da ganz richtig gewählt.« Er zögerte. »Ich finde es bewundernswert, was du getan hast. Hast du dich gegen Gott aufgelehnt? Bist du eigene Wege gegangen und eigenen Plänen gefolgt? Dann hör auf damit! Kehr deinen alten Leben den Rücken zu und komm zum Herrn! Er wird sich über dich erbarmen! Unser Gott vergibt uns, was auch immer wir getan haben! Jesaja 55,7.«Tom lachte kurz auf. »Im Endeffekt hast du ihnen wohl das gegeben, was ich den Menschen in der Kirche nur gepredigt und versprochen habe.«

Tom fühlte sich gut, Chris so etwas sagen zu können. Chris hatte ihm wohl noch viel schlimmere Geschichten erzählt als das, was er nun vor Noah preisgegeben hatte. Aber Tom hatte eines im Auge gehabt: Er hatte Chris helfen wollen, ihm vielleicht wenigstens ein bisschen Hoffnung geben. Das war er ihm schuldig gewesen – und das war auch das einzige, was er in den letzten Monaten immer und immer wieder versucht hatte. Dabei war es wohl pure Ironie, dass er als einziger keine Hoffnung für sich sah.

»Darauf ein Schluck Bier«, erwiderte Chris bitter. Er legte Tom die Hand auf die Schulter und ließ sie eine Weile liegen. Das Beben in seinen gräulichen Fingern wurde etwas weniger. Er schaute ihm nicht in die Augen, sondern blickte nur auf seine Füße.

»Was hast du denn den Menschen versprochen?«, fragte Chris irgendwann.

»Frieden. Ruhe. Keine Angst – genaugenommen das absolute Gegenteil von dem, was wir derzeit hier haben.«

»Eine schöne Vorstellung«, murmelten sowohl Chris als auch Noah nachdenklich.

»Aber jetzt mal im Ernst, werden wir jetzt den ganzen Abend so düstere Themen haben? Ich dachte, wir wollen Spaß haben! Das Leben genießen – solange wir es noch haben!«, brach Noah die Stille. Er wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Vielleicht, weil ihm die letzten Eindrücke, die er gesammelt hatte, viel zu schwer vorkamen, als dass er die letzten Stunden mit so etwas verbringen wollte.

Die beiden blickten ihn an und lachten. »Du hast recht«, grinsten beide. Sogar Chris wirkte dabei überzeugt.

»Wir hätten uns vielleicht überlegen sollen, was wir tun, bis es so weit ist«, dachte Tom laut.

»Hätten wir etwa Brettspiele mitnehmen sollen?«, meinte Chris schief.

»Wir könnten ein Trinkspiel spielen«, schlug Noah vor.

»Zu wenig Bier«, entgegnete Tom kopfschüttelnd.

»Na super. Müssen wir jetzt etwa dem Ende der Welt nüchtern entgegentreten?«, entrüstete sich Chris.

»Wir können ja noch in die Stadt gehen. Die meisten Wohnungen dürften eh leer stehen. Und vielleicht finden wir auch irgendwo in einem Keller oder einer Kneipe noch etwas Alkohol«, meinte Noah, der sich nun, da er wieder nüchtern war, nach nichts mehr sehnte, als wieder betrunken zu sein.

Seit er nüchtern war, geißelten ihn die Bilder, die er in den letzten Stunden hatte sehen müssen. Und wenn die einzige Möglichkeit, diese Bilder verblassen zu lassen, die war, dass er sich betrank, dann musste es wohl so sein.

»Wir müssen aber auf jeden Fall auf Mick warten«, gab Tom zu bedenken.

Plötzlich kam Noah ein Gedanke. Wenn sie in die Stadt gingen, war die Möglichkeit, dass sie noch andere Menschen trafen, ungleich größer, als wenn sie einfach hier auf der Bank sitzen bleiben würden.

Baumelnde Kinder, tote Menschen, kopulierende Körper. Hier waren alles, was sie sehen konnten, der See, ein wunderschönes Panorama und das Ende der Welt. Er überlegte kurz, ob er seinen Freunden diese Ängste erzählen sollte, entschloss sich aber dagegen.

»Gut, dann sollten wir vielleicht warten, bis Mick da ist, dann können wir ja los«, meinte Tom und klang dabei wie ein Diplomat. »Vielleicht können wir ein Auto nehmen. Stehen ja genug rum.«

»Ja. Können wir«, murmelte Noah, der immer noch die Bilder der Kinder vor seinem inneren Auge tanzen sah wie Derwische, die ihn quälten.

»Was hast du eigentlich mit deinem Kater gemacht?«, fragte Chris nach einer Weile.

Ein Schlag in die Weichteile wäre für Noah weniger schmerzhaft gewesen. Er zuckte zusammen und zündete sich eine neue Zigarette an, bevor er antwortete.

»Ich hab ihm den Hals gebrochen«, sagte er trocken. Die beiden starrten ihn kurz entgeistert an. Selbst in dieser Zeit, in der ein Leben nicht mehr wert war als ein halbes Dutzend Stunden, wirkte es noch erschreckend, wenn jemand so kaltschnäuzig davon erzählte, was er mit seinem treusten Begleiter gemacht hatte.

»Immerhin hat er es jetzt hinter sich – und muss nicht verbrennen«, schob Chris ein. Den letzten Teil des Satzes flüsterte er fast.

Noah seufzte. Das Verlangen, seinen Freunden seine Angst zu offenbaren, brannte in seiner Brust, aber er hielt es mit stoischer Selbstbeherrschung zurück. Er sehnte sich in den leicht abgehobenen Drogenzustand zurück, der ihn zuvor wie eine Rüstung vor allen Ängsten beschützt hatte. Er war abhängig geworden, ziemlich sicher sogar, aber das war jetzt egal.

Die drei blickten fast synchron auf ihre Armbanduhren.

»Wann kommt Mick wohl endlich?«, fragte Tom halblaut mehr sich selbst als die anderen.

»Kommt wohl nur darauf an, wie gut SIE ist«, versuchte Noah mit einem schlechten Witz seine Sorgen wenigstens ein bisschen abzulenken. Er wünschte sich, dass Mick nicht kommen würde. Dann müssten sie nicht in die Stadt und er müsste nicht noch mehr schreckliche Dinge sehen.

Er setzte an, wollte seine Einwände formulieren, brach aber mitten in der Bewegung ab. Seine Freunde merkten es gar nicht.

Sein Blick ging zum Himmel. Man sah ihn jetzt. Er war groß und hell, wie eine zweite Sonne, nahm immer mehr Platz am Himmel ein und schien mit jedem Wimpernschlag größer und bedrohlicher zu werden.

Die beiden anderen lachten noch über seinen Witz, der Micks Verhalten in den letzten Monaten wohl am besten beschrieben hatte.

Noah unterbrach die beiden mit einer weiteren Frage.

»Sag mal, Tom, warum wolltest du eigentlich Pfarrer werden?« Wenn einem die Zeit weglief, mussten manche Fragen so schnell wie möglich gestellt werden, bevor es zu spät war.

Tom blickte Noah an. Wieder hatte er dieses sanfte, friedliche Lächeln auf dem Gesicht, das wohl eher einem Buddhisten gestanden hätte als einem katholischen Priester in spe. Trotzdem wirkten seine Augen auf eine seltsame Weise traurig und nachdenklich.

»Ich kam wegen des gratis Brotes, aber ich bin geblieben wegen dem Wein!«, verkündete er, was Noah seinerseits mit einem halb gelachten »Arschloch« quittierte.

»Jetzt im Ernst. Wir sehen die Welt untergehen und ich hab nie erfahren, warum einer meiner besten Freunde Pfarrer werden will.«

Tom wurde ernst.

»Ich werde dir die Antwort geben, wenn ich dazu bereit bin, wenn dir das recht ist, ok?«

»Klar, Mann. Kein Thema.« Sie stießen ihre Fäuste zusammen, eine Geste, die sie nicht mehr gemacht hatten, seit sie fünfzehn gewesen waren. »Solltest nur nicht zu lange warten.« Keiner der anderen beiden reagierte auf diesen Witz.

Von Weitem hörten sie ein Geräusch, dass alle aufhorchen ließ. Verdutzt wandten sie die Köpfe nach rechts, in Richtung Innenstadt. In den letzten Monaten hatte man kein Auto gehört, nicht mal ein leises Motorenbrummen. Nun jedoch heulte auf der Rheinbrücke ein lautes, schrilles Motorengeräusch auf. Von ihrer Position aus sahen sie nur ein orangenes Etwas, welches mit einer ungeheuren Geschwindigkeit über die leere Brücke donnerte. Der Sog war so kräftig, dass die Fahnen, die das Geländer darauf säumten, leicht zu flattern begannen.

»Mick?«, fragte Noah die anderen.

»Was glaubst du denn?«, war die trockene Antwort.

Es dauerte eine Minute, bis Mick in einem orangenen Ferrari vor den anderen stand. Er donnerte mit ungefähr hundertachtzig die Seepromenade hinunter, vorbei an alten Eichen, Bänken, unverschämt teuren Jugendstilwohnungen, die jetzt alle verwaist waren, bis er bei seinen Freunden angekommen war. Dort stampfte er auf die Bremse, was den Ferrari jedoch nur unwesentlich verlangsamte. Das Auto schoss an ihnen vorbei. Der Gummi kreischte auf dem Asphalt und hinterließ dunkle, schwarze Bremsspuren, bevor der Wagen einige hundert Meter entfernt zum Stehen kam.

Das Brummen erstarb mit einem letzten, mürrischen Aufheulen und Mick stieg aus dem Wagen. Als Noah ihn so anschaute, erinnerte Mick ihn an einen Musiker oder Schauspieler, der zu leicht Zugang zu vielen Drogen bekommen hatte. Seine Augen lagen tief in den schwarzen Höhlen und seine Haare hingen in fettigen Strähnen hinunter. Seine Haut war bleich wie Alabaster und sein Gang wirkte genauso unsicher wie der von Noah, als er hierhergekommen war.

»Na Leute?«, brüllte Mick den anderen zu, gefolgt von einem fast manischen Lachen. In der linken Hand hielt er eine Flasche mit einer orange-gelben Flüssigkeit. Sicher kein Apfelsaft, dachte sich Tom.

Beunruhigend war jedoch, was er in der anderen Hand trug.

Seine Dienstwaffe, die er als Accessoire hin und her schwenkte. Das harte Metall der Kanone schlug einige Male gegen den Ferrari, hinterließ tiefe Dellen und schrammte den sauberen, glänzenden Lack ab.

Aus dem Auto stieg ein Mädchen. Sie wirkte höchstens wie vierzehn, was Noah ziemlich abstoßend fand. Sie hatte kaum einen Busen entwickelt und ihre Gesichtszüge waren noch die eines Kindes. Sie trug einen Hauch von nichts, bestehend aus einem Tanktop, welches beim Bauchnabel stoppte, und Hotpants, die kaum ihren Hintern verbargen.

 

Das Make-Up in ihrem Gesicht ließ sie noch kindlicher erscheinen, denn es wirkte nicht professionell aufgetragen, wie man es von einer Frau erwarten würde, sondern dilettantisch hingeschmiert und unvorteilhaft, wie bei einem Kind, das sich an Mamas Schminkschatulle bedient hatte.

»Darf ich vorstellen?«, sagte Mick mit einer großen Geste in Richtung des Mädchens. »Angie!«

Angie schien nicht zu realisieren, was Mick eigentlich meinte. Ihre Augen wanderten verwirrt in die Richtung, aus der sie ihren Namen gehört hatte.

»Was soll der Scheiß, Mick?«, fragte Chris angespannt. Er war aufgestanden und einige Schritte auf seinen Kumpel zugegangen. Die Bierflasche stellte er vorsichtig auf seinen Platz auf der Parkbank und seine Zigarette warf er hinter sich in den See.

»Wieso?« Mick blickte ihn gespielt verwirrt an. Seine Augen tanzten zwischen Angie und Chris hin und her, bis er irgendwann mit großer Geste Verstehen andeutete. »Ach so. Das ist ja eine exklusive Veranstaltung. Und da sind Frauen nicht erlaubt.« Er wankte auf Angie zu. Sie blickte direkt durch ihn hindurch.

»Sorry, Püppchen. Keine Mädchen erlaubt.« Sanft tätschelte er ihren Kopf, als wolle er sie trösten.

Während Noah Angie anblickte, sah er vor seinem inneren Auge wieder das Mädchen auf dem Balkon mit dem Strick um den Hals baumelnd. Vielleicht waren die beiden mal in dieselbe Klasse gegangen, waren Freundinnen gewesen. Jetzt war das doch alles so bedeutungslos, aber es machte ihn fast wahnsinnig vor Traurigkeit. Einzig die Wut über Micks Verhalten erstickte die Trauer etwas.

Es war eine Sache, sich gehen zu lassen, dessen waren sich wohl alle einig. Aber alle drei Männer auf der Bank, Chris, Tom und Noah, spürten auch gleichzeitig, dass hier eine Grenze überschritten wurde. Zumindest Noah konnte nicht erklären, warum es das zu vermeiden galt, aber er war sich sicher, dass Tom es konnte und tun würde.

»Mick, wie alt ist sie?«, fragte Tom wie aufs Stichwort. Er stand langsam auf, den Blick immer auf die Waffe gerichtet, die Mick in der Hand hielt und wie eine Rassel hin und her warf.

»Ich weiß nicht – vierzehn? Fünfzehn? Zwölf?« Er kratze sich am Kopf und blickte Angie an. »Wie alt bist du gleich noch mal?«

Sie reagierte nicht, sondern versuchte immer noch mühevoll, nicht umzufallen.

»Mick, das geht zu weit und das weißt du«, sagte Tom immer noch ruhig. »Lass das einfach und lass das Mädchen gehen, wie wäre es?«

Alle drei spürten, dass es eigentlich lächerlich war, was sie gerade taten. Die Welt kannte keine Regeln und Ethik mehr. Anarchie war das Wort der Stunde. Devolution. Was auch immer man machte, es war in Ordnung. Aber irgendwie, und das hatte jeder von den dreien in den letzten Monaten immer wieder gespürt, wollten sie eine gewisse Ordnung doch noch aufrechterhalten. Es MUSSTE einfach Grenzen geben, zumindest für sie, das waren sie sich selbst schuldig.

Aber Mick schien das nicht mehr so zu sehen, zumindest in diesem Moment.

»Gehen lassen? Okidoki«, sagte Mick, hob seine Waffe und hielt sie dem Mädchen an den Kopf.

»Mick, nein!«, brüllte Chris und Noah gleichzeitig, doch der Knall übertönte ihre Stimmen und hallte in der schier unendlichen Stille eines fast ausgestorbenen Konstanz wider wie Donnergrollen.

Das Mädchen plumpste auf den Boden – und begann zu schreien. Sie brüllte wie am Spieß, hielt sich ihre Hand an den Kopf, aus dem beständig Blut schoss wie aus einem Springbrunnen. Sie wandte sich, vor Schmerzen unfähig, etwas anderes zu tun als zu schreien und sich hin und her zu rollen.

»Mick, verdammt!«, brüllte jetzt auch Tom und schnappte Mick die Waffe weg.

»Hey", protestierte dieser halblaut und blickte auf die Blutlache. Ein kleiner See aus rotem Lebenssaft floss auf seine Füße zu, umspülte seine weißen Sneakers und färbte die Gummisohlen in einem tiefen Dunkelrot.

»Hey!«, brüllte er, dieses Mal noch lauter. Mit einem Satz, den man seinem mit Drogen und Alkohol angefüllten Körper gar nicht zugetraut hätte, stand er über dem Mädchen und trat auf sie ein, immer und immer wieder.

Tom warf die Waffe weg und sprang auf Mick zu, um ihn von dem Mädchen wegzuziehen, während Noah und Chris ebenfalls aufgesprungen und zu dem Mädchen gerannt waren.

Angie lag immer noch am Boden und brüllte panisch, weinte, schluchzte – und flehte leise nach ihrer Mama.

Ein Glück, dass sie Chris hatten, dachte Noah, und vergaß dabei, in welcher ausweglosen Lage sie sich befanden. Was brachte es ihnen? Chris konnte keine Operationen durchführen, konnte nicht seine Kollegen rufen – ihm waren die Hände gebunden.

Im Augenwinkel sah er, wie Tom gerade versuchte, den wütenden Mick zu beruhigen, was ihm jedoch nur leidlich gelang. Er versuchte ihn zu umklammern, aber der drahtige und kampfsportgeübte Ex-Polizist wand sich immer wieder aus seinem Griff.

Chris betrachtete in der Zwischenzeit fachmännisch Angie und runzelte sorgenvoll die Stirn.

»Noah, halt sie fest. Ich muss sie untersuchen«, befahl er. Noah tat sofort wie ihm geheißen. Währenddessen schlug Tom Mick mit seiner Faust ins Gesicht, was Mick zuerst torkeln und dann ohnmächtig zusammenbrechen ließ. Nach wenigen Sekunden schnarchte er vernehmlich, als würde er schlafen, während sich an seiner linken Schläfe ein dicker, blauer Fleck bildete.

»Was zur Hölle ist mit ihm los?«, murmelte Tom, als er ebenfalls zu Angie kam und Noah half, das zappelnde Mädchen zu fixieren. Seine Hand pochte schmerzhaft, aber er ignorierte die Schmerzen.

»Er dreht durch. Vielleicht ein schlechter Trip«, mutmaßte Noah blass.

Mick war früher immer ein sehr maßvoller Mensch gewesen. Nie hatte er über die Stränge geschlagen, genau genommen hatte Noah ihn nur einmal betrunken erlebt. Aber seit es sicher war, dass die Welt untergehen würde, war alles anders geworden.

Das Mädchen brüllte mit einer Lautstärke, die durch Mark und Bein ging. Warum konnte sie nicht einfach die Klappe halten? Kurzzeitig erwischte sich Noah bei dem Gedanken, ihr seine Hand auf den Mund zu pressen. Dieser Gedanke schockierte ihn und zeigte, wie überfordert er gerade mit dem war, was hier passierte.

»Die Kugel steckt noch«, urteilte Chris düster. In der linken Hand hielt er die blonden, nun blutverschmierten Haare des Mädchens und entblößte so das Loch in ihrem Kopf. Es sah aus wie ein winziger Brunnen, aus dem noch immer Blut rann. Kleine, weiße Fragmente klebten an ihrer Schädeldecke, die schwarzrot verfärbt war.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Tom verzweifelt.

»Wir können nichts für sie tun«, gab Chris knapp zurück. Seine Stimme war düster und bestimmend, jedoch fielen ihm die Worte nicht leicht. Noah wusste nicht, ob diese Kaltschnäuzigkeit vom »Helfen« der letzten Monate am Bodenseestadion herrührte oder es die gegebene Professionalität eines Rettungsassistenten war, die er hörte.

»Schaut mal, ob in der Waffe noch ein Schuss steckt«, schlug Chris vor.

Noah sprang als erster auf und rannte zur Pistole. Es war nicht schwer zu erraten, warum Chris diesen Vorschlag gemacht hatte. Es dauerte eine Weile, bis er herausgefunden hatte, wie man das Magazin der Waffe entfernte.

»Nein, da ist nichts mehr drin«, gab er trocken und schockiert zurück. Er ließ resignierend die Waffe sinken.

»Was?«, platzte es fast ungläubig aus Tom. »Warum sollte die Waffe nur mit einem Schuss geladen sein?«

Dafür gab es hundert Gründe, dachte sich Noah, aber er sprach es nicht aus. Vielleicht hatte Mick ein paar Schießübungen gemacht, bevor er hierhergekommen war. Vielleicht hatte es keine Munition mehr gegeben, die er hätte mitnehmen können.

Oder vielleicht hatte er auch nur einen Schuss gebraucht.

Für sich? Für Angie? Für einen von ihnen?

»Was machen wir jetzt?«, fragte Tom verzweifelt. Der blutige Haarschopf erinnerte ihn an die beiden Jungs im Einkaufszentrum. »Wir müssen ihr doch helfen!«

»Ich weiß!«, blaffte Chris zurück. Er hatte Angies Kopf losgelassen. Seine Finger waren über und über mit Blut bedeckt. Verzweifelt richtete er sich auf und blickte sich um, als könnte er irgendwo in der Nähe eine Lösung finden.

Dann beugte er sich wieder runter und nahm das Mädchen in den Arm. Das Schreien wurde leiser, aber ihre Augen, die davor vernebelt und blutunterlaufen gewesen waren, wurden auf einmal hellwach und blickten panisch. Ihre zuvor wild hin und her zuckenden Hände erwachten aus ihrer unkoordinierten Bewegung, packten Chris Arm und versuchten, ihn davon abzuhalten, was er vorhatte.

»Lass es geschehen«, flüsterte Chris leise, aber noch hörbar für die anderen, denen alle Farbe aus dem Gesicht wich. Der Kopf des Mädchens wurde immer röter, während sie versuchte, nach Luft zu schnappen. »Lass es geschehen. Dir wird gleich etwas schwindelig, dann wirst du einschlafen. Dann hast du keine Schmerzen mehr.«

Tom und Noah standen da und schauten dem Schauspiel hilflos zu. Noah wollte fragen, ob sie irgendwie helfen könnten, aber er brachte kein Wort heraus.

Tom war es, der als erste reagierte. Er ging langsam auf das Mädchen zu, faltete die Hände.

Dann ging er vor ihr in die Hocke. Er lächelte, oder zumindest versuchte er das. Die Augen des Mädchens fixierten ihn voll blanker Angst und schienen stumm nach Hilfe zu verlangen. Er hob die Hand und legte sie dem Mädchen auf die Stirn.

Dann sprach er das Sterbesakrament. Etwas anderes konnte er nicht mehr machen, aber Noah beneidete ihn dafür. Wie gerne würde auch er jetzt irgendwas tun können, außer hier zu stehen und zuzuschauen, wie das Mädchen gerade durch einem Ex-Rettungsassistenten von seinem Leiden erlöst wurde.

»Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes. Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.« Eigentlich hätte Tom Öl gebraucht, aber es musste auch so gehen. Blutstropfen rannen über den Kopf, hinunter in ihr Gesicht und zwischen seine Finger, die ein Kreuz daraus formten.

Die Wortfetzen kamen nur leise bei Noah an, aber das war in Ordnung. Das ging nur Tom, das Mädchen und in geringerem Maße Chris etwas an.

Tom sprach konzentriert und fest. Er hatte die Sterbesakramente in den letzten Monaten öfter verteilen müssen, da war sich Noah sicher. Und nun sprach er sie für das Mädchen. Ein junges, unschuldiges Ding, welches sein gesamtes Leben eigentlich noch vor sich gehabt hätte. Wie hätten wohl die Eltern reagiert, wenn sie gewusst hätten, dass ihre Tochter eines Tages am Ufer des Rheins von einem Rettungsassistenten erwürgt werden würde, angsterfüllt mit wahrscheinlich fast allen Drogen, die die moderne Welt kannte?

Tom begann kleine Kreuzzeichen auf die Stirn, auf den Mund, auf das Herz des Mädchens mit den Fingern zu zeichnen.

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heilligen Geistes.«

Die Augen des Mädchens verloren ihren Glanz. Die Arme wurden schlaff, lösten ihren Griff und fielen auf den Boden. Ihre Zunge hing halb aus dem Mundwinkel. Ein letztes, kehliges Röcheln drang aus ihrem Hals, dann herrschte Stille.

Chris drückte weiter zu. Seine Arme zittern. Noah konnte nicht beurteilen, ob vor Anstrengung oder vor Verzweiflung.

Es war vorbei.

Tom rannen Tränen über die Wangen, während er das letzte Zeichen auf dem Herzen zeichnete.

»Amen.«

Dann stand er auf, ging ein paar Schritte von den anderen weg. Sein Oberkörper zuckte und bebte immer wieder unkontrolliert auf, bevor er wütend auf den Boden stampfte und laut »Scheiße!« brüllte.

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