Devolution

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Noah war zu einer Salzsäule erstarrt. Das Grauen, was sich vor seinen Augen abspielte, war mehr, als er sich in seinen schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können. Er wollte schreien, über diese gesamte verdammte Situation und über diese Ungerechtigkeit, die er hier gerade erleben musste. Er wollte brüllen, aus diesem Albtraum aufwachen – er wollte sofort tot umfallen. Wenn er sich vorstellte, dass er nun noch etwas über sechseinhalb Stunden leben musste, war dies eine unerträgliche Vorstellung für ihn – die Hölle hätte wohl nicht schlimmer sein können.

»6,5,4,3,2,1 …«

Die Zeit schien stillzustehen.

»Lift off.« Der Mann weinte diese Worte mehr als dass er sie aussprach, fiel in sich zusammen, als er seinen Jungen über die Brüstung schubste.

Für wenige Sekunden schien das Kind wirklich zu fliegen. Der Strick um seinen Hals schwebte in der Luft, genauso wie das Kind.

Er schwebte einem Engel gleich, ruderte mit den Ärmchen wie ein Vogel. Die Luft war erfüllt von Hitze, Staub und dem fröhlichen Jauchzen des Jungen.

Für wenige Sekunden schien die Welt ein schöner Ort zu sein und nicht ein riesiges Massengrab.

Das Seil spannte sich.

Das Jauchzen erstarb so ungemein plötzlich.

Noah spürte, wie jegliche Kraft aus seinen Beinen wich, genauso wie das Leben aus dem Gesicht des Jungen.

Wenigstens war sein Genick sofort gebrochen, genauso wie bei seinen Schwestern – nicht auszudenken, wenn der kleine Junge jetzt dort baumeln würde, in einem letzten grausamen Todeskampf, bis sein Körper den Sauerstoffmangel nicht mehr hätte kompensieren können und er dann endlich gestorben wäre.

Noah musste sich setzen. Wenn noch irgendwelche Drogenspuren in seinem Körper gewesen waren, jetzt waren sie aus seinem Körper geschwemmt worden. Er zitterte am ganzen Leib.

Er fühlte, wie jegliche Lebensgeister aus seinem Körper wichen.

Er würde genau hier bleiben. Ja, genau hier würde er sterben.

Genau hier.

Der Mann verließ den Balkon. Eine Tür wurde aufgeschoben. Noah hörte das nur. Von seiner sitzenden Position aus konnte man nur die drei baumelnden Kinder sehen, die der Größe nach in aufgereiht leise hin und her schwangen.

Dann hörte man nichts mehr.

Er würde nie erfahren, wie sich der Mann das Leben genommen hatte.

Nie würde er wissen, dass der Mann danach zusammengebrochen war, mehrere Stunden seinen Körper von Heulkrämpfen hatte schütteln lassen, bis er keine Tränen mehr gehabt hatte. Dann hatte er seine Kinder abgehängt, mit Flo hatte er begonnen. Die blauen Würgemale an den kleinen, zarten Hälsen hatten ihn fast verrückt gemacht. Nacheinander hatte er seine Kinder in das Elternschlafzimmer gebracht und sie auf das Bett neben ihre Mutter gelegt. Auch wenn er seine Frau für ihren Egoismus hasste, so war sie doch die Mutter seiner Kinder gewesen und für dieses Geschenk würde er ihr ewig dankbar sein.

Er hatte sich zwischen seine Familie gelegt, die kalten Körper, die langsam hart und steif wurden, und hatte sie gestreichelt. Er hatte nichts mehr von der Welt mitbekommen, die wenige Stunden später in einem gleißenden Feuerball zerstört wurde und ihn von all seinen Qualen befreite. Im Tod war die Familie zu einer großen Aschewolke verbrannt.

Es war nur ein Schicksal von Milliarden, welche meistens nach dem gleichen Muster abliefen. Die Menschen mussten ihre Familie zurücklassen, sich von ihr trennen – mit der Ungewissheit, wie es danach weitergehen würde, aber mit der Gewissheit, dass es in dieser Welt kein Wiedersehen mehr geben würde.

Es dauerte, bis Noah endlich wieder die Kraft fand, sich aufzurichten. Immer noch fühlte er sich, als sei jeder Muskel in seinen Beinen durch Gummi ersetzt worden. Die Eindrücke waren erschlagend gewesen.

Es hatte überall Selbstmorde gegeben. Millionen, Milliarden vielleicht.

Aber es war eine Sache, wenn man in den Nachrichten zwischen dem Wetterbericht und den neusten Eskapaden der Bundesregierung als Lückenfüller die Nachricht hörte, dass sich wieder eine Gruppe Verrückter vergiftet hatte und etwas ganz anderes, wenn man so etwas live sah und vielleicht das Blut in seiner Nase roch – oder das Knacken von Kinderhälsen hörte.

Er erinnerte sich noch gut, als es sicher geworden war, dass der Asteroid die Erde treffen und die Menschheit vernichten würde. Das öffentliche Leben war so lange weitergelaufen, wie es irgendwie möglich gewesen war, als würde nie etwas passieren. Doch irgendwann wurde den Menschen klar, dass dies nicht mehr lange so sein würde. Die Gesellschaft zerbrach nicht sofort und schlagartig, sondern bröckelte zuerst langsam vor sich hin, bevor sie wie ein Kartenhaus zusammenkrachte.

So war es auch zu erklären, dass man hier in Konstanz im Seestadion die Leichen hatte stapeln müssen, aus Platzmangel, denn die regulären Leichenhallen waren hoffnungslos überfüllt von Selbstmördern, die den üblichen Betrieb mit Verblichenen gehörig störten.

Der Münsterturm hatte abgeriegelt werden müssen, nachdem sich eine ganze Gruppe von Menschen dort hinuntergestürzt hatte. Es hatte eine Art Verabredung sein müssen, wie sie damals öfter zustande gekommen war. Noah war damals zufällig in der Innenstadt gewesen und hatte dieses Spektakel miterlebt.

Fump, Pflatsch.

Fump, Pflatsch.

Fump, Pflatsch.

Die heutigen Wetteraussichten von Konstanz: Örtlich Niederschlag von verzweifelten Menschen. Nach dem 11. September war aus Respekt vor den Opfern der Song »It’s raining men« nicht mehr gespielt worden. Während Noah nun wie unzählige andere Menschen schockiert und unfähig etwas zu machen diesem Schauspiel zuschaute, dröhnte dieser Song in seinem Kopf. Jedoch war es nicht die beschwingte Partymusik, die man von jeder besseren Coverband an einem Abend mindestens einmal hörte: Für ihn klang es wie der Gesang der Hölle. Egal wie sehr er sich auch anstrengte, das Lied abzustellen, es gelang ihm einfach nicht – es schien sogar, dass die Menschen fast im Takt des Liedes auf dem Pflastersteinboden vor dem Münster aufklatschten. Einer, ein junger Mann, höchstens neunzehn, landete besonders nahe vor Noah.

Beim Aufprall platzte der Körper des Mannes auf wie eine Wassermelone. Das Blut spritzte hoch und Noah ins Gesicht. Er hatte wegrennen wollen, sich übergeben, aber er war nur verzweifelt und starr gewesen, während das Blut des jungen Mannes seine Wange hinuntergelaufen war und sein Gesicht mit lauter kleinen roten Punkten gesprenkelt hatte.

An diesem Tag hatte er das erste Mal Drogen genommen und der Münsterturm war zugemauert worden, um solche Zwischenfälle zu vermeiden. Deutsche Bürokratie: wenn schon sterben, dann wenigstens geordnet. Die Möglichkeiten wurden ja einige Zeit später gegeben.

Das Seestadion. Zuerst hatte man all die Selbstmörder auf dem Friedhof beigesetzt, solange, bis der Platz aufgebraucht war. Wohin nun mit den Menschen? Man hatte einen großen, abgelegenen Platz gebraucht, am besten mit Möglichkeit für Massengräber. So waren pfiffige Planer auf das Stadion gekommen.

Es kam der August und es war nur noch ein Jahr bis zum Einschlag. Normalerweise wäre das Stadion jetzt voller Musikfreunde gewesen, die zu Rock am See in die Stadt gepilgert waren. Jetzt waren es Menschenhaufen, die sich auf die unterschiedlichsten Arten das Leben genommen hatten.

Unzählige Menschen.

Im anliegenden Wald waren die Bäume gefällt worden, um dort Löcher auszuheben, die groß genug waren für die Toten, die jeden Tag in Müllwagen kamen, anders konnte man der Masse kaum Herr werden. Es erinnerte an die Zeit der Pest, als die Pestwägen durch die Straßen zogen und die neusten Opfer des schwarzen Todes aufluden und vor die Stadt karrten, um sie dort zu verscharren. Der Pestkarren gehörte nun zu den Stadtwerken Konstanz.

So ging es immer weiter.

Der Rettungsdienst und die Krankenhäuser arbeiteten kaum noch. Wofür sollte man auch einen Menschen am Leben erhalten, wenn er sowieso in einem Jahr sterben würde? Das einzige, was sie taten, war Überdosen auszugeben, soweit dies eben noch möglich war und man nicht Gefahr lief, eventuell am Ende selbst ohne dazustehen.

Es war ungefähr im Dezember, als die Bundesregierung eine Art Weihnachtsgeschenk an das Land verschickte – das letzte Weihnachten der Weltgeschichte. Es war ein Medikament, welches innerhalb von wenigen Minuten den Tod herbeiführen würde – ohne Nebenwirkungen. Ein Nachrichtenmagazin brachte als einen ihrer letzten Berichte die Meldung, dass dieses Medikament schon hergestellt worden war, als man noch die Hoffnung hatte, der Asteroid könne abgewehrt werden, was der Regierung ihren letzten Skandal einbrachte, der jedoch keinen wirklich interessierte.

Trotzdem setzte sich die deutsche Gründlichkeit fort. So wurden die Medikamente nicht an die Bürger verschickt, nein, vielmehr wurden sie nur an örtlichen Sammelstellen verabreicht – in Konstanz also das Bodenseestadion, um dort den Abtransportweg zu optimieren. Umfallen und direkt ins Stadion auf den Haufen zur Zwischenlagerung, so war der makabre Plan gewesen.

Es war auch Dezember, als man genau sagen konnte, wo der Asteroid einschlagen würde. Davor waren es nur vage Vorhersagen gewesen, die alles, aber nicht zuverlässig gewesen waren, aber sie hatten gereicht. Es war Dr. Richard Henrys, ein pickeliges Computergenie, landläufig auch der intelligenteste Mensch der Welt genannt, der mit seinem Modell den genauen Einschlagsort errechnete. Fehlerchance: 1 : 1 503 000 303. Noah hätte den kleinen Scheißkerl umbringen können, als er damals diese Nachricht in die Welt hinausposaunte, mit einen Grinsen auf seinem Gesicht, als hätte er gerade den Wissenschaftspreis seiner Schule gewonnen und nicht unzählige Menschen zum Tode verurteilt.

 

Dann hörten die Selbstmorde in Konstanz auf. Die Menschen flüchteten so weit wie sie konnten und die, die da blieben – joggten, vögelten, fixten, erlösten ihre Kinder – das Übliche in einer Welt, in der nichts mehr von Wert war.

Devolution.

Noah mühte sich auf. Der Boden fühlte sich angenehm warm an, aufgeheizt von einem weiteren schönen Sommertag, aber er fühlte nur eine eisige Kälte in sich, die ihn erzittern ließ.

Seine Beine waren noch schlapp und wackelig, trugen ihn jedoch so gut es ging. Seine Zigarette, die er immer noch in den Fingern hielt, war fast komplett abgebrannt und stank nach verbranntem Plastik, während der Filter langsam kokelte. Er warf sie weg und zündete sich eine neue an, in der Hoffnung, das Nikotin würde seine Nerven beruhigen.

Er wusste in diesem Moment nicht, was er tun sollte.

Vielleicht war ihm klar geworden, dass das, was er vorhatte nicht so einfach werden würde, wie er es sich am Anfang vorgestellt hatte, als die Idee, mit seinen Freunden den Weltuntergang zu begehen, romantisch verklärt angemutet hatte. Er hatte Monate in einem von Drogen umnebeltem Zustand verbracht, was ihn daran gehindert hatte, sich bewusst zu werden, was ihn eigentlich erwarten würde.

Es war nicht so einfach wie in einer Facebook-Gruppe – »Wahre Freunde sitzen am Weltuntergang zusammen und schließen Wetten darauf ab, wer zuerst abkratzt.« Wenn Noah jetzt wetten müsste, würde er sagen, er würde zuerst sterben. Unmöglich, dass er diesen Druck noch länger aushalten würde.

In diesem Augenblick konnte er sich nämlich nicht vorstellen, dass er dieses Grauen überleben würde. Mit jeder Minute, in der die Drogen ihre Wirkung verloren, fühlte er die Angst in sich wachsen. Wie ein Krebsgeschwür fraß sie sich durch seinen Geist und wurde befeuert von den grauenhaften, grotesken Eindrücken, die sich ihm boten.

Vor gut einer Stunde hatte er noch zwischen den Beinen einer Frau gelegen und war gerade aufschreiend gekommen. Jetzt saß er hier und wünschte sich den Tod – nein, nicht den Tod. Er wünschte sich das Leben.

Er wünschte sich, dass dieser verdammte Asteroid verschwinden würde und die Welt nicht untergehen müsste. Warum konnte er nicht einfach sein altes Leben wieder aufnehmen? Er hatte immer versucht ein guter Mensch zu sein, hatte seiner Nachbarin geholfen, hatte alten Damen immer die Tür aufgehalten, wenn es sich ergeben hatte – er war ein guter Mensch gewesen und nun würde er sterben – verängstigt und vielleicht unsagbar qualvoll, wer wusste das schon.

Warum? Es war nicht fair.

Er schloss die Augen und spannte seine Muskeln an, versuchte, die Angst aus sich herauszupressen.

Nein, er musste gehen. Es war ein Pakt zwischen ihm und seinen Freunden gewesen. Am 16. Juli 2013 sitzen wir zusammen auf einer Bank in Konstanz am Bodensee. Wir trinken Bier und sind zusammen.

Dort haben wir Logenplätze für den Weltuntergang.

Er hatte es geschworen, genauso wie die anderen. Keiner hatte gezögert. Sie hatten sich die Hand darauf gegeben und Mick hatte sogar explizit gesagt: Ich schwöre es euch.

Genauso wie es Tom getan hatte, der gerade aus der Kirche kommen würde. Wahrscheinlich würde er wieder nach Weihrauch duften, der sich in seiner Kleidung wie ein starkes Parfüm festgesetzt hatte.

Chris, der bei den Sammelstellen arbeitete und dort Menschen eingeschläfert hatte, als wäre es das Natürlichste der Welt gewesen. Davor war er Rettungsassistent gewesen. Als die Medikamente verbraucht waren, hatte er sich wie die meistens Menschen vom Leben verabschiedet und nur noch auf diesen Tag gewartet. Noah glaubte, dass nur der Pakt schuld daran war, dass er überhaupt noch da war. Sonst hätte er sich wohl mit der gleichen Gleichgültigkeit, mit der er die Medikamente verteilt hatte,selbst hingerichtet.

Und Mick.

So wie Noah Mick kannte, würde er entweder mit einer gestohlenen Yacht vom Yachthafen aufkreuzen oder mit einem gestohlenen Edelwagen. Er war eigentlich mal Polizist gewesen, hatte jedoch ziemlich schnell den Dienst quittiert und alles getan, wozu er Lust gehabt hatte, als die Erde ein Verfallsdatum bekommen hatte. Dann hatte er begonnen Häuser anzuzünden, Orgien zu feiern, Drogenexzesse mitzumachen, Sportwägen zu klauen und mit Freunden, unter anderem Noah, auf den leergefegten Straßen Rennen zu veranstalten.

Er und Noah waren sich sehr ähnlich gewesen in ihrem destruktiven Verhalten, wenn auch Mick etwas exzessiver gewesen war. Noah hätte sich nicht gewundert, wenn Mick es nicht schaffen würde, weil er eine Überdosis Drogen aus dem Bauchnabel einer wildfremden Frau geschnieft, gespritzt oder geschluckt hätte. Ein Tod, wie er ihn sich immer gewünscht hatte – zumindest, seit die Welt unterging.

Aber sicher war, dass Chris und Tom da sein würden.

Er blickte auf die Uhr.

Nach knapp sechseinhalb Stunden – dann würde es Adios amigos heißen, dachte Noah bitter.

Er setzte seinen Weg fort. Es dauerte etwas, bis die Kraft wieder in seine Beine zurückgekehrt war und er nicht mehr wie ein Betrunkener torkelte. Trotzdem bewegte er sich nur sehr langsam fort und fühlte sich dabei wie hundert.

Mittlerweile konnte er den See sehen und noch deutlicher riechen. Die leichte Brise, die davor die Leichen der drei Kinder wie ein Pendel hatte schwingen lassen, trieb nun den sanften, einschmeichelnden Seeduft in seine Nase. Gierig sog er den Geruch ein. Seit er hier gelebt hatte, hatte dieser Duft eine beruhigende Wirkung auf seine Nerven gehabt und so war es auch heute wieder. Besser als jede Zigarette streichelte der Duft von algendurchsetztem Wasser seine Nerven und glättete die Sorgen.

Fast schon andächtig schritt er weiter und sog die Luft ein.

Er war auf nun auf der Höhe des Kasinos Konstanz, oder was davon noch stand. Durch zwei alte, große Bäume konnte er die Altstadt sehen. Das Lago, den Hafen, Teile der Schweiz – alles wirkte so grausam normal.

Das Kasino hatte in den letzten Monaten Rekordumsätze erzielt. Die Menschen hatten all ihre Habe verzockt – warum auch nicht? Manche, weil sie keinen Sinn mehr darin gesehen hatten, noch Geld auf die Seite zu legen, andere, weil sie einem Gerücht aufgesessen waren. Anscheinend solle es Bunkerplätze geben, in denen man sicher sei, gebaut von einer mysteriösen russischen Privatperson, die ihr gesamtes Vermögen dafür ausgegeben hätte und nun Plätze verkaufen würde. Ob das stimmte oder nicht, es war ein letztes verzweifeltes Greifen nach einem Strohhalm, der nicht da war.

Viele hatten versucht, sich im Kasino das Geld dafür zu erspielen – wenn sie verloren hatten, waren sie meistens direkt zum Seestadion gelaufen und hatten sich umbringen lassen.

Die, die das getan hatten, hatten auf ihrem letzten Gang in ihrem Leben noch einmal das herrliche Panorama des Sees genießen können. Vorbei am Yachtclub, an den Pflegeheimen mit ihren gepflegten Grünanlangen und der Schmiederklinik, bis sie irgendwann am Seestadion angekommen waren. Dort hatten sie dann ihre tödliche Injektion empfangen können.

Und es war vorbei gewesen.

Links neben ihm befand sich ein Luxushotel. Früher waren dort die Besserverdienenden abgestiegen. Im Sommer waren die Parkplätze überfüllt gewesen von Mercedes, Audis und anderen teuren Autos. Heute war der Parkplatz leer und auch das Hotel hatte wenig von seinem alten Glanz behalten.

Kaum war die Nachricht vom nahen Untergang publik geworden, hatten die Leute angefangen das Hotel zu plündern und alles geraubt, was man irgendwie hätte brauchen können. Luxusartikel, die keinen Sinn mehr gehabt, aber vielleicht dem Besitzer ein paar schöne Stunden beschert hatten.

Überhaupt war es interessant gewesen, wie krass die Gegensätze am Anfang gewesen waren. Es hatte gedauert, bis die öffentliche Ordnung zusammenbrach und Anarchie herrschte. Es waren eigentlich nur kleine Blitze von anarchischem Verhalten gewesen, wie eben z.B. die Plünderung des Hotels oder die Zerstörung eines Einkaufscenters. Im Großen war die Ordnung erst später zusammengebrochen.

Es hatte gedauert, bis auch das Kasino geplündert worden war. Noah war damals dabeigewesen, hatte an einer Orgie auf der Terrasse teilgenommen und die teuren Getränke geplündert. Im Keller hatte er noch gut gekühlten Champagner gefunden. Eine Flasche hatte mehrere hundert Euro gekostet, wenn er sie in den guten alten Zeiten ehrlich gekauft hätte. Er hatte sie zur Hälfte ausgetrunken und dann damit eine Scheibe eingeschlagen, die klirrend unter dem dicken Flaschenboden explodiert war.

Warum er das getan hatte, konnte er heute nicht sagen. Vielleicht war es der Reiz des Verbotenen und Neuen gewesen.

Jetzt war es nur noch eine abgebrannte Ruine. Irgendjemand hatte es vor einem Monat angezündet. Die Trümmer hatten bis letzte Woche sogar noch geraucht, denn es war keine Feuerwehr dagewesen, um es zu löschen. Dass die Flammen nicht auf ein anderes Gebäude übergegriffen hatten, hatte nur daran gelegen, dass das Kasino relativ separat von den meisten anderen Häusern gelegen hatte.

Ein schwarzes, verkohltes Skelett, das seine knochigen Glieder flehentlich in den Himmel reckte – mehr war nicht mehr übrig von dem einstigen Prachtbau am Bodensee.

Der Gestank von verbranntem Holz, ein leicht beißender Geruch, verdrängte den Duft des Sees, als er auf der Höhe der Kasinoruinen war. Wahrscheinlich lag das daran, dass der Wind gerade gedreht hatte.

Noah wandte seinen Blick von den Ruinen ab und blickte nach vorne. Es hingen nicht unbedingt die besten Erinnerungen mit diesem Ort zusammen.

Dort saßen sie.

Zwei der drei wichtigsten Menschen in seinem Leben.

Wie er erwartet hatte, waren bisher nur Tom und Chris da. Mick fehlte bisher.

Er beschleunigte seinen Schritt, so sehr es seine schlappen Beine eben zuließen. Er stolperte etwas, aber fing sich im rechten Moment wieder. Seine Freunde blickten ihn zuerst verwundert an, dann grinsten sie nur höhnisch – zumindest Tom.

Chris blickte nach links, in Richtung der Alpen, die sich grau und monströs vor dem blauen Himmel abzeichneten.

Dort, irgendwo im Gebirge, würde der Asteroid runterkommen. Beim Aufprall würde er eine unvorstellbare Energie freisetzen, die alles Leben in einem Umkreis von – wie groß war der Umkreis gewesen? Noah wusste es nicht mehr. Ganz Europa? Halb Europa? Ganz Europa und Asien? Verdammt, er konnte sich einfach nicht daran erinnern.

Vielleicht war es auch besser.

Seelig die Unwissenden.

Was er wusste war, dass beim Aufprall Milliarden von Tonnen brennendem Gestein in die Atmosphäre geschleudert werden würden, die dann irgendwann auch wieder runterkommen müsste und alles erschlagen würden, was in der Nähe war – Nähe bedeutete hierbei jedoch auch Amerika und Australien, denn die Steine konnten um den gesamten Erdballen fliegen.

Wahrscheinlich würde die Druckwelle des Himmelsgeschosses ihn und seine Freunde sofort töten. Sie würden verglühen, zu Asche zermalmt werden, oder Schlimmeres.

Er wollte es nicht wissen, wenn er ehrlich zu sich selbst war.

Zum ersten Mal seit Monaten klammerte er sich an sein Leben wie ein Ertrinkender an seinen Rettungsring. Er wollte nicht sterben und die Vorstellung, dass in wenigen Stunden alles vorbei sein sollte, trieb ihm die Tränen in die Augen.

Er beneidete Tom um seinen Glauben und wünschte sich, er hätte auch so etwas, an das er sich festklammern konnte. Sein Freund wirkte ruhig und gefasst, während er nun auch in dieselbe Richtung starrte wie Chris.

Reiß dich zusammen, mahnte er sich selbst. Genieße die letzten Stunden deines Lebens. Mehr kannst du eh nicht tun.

Das war natürlich eine Lüge.

Es gab Erhängen, Erschießen, Ertränken, die Pulsadern aufschneiden, von einem Turm stürzen, einen goldenen Schuss setzen – unzählige Dinge, die er noch tun könnte.

Er trat an die Bank, auf der die beiden saßen.

»Schaut mal wer da auch noch kommt!« Tom drehte sich um und lachte fröhlich auf. Dann umarmte er Noah herzlich, ohne jedoch aufzustehen. Die Umarmung fühlte sich gleichzeitig wohltuend und wie ein Abschied für immer an und ließ Noah nochmals leise aufschluchzen. Tom hörte es und drückte seinen Arm noch einmal fester um die Brust seines Freundes, als wollte er ihm so etwas mehr Mut zusprechen.

»Meine Fresse, siehst du scheiße aus!«, urteilte Chris über Noahs Erscheinungsbild, was diesem ein kurzes, gequältes Lächeln abrang. Chris Stirn war in Sorgenfalten gelegt, während er seinen Kumpel umarmte. Es fühlte sich nicht ansatzweise so herzlich an wie bei Tom, dachte Noah. Mehr wie eine Pro-Forma-Geste, die kaum mehr Bedeutung hatte.

 

»’n Abend Leute.« Noah versuchte zu lächeln, was ihm jedoch missglückte. Tom warf ihm einen kurzen Blick zu, der zu sagen schien, er solle diese Scharade aufgeben. »Heute ist ein guter Tag zu sterben«, überspielte Noah seine wahren Gefühle mit einer flapsigen Bemerkung. Mehr fiel ihm im Moment nicht ein, und so hingen diese Worte mit einem bitteren Beigeschmack über ihm und seinen Freunden.

»Ha! Aber Hallo!«, erwiderte Chris, fasste zwischen seine Beine und holte eine Flasche Bier hervor. Seine Stimme klang irgendwie tonlos und weit weg, als würde er durch ein Funkgerät mit ihnen sprechen.

Erst jetzt sah Noah, dass unter der Bank ein Kasten Bier stand, was ihn für einige Sekunden seine Sorgen vergessen ließ. Lächelnd nahm er das angebotene Bier und öffnete es mit einem Feuerzeug. Etwas Kohlensäure entwich mit einem leisen Zischen aus der Öffnung, und Noah trank gierig mehrere Schlucke. Das Bier schmeckte kalt und erfrischend, wenn es auch ziemlich bitter und eigentlich nicht seine Hausmarke war. Am Ende der Welt durfte man nicht unbedingt wählerisch sein, dachte er sich und ließ sich neben Tom nieder. Sag mir, was los ist, sagte sein Blick, aber Noah schüttelte nur leicht den Kopf. Sein Kumpel fixierte ihn noch etwas mit seinen Augen, wandte sich jedoch nach einer Weile wieder dem Einschlagsort in den Alpen zu.

Sein Gesicht verdüsterte sich für wenige Sekunden, was für Noah beruhigender wirkte als alle schönen Worte, die er hätte sagen können. Er spürte, dass er in diesem Moment nicht alleine war mit seiner Angst. Er fühlte sich etwas leichter und nahm einen neuen Schluck.

»Tja«, begann Tom irgendwann, nachdem alle schweigend nebeneinander gesessen hatten und jeder seinen eigenen, düsteren bis depressiven Gedanken nachgehangen war. Seine Stimme wirkte fest und gefasst, als würde er zu einer donnernden Predigt ansetzen. Aber er sagte nur ein paar kurze Worte.

»Willkommen bei der Apokalypse.«

Dem war nichts mehr hinzuzufügen.

Die Männer stießen mit ihren Bieren an und tranken.

Ja, dem war wirklich nichts hinzuzufügen.

Die Freundschaft war immer so wichtig für alle vier gewesen, und nun spürte Noah auch warum. Es war das Gefühl, dass alles irgendwie richtig war, so wie es war. Die Angst verschwand, langsam, aber sie verschwand.

Er seufzte und blickte auch zu den Alpen.

Willkommen bei der Apokalypse.

Es dauerte eine Weile, bis wieder jemand das Wort ergriff.

»Wisst ihr, was mich richtig ärgert?«, fragte Tom in die Runde. Er wartete eine Weile, als wollte er Spannung aufbauen, bevor er eine Antwort auf seine eigene Frage gab.

»Jetzt habe ich mir über die Jahre und vor allem im letzten Jahr angewöhnt, früh aufzustehen und dementsprechend auch früh ins Bett zu gehen. Und jetzt muss ich fast die Nacht durchmachen, bis«, er zögerte und dachte eine Weile über die richtige Wortwahl nach, »bis ich wieder schlafen kann.« Darauf nahm er einen tiefen Schluck.

Chris schaute auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist 19 Uhr 30 – noch etwas mehr als sechs Stunden.« Also würde der Asteroid um ungefähr zwei Uhr morgens deutscher Zeit einschlagen.

»Zwei Uhr morgens. Ist es nicht irgendwie seltsam? Das alles so schnell vorbei sein wird?«, fragte Noah die anderen, immer noch unter den Eindrücken des Abends stehend mit einem ängstlichen Zittern in seiner Stimme.

Weder Tom noch Chris antworteten sofort.

»Kannst du uns nicht irgendwie Mut machen?«, fragte Chris Tom. In seiner Stimme lag ein leichter Anflug Sarkasmus, was jedoch von Tom ignoriert wurde.

»Glaubst du das denn?«, gab dieser mit sanfter und freundlicher Stimme zurück. Man merkte, dass er die letzten Jahre ein Priesterseminar genossen hatte und daher auch wusste, wie man mit zweifelnden Schäfchen umgehen musste.

Chris lachte höhnisch auf. »Ich glaube daran, dass das »Deutsche« zuletzt in den Menschen gestorben ist.« Er nahm einen tiefen Schluck und blickte ein paar Sekunden ins Leere, bevor er fortfuhr.

Noah lächelte, denn das stimmte seiner Meinung nach.

»Wisst ihr, die letzten Wochen, in denen ich den Menschen am Seestadion geholfen habe …« Das Wort »geholfen« hatte er wohl mit Bedacht gewählt. Man konnte nicht sein ganzes Leben danach trachten, Menschen zu retten, um dann den Rest seines Lebens danach auszurichten, das Leben von anderen zu beenden. Den Widerspruch löste er auf, indem er die Euthanasie als »helfen« bezeichnete.

»Was ist denn da passiert?«, unterbrach ihn Noah bevor Chris seinen Satz beenden konnte. Dieser fuhr jedoch ungerührt fort.

»Die Leute haben Schlange gestanden, wie es Deutsche immer gemacht haben. Wir haben erwartet, dass die Menschen durchdrehen, drängeln, aber keiner hat gedrängelt. Alle haben gewartet, waren höflich und gefasst. – Es war alles so – so deutsch.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte Tom, immer noch freundlich und ohne Drängen in seiner Stimme.

Chris blickte Tom an. In seinem Gesicht lag eine Art von Ekel und Abscheu.

»Leck mich, Pfaffe!« Er zeigte ihm den Finger. Seine Worte und seine Geste waren wohl gespielt, aber trotzdem lag auch jede Menge Ernsthaftigkeit darin. Tom und Noah lachten dumpf.

»Nein, ich glaube nicht. Ich kann es einfach nicht mehr.« Er sagte dies mit voller Überzeugung. Die anderen beiden spürten es überdeutlich und zuckten leicht zusammen, so unerschütterlich war seine Überzeugung.

»Ich habe Kindern, die kaum die Augen offen gehabt haben, »geholfen«, Müttern, Vätern, ganzen Familien. Ich habe Hunderte von Menschen getötet.« Seine Stimme wurde etwas leiser. Es schien, als würde er von weit, weit weg erzählen. »Es ist unglaublich schwer, einen Fontanellenzugang zu legen. Einmal habe ich mich verstochen. Ich habe drei Anläufe gebraucht, bis ich das Kind endlich – bis ich dem Kind endlich geholfen habe. Es hat die ganze Zeit gebrüllt wie am Spieß. Und dann war es plötzlich ganz ruhig.« Er zögerte. Seine Hand begann leicht zu zittern. Er schloss sie zu einer Faust, blickte sie für einige Sekunden an und öffnete sie dann in einer fließenden Bewegung wieder mit der Handfläche nach unten gerichtet, als würde er etwas fallen lassen.

»Und dann? Wir sind so abgestumpft gewesen.« Es war das erste Mal, dass er diese Worte laut aussprach. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, wie tief ihn all das berührt hatte, was er gesehen hatte. »Wir haben das Kind wie ein Stück Müll auf einen Haufen geworfen. Zusammen mit anderen Kindern. Ein paar Stunden später war das Kind von unzähligen anderen Leichen bedeckt gewesen.«

Er nahm einen tiefen Schluck Bier, fummelte nach einer Zigarette. Seine Hand bebte unkontrolliert wie bei einem Parkinsonkranken. Er blickte etwas über seine Schulter in Richtung des Stadions, dass nur wenige Kilometer von ihrer Position entfernt lag. Sein Blick verdüsterte sich wie der Himmel bei einem starken Gewitter.

»Dieser ekelhafte Gestank. Ich bin froh, dass es bald vorbei ist.«

»Darum glaubst du nicht mehr?«, fragte Tom und biss sich direkt auf die Zunge, denn diese Frage war unnötig gewesen und verursachte wohl nur neuerliche Schmerzen.

»Nein. Ich glaube nicht. Denn wenn ich glauben würde, dann würde es für mich doch jetzt nur einen Ort geben, an den ich komme, oder? Was passiert wohl mit einem Menschen, der Hunderte andere Menschen, Kinder, Männer, Frauen getötet hat?« Diesmal sagte er nicht »geholfen«.

Tom drehte sich kurz weg und überlegte eine Antwort.

»Ich glaube nicht, dass der Herr dich deswegen strafen würde.« Er lehnte sich zurück, faltete die Hände über seinem Bauch. Er wirkte nicht mehr wie der alte Freund aus Kindertagen für die beiden anderen, sondern eher wie ein Philosoph, der die Weisheit des Universums eröffnen würde.