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Seufzend blickte er zu seiner weggeworfenen Schachtel Zigaretten, die zusammengeknüllt auf dem grauen Asphaltboden lag. Ein Nichtraucher könnte nie verstehen, was gerade in ihm vorging. Alan Carr, der Nichtraucherguru, hatte es immer als ein »kleines hungriges Monster« bezeichnet, das sich von Nikotin ernährte. Wenn es Hunger bekam, dann kreischte es umso lauter nach seinem Futter und gab erst wieder Ruhe, wenn es was zu fressen bekommen hatte.

Tom musste grinsen, denn diese Metapher schien wie die Faust aufs Auge zu passen. Nur schien das Monster nicht in seinem Kopf zu sitzen, vielmehr spürte er es in seiner Magengrube, wo es mürrisch auf und ab ging und genervt auf die anstehende Fütterung wartete.

»Gibt ja gleich was«, sagte Tom und stand stöhnend auf. Sein Hintern war sehr heiß geworden von den wenigen Sekunden auf den aufgeheizten Steinen, und er klopfte sich etwas gegen die Hose, um sie abzukühlen.

Wahrscheinlich würde er zum letzten Mal in seinem Leben in den Supermarkt im Keller des Einkaufszentrums gehen. Er erwartete nicht, dass er dort Glück haben und Zigaretten finden würde. Viel wahrscheinlicher war, dass alles, was auch nur irgendwie von Wert war, schon längst geplündert war und nun nur noch leere Regalskelette auf ihn warten würden.

Aber er wollte es versuchen.

Daher ging er die gefliesten Stufen des Centers hoch, um für sein Monster Futter zu suchen.

Immer wieder kreisten die Worte von Pfarrer Wutknecht in seinem Kopf. Ich hätte es ihm sagen müssen. Er hätte gewusst, was ich tun soll.

Nein, es ist richtig so. Der Herr wird mir verziehen haben. Ich habe meine Schuld abgearbeitet, sprach er beruhigend auf sich ein, konnte jedoch nicht sagen, ob dies blanker Selbstbetrug oder feste Überzeugung war. Manchmal lag zwischen diesen beiden Dingen nur ein papierdicker Grad, dachte er grimmig.

Das Kaufhaus war etwas kühler als draußen, aber dafür um einiges stickiger. Nach wenigen Metern musste er das erste Mal laut husten, was wie ein wütendes Bellen durch die leeren Räume hallte.

Die Geschäfte zu seiner Linken wie auch zu seiner Rechten waren komplett verwüstet und geplündert worden. Auf dem Boden lagen Zettel und zertrampelte Lebensmittel, die wohl beim Abtransport runtergefallen und in der Eile des Augenblicks dann zurückgelassen worden waren.

Eine Bäckerei war so verwüstet, dass man sich nur mit viel Fantasie vorstellen konnte, was hier mal verkauft worden war. Die Auslage war zertrümmert und teilweise waren sogar die Bleche rausgerissen worden. Der Ofen war weit offen und sandte sanfte, aber kaum noch riechbare Düfte nach frischem Gebäck aus. Davor lag in tausend kleinen Splittern das Glas der Vitrine, das wie scharfkantige Schneeflocken aussah.

Tom dachte an die Mohnschnecken, die er immer so gern gegessen hatte und auch an die Verkäuferin, die ihn meistens bedient hatte. Auch wenn er bisher nur im Seminar gewesen war, hatte sie wohl irgendwoher gewusst, dass er Priester werden würde und ihn immer mit »Herr Pfarrer« angesprochen. Auch wenn es nicht gestimmt hatte, so war dies jedes Mal eine Art von Kompliment für ihn gewesen und er war voller Stolz ein paar Zentimeter gewachsen. Für einige Sekunden merkte er, wie er rührselig bei diesem Gedanken wurde, aber er fing sich sofort wieder.

Ein Kleiderladen daneben schien vom Besitzer aufgegeben worden zu sein, denn auch hier gab es nichts mehr. Die Scheiben waren eingeschlagen und nur noch Kleiderbügel zeugten davon, dass hier einst Kleider gehangen hatten. Die Poster, auf denen junge, manchmal halb anorektische Models in die Kamera gegrinst hatten, waren entweder ebenfalls abgerissen oder hingen nur noch in Fetzen von der Wand wie stumme Zeugen der Zerstörung.

Die Stromaggregate in diesem Gebäude waren schon lange nicht mehr aktiv, daher brannte auch kein Licht. Nur durch die Glasschiebetüren hinter Tom und durch das große Dachfenster in der Mitte des Centers fiel fahl etwas Helligkeit, was jedoch reichte, dass er sich gut orientieren konnte. Kleine Staubflocken schwebten still und leise wie ein Mobile in der Luft, drehten sich in einem leisen Rhythmus hin und her und fielen später hinunter, nur damit andere ihren Platz einnehmen konnten.

Eine Apotheke hatte es wohl am schlimmsten erwischt, denn von ihr war nicht mehr als ein Rohbau übrig geblieben. Alles war umgestürzt und zerschlagen worden, zumindest soweit man es in dem Licht noch sehen konnte. Die Menschen schienen wie die Tiere über dieses Geschäft hergefallen zu sein, Heuschrecken gleich, die auf der Suche nach Nahrung alles aufgefressen hatten, was essbar gewesen war.

Ihre Ziele waren hier jedoch wohl nicht die Nahrungssuche gewesen, sondern – na ja, sie hätten auch ins Seestadion gehen können, um das zu bekommen, was sie hier wohl gesucht hatten.

Irgendwann stand Tom an einer Rolltreppe, die in das Kellergeschoss führte, sich aber nicht mehr bewegte. Er spürte, wie sich wieder ein Kloß in seinem Hals bildete, wenn auch dieses Mal aus Furcht. Die Treppe führte hinunter in eine undurchdringliche Dunkelheit und nur ein kleiner Teil des Kellergeschosses war noch durch das vom Deckenfenster hereinfallende Licht beleuchtet.

Er zögerte und versuchte sich zu entscheiden, wie dringend er die Zigaretten haben wollte. Je länger Tom jedoch in die Dunkelheit blickte, desto mulmiger wurde ihm zumute. Nach ungefähr einer Minute, in der er in seinem Kopf das Für und Wider abgewogen hatte, entschloss er sich doch, nach unten zu gehen. Sein Monster war lauter als die Angst, auch wenn sich die beiden ein heftiges Wortduell geliefert hatten.

Ich steige hinab in die Finsternis – ist es nicht genau das, was ich eventuell sogar wirklich verdiene? Man muss Zeichen sehen, um sie deuten zu können, dachte er – hoffentlich irre ich mich mit diesem.

Langsam und darauf bedacht, kein allzu lautes Geräusch beim Hinabsteigen zu machen, als könnte hinter seiner unbestimmten Angst mehr liegen, nährte er sich nun der Dunkelheit.

»HIIIIIIIIIIIIIIILFE!«

Der Schrei war laut und durchdringend, ließ Tom stolpern und fast die Treppe runterfallen. In letzter Sekunde konnte er sich am Griff festhalten, stieß sich jedoch schmerzhaft die Wade an den Spitzen der Rolltreppenrillen an, die sich wie stumpfe Messer in sein Bein bohrten. Scharf sog er die Luft ein und zog sich mühsam wieder nach oben. Er biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien, denn etwas sagte ihm, dass es besser war, ruhig zu sein.

»HIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIILFE!« Die Stimme überschlug sich mehrmals, dann hörte er ein leises Zischen, gefolgt von unverständlichem Gemurmel und einem Poltern.

Tom näherte sich der Finsternis vor ihm. Es war klar, dass der Schrei aus dieser Richtung kam. Irgendwo in dem Tiefen des Supermarktes passierte etwas und jemand brauchte Hilfe. Es wäre gelogen, wenn er sagen würde, er hätte es sich nicht überlegt, einfach wieder nach oben zurückzugehen. Vielmehr war es sogar so, dass er am liebsten sofort auf dem Fuße kehrtgemacht hätte und gegangen wäre.

Aber das hatte er einmal zu oft getan und daher war dies nun keine Option. Er hatte eine Schuld, die musste bezahlt werden.

Er erreichte die Lichtgrenze, drehte sich noch einmal sehnsüchtig um. Letzte Chance, dachte er sich, aber er ging weiter, wenn auch nicht ganz unbeirrt und mit einer gehörigen Portion Angst in seiner Brust.

Die Schuld.

Die Dunkelheit umschlang ihn wie ein Tuch, legte sie sich über ihn und verschluckte ihn komplett. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Er tastete sich langsam weiter, vorsichtig und unsicher, denn er wusste nicht, was vor ihm lag. Was er wusste, war, dass dieser Laden vor langer Zeit geplündert worden war. Noah war dabei gewesen, als die ersten Dämme brachen und die Menschen alles von Wert zusammengerafft und gierig nach oben geschleppt hatten. Es war eigentlich mehr als unwahrscheinlich, dass er hier noch Zigaretten finden würde. Warum war er dann hier unten? Vielleicht war es Vorsehung oder göttliche Fügung, wie es Pfarrer Wutknecht nennen würde.

Einen Grund würde es haben und er konnte nur drei Dinge hoffen: zum ersten, dass er sich hier drinnen nicht hoffnungslos verirren würde und nicht mehr reichzeitig rauskommen würde, bevor … Na ja, das wussten ja alle, was dann passieren würde. Zweitens, dass was auch immer er in diesem Kaufhaus finden sollte, ihn nicht früher töten würde, als er eigentlich vorgehabt hatte zu sterben.

Es konnte schließlich alles hier unten sein. Er hatte in den letzten Wochen immer wieder Rudel wilder Hunde gesehen, die von ihren Menschen ausgesetzt worden waren und nun durch die Innenstadt streunten auf der Suche nach Fressen – oder nach einer leichten Beute.

Auch Katzen marodierten durch die Stadt, ebenso auf ihre blanken Instinkte reduziert: fressen, um zu überleben. Mit den gemütlichen, oft zärtlichen und manchmal etwas verrückten Haustieren hatten diese Tiere nichts mehr zu tun. Sie hatten sich über die letzten Jahrhunderte dem Menschen immer mehr angepasst, wen wunderte es da noch, dass sich die Tiere jetzt ebenso schnell wieder zurückentwickelten, wie es die Menschen getan hatten?

Zu guter Letzt blieb ihm noch ein dritter und letzter, eher frommer Wunsch: Hoffentlich würde er hier für diese gute Tat wenigstens eine Schachtel Zigaretten finden. Er schüttelte seinen Kopf, als würde ihm dies helfen, diesen Gedanken sofort wieder loszuwerden. Er brauchte mehr als eine gute Tat … Dringend...

Unter seinen Füßen knirschte laut Glas. Er setzte noch vorsichtiger einen Fuß vor den anderen, um die unbekannte Gefahr, die in der Dunkelheit vor ihm lauerte, nicht zu warnen. Seine Hände tasteten sich blind durch die Finsternis, bis sie etwas Hartes spürten, an dem er sich entlanghangeln konnte. Früher war es die Gemüseauslage gewesen, doch heute war davon nichts mehr übrig außer dem grünen Podest, auf dem Obst und Früchte präsentiert worden waren. Ein leicht modriger Duft hing über der Auslage. Wahrscheinlich lagen hier irgendwo noch einige vergammelte Überreste, die in aller Seelenruhe vor sich hin schimmeln konnten.

 

»Komm schon, gib mir ein Zeichen«, murmelte er in die Dunkelheit. Er wusste in diesem Moment nicht, ob die Aufforderung an den Herrn oder an die Person ging, die gerade panisch geschrien hatte. Beides wäre ihm jedoch recht gewesen.

Er tippte auf ein junges Mädchen, das Hilfe brauchte. In den letzten Wochen war es immer wieder zu Vergewaltigungen gekommen, was Tom begrenzt verstehen, aber nicht nachvollziehen konnte. Überall konnte man Orgien feiern, aber manchen Menschen schien das wohl nicht zu reichen. Sie brauchten ein schreiendes, zappelndes junges Ding unter sich, welches sie beherrschen und demütigen konnten. Eine letzte Grenze, die man überschreiten konnte. Mord, Totschlag, Vergewaltigung. Es gab keinen irdischen Richter mehr, der darüber urteilen würde, welche Strafe angemessen war. Manche Menschen brauchten das, hatten vielleicht ihr gesamtes Leben mit diesem dunklen Wunsch gelebt, nur um ihn jetzt, im Angesicht des Endes, auszuleben – und wo wäre so etwas einfacher als hier, in einem Laden, in dem seit Wochen kein Mensch mehr gewesen war? Wer konnte denn ahnen, dass gerade heute ein nikotinabhängiger Pfarrer in spe hier herunterkommen würde?

Aber was würde er machen?, fragte sich Tom. Er war nicht gerade ein Bodybuilderbei Weitem. Er hatte sich auch seit der Grundschule nicht mehr geprügelt. Was wäre, wenn er gleich einer Gruppe von mehreren starken, hormongesteuerten Männern gegenüberstehen würde? Dann hätte er keine Chance. Sie könnten ihn innerhalb weniger Sekunden halbtot prügeln, dann das Mädchen weiter vergewaltigen und ihr Werk an ihm vollenden.

Aber er konnte jetzt nicht mehr einfach gehen, nein, nicht schon wieder. Daher schlich er sich weiter. Er vertraute darauf, dass er hier irgendwie wieder rauskommen würde. Wenn nicht, dann war das wohl seine Strafe.

»AAAAAAAAAAAAAAAAAUUH!« Eine Mischung aus Schmerzensschrei und blanker Angst dröhnte durch die Dunkelheit und schien dadurch noch verstärkt zu werden. »Halt deine Scheißfresse, du Schlampe!«, kam die schallende Antwort.

Ein klatschendes Geräusch.

Nach rechts.

Das Geräusch, zuvor diffus und schwer zu orten, wurde nun immer lauter. Unter seinen Füßen knackten trockene Nudeln, die beim Plündern heruntergefallen waren und sich dann über den gesamten Boden verteilt hatten. Er steckte in einer Zwickmühle. Würde er schnell laufen, würden die Nudeln unter seinen Füßen laut knirschen und ihn vielleicht verraten. Würde er weiter so langsam laufen, dann könnte er wohl nur noch die »Überreste« von dem jungen Ding einsammeln.

Leise fluchend schlich er weiter und wünschte sich, dass das Mädchen doch bitte wieder schreien würde, damit dieser Schrei die Geräusche überdecken würde, die er verursachte.

Jetzt sah er ein kurzes Aufflackern, ein paar Gänge weiter vor sich. Dort musste sich früher die Tiefkühlabteilung befunden haben, dachte er.

»Fick sie!«, jubelte eine Stimme, die er bisher noch nicht gehört hatte. »Fick sie!« Die Stimme kreischte, aber nicht vor Angst, sondern vor Freude und Erregung. »Mir geht da voll einer ab!«

»Mach jetzt, du Fotze! Wenn du dich wehrst, dann wird es nur länger dauern.«

»HIIIIIIIIIILF…« Weiter kam das Mädchen nicht, denn einer ihrer Vergewaltiger trat ihr gegen den Kopf und brachte sie so zum Schweigen. Tom konnte nicht einschätzen, wie alt sie war. Vielleicht war sie schon erwachsen, zumindest laut Ausweis, vielleicht aber auch jünger. Und ihre Peiniger? Auch dort konnte man keine Aussage treffen. Die Stimmen klangen nicht tief genug, um von vollkommen Erwachsenen zu stammen, aber bei Weitem nicht mehr wie die von Kindern. Dies konnte aber auch einfach an den Worten liegen, die sie mit so einer kalten Bösartigkeit aussprachen, dass Tom sich wünschte, es wären keine Kinder mehr, die zu so etwas fähig waren.

Er stockte und blieb stehen, da er vermutete, nur noch zwei Gänge entfernt zu sein. Er musste sich zwangsweise eine Art Schlachtplan überlegen, wie er vorgehen sollte.

Vielleicht ein Frontalangriff? Dann hätte er sicher das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Aber wie sicher war es, dass ihm das überhaupt etwas nützte? Könnte er vielleicht irgendwie über die Regale klettern und sich von oben auf die Vergewaltiger stürzen? Wahrscheinlich würde das seine allgemeine Fitness nicht zulassen, ganz davon abgesehen, dass er die Regale nicht als stabil genug erachtete.

Er könnte sich von hinten anschleichen. Vielleicht würde er irgendwo auf dem Boden etwas finden, das man als Waffe einsetzten konnte. Abgebrochener Teil von einem Regal, vielleicht eine liegen gelassene Dose. Irgendwas, das man als Wurfgeschoss oder als Knüppel benutzen konnte.

Dagegen sprach leider, dass es stockdunkel war. Nur die diffus tanzenden Lichtkegel von Taschenlampen zwei Reihen von ihm entfernt spendeten etwas Licht, welches jedoch bei seiner Position komplett von der Dunkelheit geschluckt wurde.

Wie würde ein Bruce Willis bzw. ein John McClain jetzt vorgehen? Für eine Sekunde wünschte er sich, Chris wäre hier. Dieser hatte in seinem Leben so viele Actionfilme gesehen, dass er sicher mindestens eine Idee gehabt hätte, die halbwegs sinnvoll gewesen wäre und hoffentlich auch umsetzbar. Er wäre auch mutiger gewesen, hätte sich wohl direkt auf die beiden Kerle gestürzt und versucht, sie mit bloßer Faust niederzuringen. Wenn er es auch nicht geschafft hätte, dann wäre vielleicht wenigstens das Mädchen gerettet worden.

Noch besser wäre es, wenn Mick jetzt hier gewesen wäre. Der war für solche Situationen ausgebildet worden, hatte einen braunen Gürtel in Karate und machte mehrmals pro Woche Krav Maga. Er hätte die beiden sicher binnen Sekunden zu zwei heulenden Klumpen Mensch verarbeitet.

Vielleicht sollte er einfach eine Drohung rufen, sich wie ein starker Mann aufspielen. Es könnte die beiden einschüchtern.

Oder ich drehe einfach um und gehe. Ist nicht meine Angelegenheit.

Langsam tastete er sich weiter, dieses Mal jedoch mit den Händen auf dem kalten Steinboden. Alle paar Zentimeter spürte er die gefugten Fliesen, mehr jedoch nicht. Der Boden wirkte kalt wie Eis unter seinen vor Anspannung bebenden Fingern. Er fand nichts. Keine Dosen, die als provisorisches Wurfgeschoss dienen konnten, keinen Stock – gar nichts.

Er seufzte so laut und vernehmlich, dass das Stöhnen zwei Gänge weiter kurzzeitig stoppte. Er erstarrte in seiner Bewegung, biss sich wütend auf die Lippe und fluchte leise über seine eigene Unachtsamkeit.

Die Stille war fast so undurchdringlich wie die Dunkelheit. Ängstlich schluckte Tom und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Während er betete, merkte er jedoch, dass er nicht wusste wofür. Bitte hilf mir, den beiden ordentlich in den Arsch zu treten? Bitte lass sie mich nicht töten? Egal was er bitten wollte, alles schien als Konsequenz zu haben, dass jemand verletzt oder getötet werden würde.

Soviel dazu, meine Schuld loszuwerden.

»Was soll’s. Dann warte ich eben im Himmel auf Pfarrer Wutknecht, wenn es schief gehen sollte und sie mich überwältigen.« Es war der schwache Versuch einer Eigenmotivation, die jedoch gründlich daneben ging.

Gott will die Menschen reifen sehen, an Herausforderungen sollen sie wachsen und so beweisen, dass sie es wert sind. Das Schlimmste ist vielleicht nicht die Hölle, die uns nach dem Tod erwartet, sondern eine weitere Runde auf der Erde, da wir uns noch nicht als würdig erwiesen haben. Daher gibt es Leid – es ist nur dafür da, dass der Mensch an selbigem wächst und reift. Wenn es Gott gefällt und er genug gesehen hat, dann zieht man ins Himmelreich ein. Der Asteroid ist wohl jetzt die letzte Prüfung – das waren die Worte von Pfarrer Wutknecht gewesen.

Dann versuche ich mich mal zu beweisen, dachte Tom.

Das Stöhnen hatte wieder eingesetzt, ebenso wie das leise Wimmern des Mädchens.

Er tastete sich weiter nach vorne, konnte aber einfach nichts finden, bis er mit seinem Kopf an etwas Hartes stieß. Der Aufprall war nicht laut genug, um die beiden Vergewaltiger nochmals zu erschrecken, aber doch schmerzhaft genug, dass Tom vernehmlich Luft einzog. Er kniete sich kurz hin, da er ein paar Sekunden warten wollte, bis der Schmerz verschwunden war, ebenso wie der leichte Schwindel in seinem dumpf dröhnenden Schädel. Kleine, bunte Punkte tanzten wie Derwische vor seinen Augen, während der Schmerz pochend durch seinen Kopf jagte. Seine Hände fielen auf etwas Metallisches, Hartes. Verwundert zog er vorsichtig daran, bis er merkte, dass es sich bewegen ließ.

Es war eine große Metallstange, die früher dazu gedient hatte, dass die Einkaufswägen nicht gegen die Tiefkühltruhen gefahren wurden. Eine Art Stopper, wenn man so wollte. Was Tom nicht wusste, da er es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, war, dass das eine Ende voller Blut war. Als hier geplündert worden war, hatten einige Männer diese Stange abgerissen und waren damit auf die Menschen losgegangen, die mehr Nahrungsmittel ergattert hatten als sie. Einige Gänge weiter, bei der Fleischtheke, lagen jetzt noch langsam verwesende Leichen. Nur die kühle Umgebungsluft des Kellergeschosses hatte dafür gesorgt, dass die Verwesung noch nicht so weit fortgeschritten war und sich ihr Geruch nach wenigen Metern komplett verlor.

Tom hatte von solchen Plünderungen nur über Dritte mitbekommen. Manche Menschen hatten sich zusammengetan, hatten sich sogar noch in den letzten Wochen geholfen und unterstützt, andere hatten sich zurückentwickelt zu Tieren, die nur an ihr eigenes Überleben dachten. Jedoch die, die sich weiterhin hilfsbereit verhalten hatten, hatten unter anderem auch ihn und Pfarrer Wutknecht mit Lebensmitteln versorgt, quasi als Gegenleistung für ihre moralische Unterstützung.

Am Ende war es egal gewesen. So oder so hatten sie geplündert. Es war nur eine Frage der Perspektive, ob es nun gerechtfertigt oder ob es komplett falsch gewesen war.

Tom nahm die Eisenstange hoch. Sie wog schwer und lag kalt in seinen Händen. Er wusste nicht, wie viel sie aushalten würde und ob sie vielleicht sogar nach einen Schlag brechen würde, auch wenn sie sich sehr massiv anfühlte. Wenn, dann würde es vielleicht reichen, um dem Mädchen eine Chance einzuräumen. Mit einem Schlag konnte man sehr viel kaputtmachen, das wusste er.

Vorsichtig schlich er weiter, vorbei am nächsten Gang zu dem, in dem die Vergewaltigung vor sich ging. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Im spastisch zuckenden Schein der Taschenlampen lag ein schmächtiger Junge, er mochte höchsten siebzehn oder achtzehn sein, auf einem Mädchen, welches sicher nicht viel älter war. Sein Freund stand geifernd daneben, mit der einen Hand in der Hose und weit aufgerissenen, geilen Augen, die vor Lust funkelten.

Angewidert umklammerte Tom die Eisenstange in seiner Hand noch etwas fester und machte langsam einen Schritt in den Gang. Kleine Pfützen, die von den abgetauten Tiefkühlaggregaten stammten, hatten sich auf dem Boden gebildet. Das Licht der Taschenlampen erzeugte Tausende kleiner Lichter auf den nassen Boden.

Das Wasser roch modrig und faul, mischte sich nun auch mit dem Gestank der Leichen, die etwas weiter entfernt lagen, übertünchte jedoch den süßen, penetranten Totenduft. Tom nahm es nicht wahr.

Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, bewegte er sich in Richtung der beiden Jungen. Das Mädchen hatte augenscheinlich aufgegeben, sich zu wehren. Sie lag leise schluchzend da und ließ das Ungeheuerliche über sich ergehen wie eine Puppe. Sie blickte in seine Richtung, sah aber direkt durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas.

Es war sein Glück, dass die beiden viel zu sehr in ihre Tat vertieft waren, denn sonst hätten sie ihn mittlerweile garantiert bemerkt. So konnte er sich jedoch weiter leise und vorsichtig anschleichen. Das Wasser unter seinen Füßen platschte leise und schwappte in konzentrischen Wellen über den Boden. Er hob das Rohr, als wäre es ein Baseballschläger und er ein Schlagmann, der darauf wartete, einen Ball aus dem Stadion zu schlagen.

Ihn trennten nur noch ungefähr drei Schritte bis zu den beiden Kerlen auf dem jungen Ding. Er umklammerte seinen Schläger nochmals fester. Seine feuchten Hände quietschten leise auf dem Metall.

In seinem Inneren machte sich eine brutale, gnadenlose Entschlossenheit breit. Er würde dieses Mädchen retten, egal was es kosten würde. Das war er sich selbst einfach schuldig.

 

Einen Schritt noch.

Seine Fußspitze berührte fast schon die Ferse des Jungen, der grunzend und stöhnend immer wieder mit seiner Hüfte auf das Mädchen einstieß wie mit einem fleischigen Messer.

»Was zum …?«, fragte der andere erschrocken. Das Licht seiner Taschenlampe glitt zu Tom, der seinen Blick jedoch nur auf den am Boden Liegenden gerichtet hatte. Das war sein Glück, denn sonst hätte der helle Strahl der Lampe ihn wahrscheinlich im ersten Moment geblendet. So jedoch spürte er nur, dass es plötzlich heller wurde, aber seine Augen krampften sich nicht zusammen.

Er holte noch etwas weiter aus.

Der Junge am Boden drehte sich erschrocken und leicht verärgert um. Sein Gesicht wurde fahl und seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er Tom sah, der aus seiner Position wie ein Hüne wirkte, ein Relikt aus einer anderen, dunkleren Zeit, der über seinem Kopf seine Streitaxt schwang. Das Licht, welches sein Kumpel auf ihn warf, fiel in so einem diffusen Winkel auf Tom, dass der Großteil seines Gesichts im Schatten lang und ihm zusätzlich eine dunkle und bedrohliche Aura verschaffte.

All das passierte in wenigen Sekunden, ebenso wie Toms Schlag. Er ließ die Stange durch die Luft sausen, und mit tödlicher Sicherheit traf sie den Jungen seitlich am Kopf. Der Schädel knackte laut, als er einer Walnuss gleich brach. Sofort kippte der Junge zur Seite und blieb zuckend liegen.

Tom richtete seinen Blick langsam nach oben auf den anderen, der immer noch seine Hand in seiner Hose hatte und wahrscheinlich sein Ding umklammerte. Voller Schreck über Toms plötzliches Auftauchen und seinen brutalen Schlag gegen den Kopf seines Freundes hatte er die Taschenlampe sinken lassen. Der Lichtkegel ruhte nun auf seinem Freund am Boden. Tom holte erneut aus und machte, während er zuschlug, noch einen Schritt nach vorne. Dies potenzierte sich und machte den Schlag, der gegen den zweiten Jungen geführt wurde, noch brutaler. Es pflügte den Jungen von den Beinen und warf ihn kopfüber in eine der Tiefkühltruhen, in der er bewusstlos liegen blieb. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit, sein mittlerweile schlaffes Glied loszulassen, geschweige denn einen erschreckten Aufschrei aus seiner Kehle zu pressen.

Seine Taschenlampe fiel mit einem lauten Klirren zu Boden, rollte zur Seite und blieb dann liegen. Der am Boden Liegende lebte noch, das war eindeutig, aber wahrscheinlich würde er ohne Hilfe recht bald sterben. Blut tropfte ihm aus dem Ohr, und seine Augen zuckten panisch hin und her. Aber er bewegte sich nicht koordiniert, sondern nur spastisch und unwillkürlich.

Tom überlegte sich, was er jetzt machen sollte. Das Mädchen am Boden hatte sich sowohl von ihm als auch von seinen Peinigern weggedreht,lag nun in der Embryonalstellung am Boden und schluchzte leise vor sich hin.

Liegen lassen wollte er sie nicht. Aber hier raustragen? Das war ihm irgendwie zu gefährlich. Wahrscheinlich würden sie doch eh sterben, noch bevor der Rest der Welt ihnen folgen würde. Aber konnte man sich da sicher sein? Dieses Dilemma konnte er nicht ohne Weiteres lösen, dessen war er sich bewusst. Daher tat er das, was er davor auch schon so oft getan hatte.

Tom ging zu jedem von ihnen hin, sprach die Sterbesakramente und ein Gebet für die Seelen der beiden, die eigentlich noch Kinder gewesen waren, auch wenn sie es sich sicher nie eingestanden hätten. Vergib ihnen, denn sie wussten nicht, was sie taten – ich habe es gewusst und ich hoffe, du bist damit zufrieden und vergibst auch mir. Ich wollte nur helfen und meine Schuld begleichen.

Dann beugte er sich zu dem Mädchen.

»Hey«, flüsterte er und streichelte ihre Wange. Sie trug keine Hose und zwischen ihren Beinen mischte sich Blut mit dem Kondenswasser auf dem Boden. Er wandte seinen Blick starr auf ihr Gesicht, bevor Bilder in seinem Kopf aufsteigen konnten, für die er in diesem Moment nicht bereit war.

»Hörst du mich?«, fragte er sanft und freundlich »Ich will dir nichts tun. Ich will dir helfen.«

Das Mädchen drehte sich langsam um und blickte ihn misstrauisch an. Tom griff nach der Taschenlampe und hielt sie sich ins Gesicht. Das grelle Licht blendete ihn und er musste kurzzeitig die Augen schließen.

»Ich heiße Tom. Ich bin«, er stockte, »Pfarrer.«

»Ein Pfarrer tötet keine Menschen«, gab das Mädchen schluchzend zurück. Immerhin reagierte sie auf ihn, dachte er sich. Das Misstrauen in ihrer Stimme war nur verständlich.

»Aber er beschützt seine Herde.« Er strich ihr nochmals sanft über die Wange. »Wie geht es dir?«

»Es tut furchtbar weh«, schluchzte leise. Ihre Hand wanderte auf ihren Bauch, fuhr etwas weiter runter in Richtung ihrer Scham. Dann zuckte sie zurück, als hätte sie sich verbrannt. »So weh.«

»Das glaube ich dir. Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er so einfühlsam wie er nur konnte. Er legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Sie zuckte nicht zurück, aber zitterte noch immer unkontrolliert.

»Ich will nach Hause. Ich will nach Hause.« Sie richtete sich auf und blickte sich um. Tom zuckte erschrocken zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie auf einmal so energiegeladen sein würde.

Sie bedeckte sich nicht, was Tom jedoch nicht auffiel. Er versuchte ihrem Blick zu folgen, um rauszubekommen was sie wollte. Er ließ die Taschenlampe über den Gang wandern, bis er irgendwann im Lichtkegel die Hose des Mädchens fand. Sie war dem Schein der Lampe offensichtlich gefolgt, denn nun versuchte sie sich an der Kühltruhe hochzuziehen, rutschte jedoch geschwächt auf dem nassen Boden aus und fiel wieder hin.

»Ich hole sie dir«, sagte Tom und stand auf.

Als er wieder zurück zum Mädchen kam, hatte es seine Knie bis unter das Kinn angezogen und blickte schockiert und starr vor sich hin. Die plötzliche Energie war wieder so schnell verschwunden, wie sie gekommen war.

»Kannst du sie dir selber anziehen?« Diese Worte schienen erst durch einen Schleier dringen zu müssen, bevor das Mädchen sie wahrnahm. Dann nickte sie und nahm die Hose.

Tom drehte sich um, während er wartete, bis sie sich angezogen hatte. Nach einer Weile wagte er sich wieder umzudrehen. Das Mädchen wirkte wie zerstört. Desolat blickte es mit trüben und leblosen Augen auf die Leichen der beiden Vergewaltiger am Boden. Keine Regung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Es schien, als würde sie irgendwo weit, weit weg sein.

»Kannst du gehen?«, fragte Tom, aber sie ignorierte ihn. Er wartete eine Weile, bevor er sich sicher sein konnte, dass das Mädchen nicht reagieren würde. Dann legte er seine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte sofort weg, als wären seine Finger elektrisch geladen und hätten ihr gerade einen Schock verpasst.

Dann geschah alles recht schnell. Sie beugte sich nach unten und packte die Taschenlampe, die noch am Boden gelegen hatte. Sie nahm sie auf und verschwand. Sie drehte sich nicht um, sagte kein Wort, sondern ging einfach.

Tom blickte ihr etwas irritiert hinterher, stirnrunzelnd, ob er ihr folgen sollte oder nicht. Er machte einen Schritt hinter ihr her, blieb dann jedoch zögernd stehen. Letztlich konnte er doch nichts mehr tun, dachte er sich.

Er schaute wieder auf die Leichen der Jungen. Sofern sie wirklich schon tot waren, was er nicht mit Sicherheit sagen konnte. Am Ende waren sie alle Leichen – manche hatten nur noch einen Puls, wie er und das Mädchen.

Es tat ihm leid. Nicht, dass die beiden bald tot sein würden, sondern mehr, dass sie in solch einer Welt hatten leben müssen. Sie hatten sicher Träume gehabt, Hoffnungen und Ziele, die von «Bright Bob« allesamt zerstört worden waren. Er war sich sicher, dass der Mensch im Innersten gut war, genau wie diese beiden. Es waren die Umstände, die sie zu solch einer brutalen Tat getrieben hatten.