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2.3 Die relative Positionierung des Synodenbeschlusses

Dem pastoraltheologischen Kommentator des Synodenbeschlusses bleibt nun aber trotz der pastoralen Irrelevanz des Textes noch ein Drittes: die Rekonstruktion der relativen Lage des Synodenbeschlusses innerhalb der innerkatholischen Diskursgeschichte zu „Ehe und Familie“. Anders gesagt: Wo stand man damals 1975, was wagte man, was nicht auf der Synode?

Schon der erste Satz des Synodenbeschlusses markiert ein unübersehbares Modernitäts- und Reformbewusstsein:

Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ die lange Zeit in Gesellschaft und Kirche vorherrschende Betonung der Ehe als Institution zur Erzeugung und Erziehung der Nachkommenschaft durch eine Orientierung am Leitbild der partnerschaftlichen Ehe ergänzt (GS 47ff). (0.1.)

Die Synode spielt damit auf die berühmte konziliare Umorientierung, besser Überschreitung der klassischen katholischen „Ehezwecklehre“ an, auf jenen „neue[n] Standpunkt“, der sich in Gaudium et spes bereits, so Hans-Joachim Sander, „im Begriff ‚Gemeinschaft der Liebe‘ für die Ehe (GS 48,1)“135 zeige: „Eheleute dienen keinem übergeordneten Zweck, sondern sind ein Ort der Liebe“136.

Die Ehe werde – so Sander im Kontext seiner Interpretation von Gaudium et spes als Zeugnis eines fundamentalen „Ortswechsels“ katholischer Selbstreflexion der Kirche von identitätsorientierter Selbstbezüglichkeit zu ortsorientierter Aufgabenbezogenheit – „zu einem exemplarischen Fall für die pastorale Ortsbestimmung von GS“. Sander räumt ein, dass die „konkrete(.) Repräsentanz dieses Standpunkts durch Eingriffe relativiert“137 werde, ein Muster, das bekanntlich gerade in der nach-vatikanischen Lehrentwicklung nicht nur hier gegriffen hat.138

Im Synodentext sind deutliche Spuren dieses konziliaren Ortswechsels zu finden, so etwa in der selbstverständlichen konzeptionellen Verwendung der Kategorie „Partnerschaftlichkeit“ als Leitbild der Ehe. Damit wird die von Pius XII. (Casti connubii) und noch im LThK des Jahres 1959 vertretene Lehre, dass der Mann „als Haupt der Familie das Vorrecht der Leitung, die Frau als Herz der Familie den Vorrang der Liebe“139 habe, zu Gunsten eines nicht mehr geschlechterrollenfixierten Modells revidiert.140 Auch die spätestens ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge der „zweiten Konfessionalisierung“ gerade in Deutschland dramatisierte („Kölner Wirren“) und daher von Katholiken und Katholikinnen wenn irgend möglich zu vermeidende konfessionsverschiedene Ehe wird im Synodenbeschluss zwar noch nicht zur „konfessionsverbindenden Ehe“141 späterer Jahre, aber man fordert Anerkennung und Angenommensein in „beiden Gemeinden“ für solche Ehen und stellt fest, dass sie „in besonderer Weise der spirituellen Förderung und Vertiefung“ (2.4.3.) bedürften.

Gegen die 1975 kirchenrechtlich noch gültige Diskriminierung nicht-ehelicher Kinder kämpft man gar mit einem eigenen Votum (4.1.3.), diese Gleichstellung hatte das LThK von 1931 noch als „aus übertriebenem Mitleid u[nd] aus Verfälschung sittlicher Begriffe entstandenen“142 Irrweg gegeißelt. Die „gesellschaftliche(.) und kirchliche(.) Diskriminierung“ der „nichteheliche[n] Mutterschaft“ wird ebenso notiert wie bedauert. Zwar wird sie immer noch als „Fehltritt“ und „Versagen“143 (3.3.1.1.) (ab)qualifiziert, „Hilfen für ungewollt Schwangere“ werden aber immerhin als „drängende Aufgabe“ (3.3.0.) gesehen.

Auch wendet man sich gegen die Verurteilung einer gescheiterten Ehe als „Versagen“ der Ehepartner: „Selbst unter Christen ist solch selbstgerechtes Urteilen weit verbreitet, so sehr es der Weisung des Herren zuwiderläuft (Mt 7,1)“ (3.4.1.3.), stellt die Synode fest. Man bietet „Geschiedenen die Mitarbeit in Familienkreisen und -gruppen der Gemeinde“ (3.4.2.5.) an und fordert, wenn „eine Ehe trotz allen Bemühens gescheitert“ sei, „muß mit allen Mitteln geholfen werden.“ (3.4.2.3.) Auch die „undifferenzierte Verurteilung bestehender vorehelicher sexueller Beziehungen“ wird zurückgewiesen, das werde „den betreffenden Menschen in ihrem Verhalten [nicht] gerecht“. Gleichzeitig weist man aber auch die Ansicht zurück, dass „volle sexuelle Beziehungen vor der Ehe … selbstverständlich oder sogar unbedingt notwendig“ (3.1.3.4.) seien.

Der konziliare Optionswechsel von der moralischen Verurteilung und sozialmoralischen Sanktionierung zur pastoralen Solidarität wird von der Synode also halbwegs konsequent gegangen, freilich am Kern der kirchlichen Familien- und Eheauffassung treu festgehalten, welche die Familie als in der monogamen, unauflöslichen Ehe gegründete Gemeinschaft von Mann und Frau mit ihren leiblichen Kindern sieht, eine „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“, vom „Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt“, wie es in Gaudium et spes 48 heißt, zudem der einzig legitime Ort voller und grundsätzlich für die Kinderzeugung offener Sexualität.

Die Synode bemüht sich unübersehbar, in dieses klassische Bild katholischer Ehe- und Familienlehre Elemente des Prozesshaften und Graduellen einzubauen. So wenn von einer „Stufenleiter der Zärtlichkeiten“ im „Vorraum der vollen sexuellen Gemeinschaft“ die Rede ist und alle Stufen dieser Leiter „als gut und richtig gelten“ können, „solange sie Ausdruck der Vorläufigkeit sind und nicht intensiver gestaltet werden, als es dem Grad der zwischen den Partnern bestehenden personalen Bindung … entspricht.“ (3.1.3.3.) Man mischt sich auch nicht mehr allzu sehr in die Fragen der konkreten Gestaltung und Praktiken innerehelicher Sexualität ein,144 wenn es auch noch ein Reflex auf genau diese Regulierungen ist, wenn die Synode erklärt, dass „alle jene natürlichen Handlungen als gut und richtig angesehen werden, die der Eigenart der beiden Partner entsprechen und in gegenseitiger Achtung, Rücksichtnahme und Liebe geschehen“ (2.2.1.3.).

Vor allem aber rekurriert der Beschluss an drei ebenso signifikanten wie prekären Stellen auf die Kategorie des Gewissens: bei der Frage der Empfängnisverhütung und der dazu legitimen Methoden, bei den Fragen vorehelicher Sexualität und beim Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. In der nach Humanae vitae und der „Königsteiner Erklärung“ (1968) ziemlich erhitzten Diskussionslage erklärt die Synode, dass „die Eltern die jeweils verantwortbaren Konsequenzen aus einer sicher nicht leichten Gewissensentscheidung über die Zahl ihrer Kinder“ unter Berücksichtigung aller Fakten ziehen müssten. Und in einer klassischen Kompromissformulierung fährt man fort:

Das Urteil über die Methode der Empfängnisregelung, das in die Entscheidung der Ehegatten gehört, darf nicht willkürlich gefällt werden, sondern muß in die gewissenhafte Prüfung die objektiven Normen miteinbeziehen, die das Lehramt der Kirche vorlegt. Die angewandte Methode darf dabei keinen der beiden Partner seelisch verletzen oder in seiner Liebesfähigkeit beeinträchtigen. (2.2.2.3.)

Ähnlich beim vorehelichen Sex:

Es ist offensichtlich, daß der wahllose Geschlechtsverkehr mit beliebigen Partnern anders zu bewerten ist als intime Beziehungen zwischen Verlobten oder fest Versprochenen, die einander lieben und zu einer Dauerbindung entschlossen sind, sich aber aus als schwerwiegend empfundenen Gründen an der Eheschließung noch gehindert sehen. Dennoch können diese Beziehungen nicht als der sittlichen Norm entsprechend angesehen werden. Hier zu einer verantwortbaren Entscheidung zu verhelfen, ist vordringliche Aufgabe der Gewissensbildung. (3.1.3.4.)

Die ausgesprochen ausführliche Behandlung des Problems des kirchlichen Umgangs mit wiederverheirateten Geschiedenen – der Text verlässt hier den Gestus des „einen Sprechers“ und wechselt in ein offen kontroversielles und nicht entschiedenes Pro und Kontra – mündet in eine Bitte an die

Deutsche Bischofskonferenz, die dringend notwendige Klärung weiter zu betreiben und baldmöglichst ein Votum in dieser Frage an den Papst weiterzuleiten. Unabhängig davon bittet die Synode den Papst, eine pastoral befriedigende Lösung herbeizuführen. Dabei sollen die Anliegen der Anträge aufgegriffen werden, in denen pastorale Hilfen für die Gewissensentscheidung der wiederverheirateten geschiedenen Katholiken wie der sie beratenden Priester enthalten sind. (3.5.3.1.)

Damit endet übrigens der eigentliche Text des Synodenbeschlusses, es folgen „Voten, Anordnungen, Empfehlungen“.

Während diese Konfliktkonstellation zwischen „Gewissensfreiheit“ und „objektiver Norm“ bis heute anhält, sind einige weniger bedeutende Positionen des Synodenbeschlusses deutlich vom Kontext der 1970er Jahre geprägt, so die Zurückhaltung gegenüber dem „Zerrüttungsprinzip“ (3.4.2.3.) im bürgerlichen Scheidungsverfahren, das in Deutschland kurz nach der Synode (1976) rechtlich das „Schuldprinzip“ ablöste. Ähnliches gilt von der eher vorsichtigen Bejahung der damals noch heftig umstrittenen schulischen Sexualerziehung (3.1.1.2.1).

Das aber bedeutet: Der Synodenbeschluss repräsentiert bis heute normativ so ziemlich die Avantgarde kirchlicher Familien- und Ehelehre, insofern er eine gewisse Gradualität in die moralische Betrachtung sexueller Praktiken einführt, zudem die Kategorie des Gewissens in der individuellen moralischen Abwägung stark macht und drittens die konziliare Option „Pastoral vor Moral“ im Umgang mit jenen, die den normativen Vorgaben nicht entsprechen, einfordert. Das ist nicht wenig und der Kommentar von Franz Böckle145 belegt, wie viel Mühen und Anstrengungen es kostete, dies zu erreichen. Lebensformen, wie sie damals tatsächlich noch sehr marginalisiert nur existierten, heute aber in gesellschaftlicher Normalität existieren, etwa „Living Apart Together“146, homosexuelle Lebenspartnerschaften oder „Patchwork-Familien“147, kommen so naturgemäß nicht oder nur als negative Abweichung vom Ideal in den Blick.

 

3 Wie weiter?
3.1 Signifikante Problemfelder katholischer Ehe- und Familienpastoral

Und dennoch: Maria Widl hat Recht, wenn sie schreibt, dass sich „heute die kirchliche Lehre über die Ehe und Sexualmoral als das bei weitem größte allgemeine pastorale Problem“148 erweise. Offenkundig bezieht sich die katholische Familien- und Ehelehre zumindest in ihren offiziellen Verkündigungen und rechtlichen Regelungen noch weitgehend auf die auslaufende „Normalität“ vergangener, extern stabilisierter Biografie- und Beziehungsmodelle. Sie wirkt daher wie der apologetische Legitimationsdiskurs einer vielleicht heute noch ersehnten, aber immer seltener noch möglichen konsolidierten Ehe- und Familienstruktur.

Aus pastoraltheologischer Perspektive entwickelt die offizielle katholische Ehe- und Familientheologie selbst in der moderat reformierten Fassung der Würzburger Synode ausgesprochen problematische Konsequenzen. Zum einen wirkt die katholische Ehe- und Familienlehre als kirchliches Distanzierungs- und Entfremdungssignal. Wenn in den Ballungsräumen jede zweite, auf dem Land jede dritte Ehe geschieden wird, dann bedeutet dies, dass mittelfristig die allermeisten Menschen entweder selbst oder im familiären Nahbereich mit der Erfahrung kirchlicher Rechtsminderung von wiederverheirateten Geschiedenen149 oder (wenn auch kaum mehr exekutiert) nicht-ehelich Zusammenlebenden konfrontiert werden. In Zeiten, da kirchliche Partizipation unter den dauernden Revisionsvorbehalt auch der aktiven Kirchenmitglieder geraten ist, bedeutet dies für eine immer größere Zahl von Menschen ein von der Kirche ausgehendes Distanzsignal.

Die Kluft zwischen strikter Doktrin und kirchlichen Rechtsvorschriften einerseits und real davon weit abweichender Praxis andererseits wirkt zudem, wie alle allzu breiten Theorie-Praxis-Klüfte, entplausibilisierend auf die kirchliche Lehre im Bereich von Ehe und Familie, aber zunehmend auch auf kirchliche Lehren überhaupt. Diese Kluft hat offenbar jene Grenze schon länger überschritten, bis zu der Norm-Praxis-Abweichungen durchaus versöhnend, friedensstiftend und realitätsadäquat wirken können.

In der lehramtlichen Ehe- und Familienlehre herrscht zudem trotz aller „Verflüssigungsversuche“ in Richtung Gradualität und Prozesshaftigkeit weitgehend dann doch noch die alte statisch-idealistische, dabei stark juridische Auffassung familiarer und ehelicher Beziehungsrealitäten, wie sie früheren sozialen Formationen durchaus entsprach, heute aber nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Aus der Perspektive der Betroffenen erscheint solch eine Lehre heute als legalistische Engführung und erweckt den Verdacht einer heteronomen Außensteuerung intimster menschlicher Realitäten, die den komplexen Wirklichkeiten von Ehe, Familie und überhaupt partnerschaftlichen Beziehungsstrukturen nicht gerecht wird.

Vom 12. Jahrhundert bis zum II. Vatikanum war bekanntlich für das innerkirchliche Verständnis der Ehe die Vertragstheorie prägend, also eine juridische Kategorie. Eine personale Beziehung brauchte dazu nicht vorhanden zu sein: Der Ehekonsens konstituierte einen Vertrag, der zentral das lebenslange und ausschließliche „Recht auf den Körper des anderen zum Zwecke der Zeugung“ umfasste. Wer dieses Recht darüber hinaus anderen einräumte, beging Vertragsbruch und handelte schwer sündhaft. Diese Lehre ist bis heute die kaum modifizierte Grundlage der kirchenrechtlichen und lehramtlichen moraltheologischen Normierungen. Das Recht der Verheirateten auf intime sexuelle Beziehungen wird dabei isoliert von aller personaler Beziehungsrealität als Herrschaftsrecht – meistens wohl zu Lasten der Frau – definiert. Dies entspricht nicht jenem Verständnis intimer Beziehungen, wie es heute vorherrscht. Die differenzierte Ehelehre des II. Vatikanums ist hier weiter, sie wurde in der nachkonziliaren Entwicklung kirchenrechtlich aber nicht wirklich wirksam.

Die katholische Ehe- und Familientheologie berührt auch den Sakramenten- und Gottesbegriff in durchaus problematischer Weise. Sie definiert(e) gemäß der Vertragstheorie klassisch den „Eheabschluss“ als „Sakrament, nicht aber das nachfolgende Eheleben.“150 Sie stellt damit das Leben wiederverheirateter Geschiedener oder auch nichtverheiratet Zusammenlebender unter dauernde Sündhaftigkeit und damit Gottes voraussetzungslose Barmherzigkeit, die seine Gerechtigkeit nicht aufhebt, sondern darstellt,151 in der Praxis kirchlicher Nicht-Vergebung in Frage. Obwohl die katholische Ehetheologie die Ehe als Sakrament, also als wirksames Zeichen der Gnade Gottes bestimmt, Gottes Gnadenwirksamkeit also gerade in diesem Sakrament bis in die oft mühsame Alltäglichkeit hinein zuspricht, wird das Scheitern einer Ehe von Gottes Zuwendung – zumindest im Bereich der Lehre – nicht noch einmal umfangen.

Anders als Gottes Liebes- und Gnadenzusage sind Liebes- und Gnadenzusagen des Menschen aber gefährdet, endlich und stets hilfsbedürftig. Die Schuldgeschichte, die im Übrigen jede, auch die beste Ehe ist, kann, im Unterschied zu anderen Schuldgeschichten, von der Kirche im Falle ihrer Eskalation nicht noch einmal in Gottes verzeihende Zusage hinein aufgehoben werden. Jesu befreiende Gnadentaten, Grundlage allen sakramentalen Handelns der Kirche, zeichnet aber zweierlei aus: die reale, zeichenhafte Erfahrbarkeit der Nähe des Gottesreiches sowie die Tatsache, dass diese Zusage gerade an sündige Menschen zugesprochen wird: Sie sind praktischer Vollzug des anbrechenden Gottesreichs. In der katholischen Ehelehre wird der ersten, gescheiterten Ehe die (bleibende) Sakramentalität zugesprochen, wiewohl ihre Erfahrungsrealität ganz anders ist, während eine eventuell zweite Verbindung, obwohl vielleicht beziehungs- und lebensintensiv, kategorisch unter Sündhaftigkeit gestellt wird. Erfahrung und Sakramentalität weichen mithin massiv auseinander.

Die katholische Ehe- und Familienlehre neigt schließlich zu pastoral- (und selbst moral-)theologisch schwer nachvollziehbaren „Alles oder Nichts“-Standpunkten: Fast alles in der Ehe ist legitim, aber fast nichts außerhalb der Ehe ist es. Scheitert eine Ehe, ist aber weder das Leben insgesamt gescheitert, noch bedeutet Scheitern hier, dass überhaupt keine Treue mehr gelebt oder dass das angestrebte Ideal nun überhaupt nicht verwirklicht werden könnte. Jemand, der in der definitiven Treue zu einer Lebensform gescheitert ist, scheitert in vielerlei anderer Hinsicht nicht: anderen Menschen gegenüber, aber selbst seinem ehemaligen Partner gegenüber nicht, dem gegenüber er ja auch weiter spezifische Verpflichtungen hat. Zudem ist zwischen Scheitern und Schuld zu unterscheiden. Die Gründe für das Scheitern einer Treuebeziehung fallen in ganz verschiedenem Ausmaße in die freie Verantwortung des Einzelnen, sind also in ganz verschiedenem Ausmaße seine Schuld. Diese gibt es natürlich, aber ihre Klärung bleibt zuletzt Gott vorbehalten. Was an einer scheiternden Bindung hat der Einzelne, was sein Partner, was auch die Gemeinschaft zu verantworten, die etwa zu wenig Hilfe und Unterstützung gab?

In der katholischen Ehetheologie zeigt sich auch, und das berührt nun den Grundlagenbereich der Pastoraltheologie, eine tendenziell vorkonziliare Verhältnisbestimmung von Pastoral und Dogmatik: Pastoral erscheint als (bestenfalls: gnädigerer) Anwendungsort dogmatischer Prinzipien. Demgegenüber gilt: Die Pastoral ist selbst ein Entdeckungsort der kirchlichen Lehre und mit ihr in einem wechselseitigen Erschließungsund Entdeckungsverhältnis. Pastoral meint nach dem II. Vatikanum das evangeliumsgemäße Handlungsverhältnis der Kirche zur Welt im Ganzen.152 Sie umfasst die gesamte Handlungs- und Erfahrungsseite der Kirche und ist selbst ein theologischer Ort und für die Kirche konstitutiv. Pastoral ist keine äußerliche Erscheinung der Kirche, sondern ihre Handlungsmacht in der Zeit.

Im Umgang mit den völlig neuen Beziehungskonstellationen unserer Gesellschaft zeigt sich, welche Relation zwischen Dogmatik und Pastoral man im Kirchenbegriff ansetzt: Hat die pastorale Erfahrung selbst dogmatisches Gewicht, oder ist sie unerheblich gegenüber der Lehre? Hat die Kirche in ihrer Geschichte auch etwas zu lernen oder nur zu lehren? Haben die Menschen ihr etwas zu sagen, oder braucht sie nicht auf sie zu hören?153

Das Konzil entscheidet sich grundsätzlich für die erste Alternative, die nachkonziliare katholische Ehe- und Familienlehre nimmt dies, vor allem in ihren kirchenrechtlichen Konsequenzen, weitgehend zurück. Sie billigt der pastoralen Wirklichkeit keine Erschließungskraft für die Lehre zu. Demgegenüber gilt es, so Ottmar Fuchs, „die inhaltliche Botschaft, die von den wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen ausgeht, aufzufinden.“154

3.2 Perspektiven

Pastoral kann keine Kompromisse eingehen, wenn es um die Solidarität mit den Leiden und Freuden der Menschen (vgl. Gaudium et spes 1) geht – und kaum irgendwo sind heute Freuden und Leiden intensiver und unberechenbarer als in Ehe, Familie und all dem, was um sie herum an Beziehungsformen existiert.155 Katholische Familien- und Ehepastoral hat grundsätzlich allen Menschen in allen Beziehungs- und Lebenssituationen ihre konkrete Hilfe und Begleitung anzubieten. An vielen Orten der katholischen Ehe- und Familienpastoral, so etwa in den Beratungsstellen der Caritas, in den Bildungsangeboten von Akademien und Familienbildungsstätten, geschieht das auch, nicht zuletzt unter kompetenter und erfahrungsnaher Mitwirkung von PsychologInnen.156 Sie verwirklichen, was für alle Orte der Pastoral gelten muss: Nicht die moralische Kommunikation, sondern die pastorale Aktion ist der primäre Zugang der Kirche zu den Menschen von heute. Das setzt die grundsätzlichen Ziele der kirchlichen Lehre nicht außer Kraft, gibt ihnen aber einen neuen Horizont.

Dieser spezifisch konziliare, also pastorale Zugang hätte einige Konsequenzen. Anders als der Synodenbeschluss, der nur einige wenige, eher summarische, nicht immer von typisch kirchlichem Kulturpessimismus freie Äußerungen zur realen Lage von Ehe und Familie enthält, müsste ein heute pastoral anschlussfähiger Diskurs zu Ehe und Familie von den tatsächlichen Erfahrungen des Volkes Gottes mit seinen Versuchen, Ehe, Familie, aber auch andere familiennahe Lebensformen zu leben, ausgehen. Notwendig wäre also, die Erfahrungen des Volkes Gottes mit Ehe-, Familien- und Beziehungsrealitäten wahr- und ernstzunehmen.157 Dabei müsste schon das Thema anders gefasst werden. Gerade wem es um die „christliche gelebte Ehe und Familie“ geht, muss es heute um mehr gehen: um die Realität heutigen Beziehungsgeschehens überhaupt. Und man bräuchte eine andere Sprache als jene, die den lehramtlichen Diskurs prägen: die des Rechts und der idealistischen Überhöhung.158

Die personalistische Aufladung der alten, primär juridisch verfassten Ehelehre, wie sie nachvatikanisch innerkirchlich die Diskurse beherrscht, ist jedenfalls kein hilfreicher Weg. Das II. Vatikanum versteht in seiner Pastoralkonstitution die Ehe zwar als Liebesgemeinschaft und vertieft dies theologisch, indem es die eheliche Partnerbeziehung als alltäglichen Lebenshorizont der Christusbeziehung, ja als personale Konkretion des Neuen Bundes versteht. Gaudium et spes „holt“ damit „in Sprache und Beschreibung die Intimisierung der Familie und zumal der Ehe nach“159, wie sie die bürgerliche Gesellschaft bereits vollzogen hatte.

Die klassischen Ehezwecke wurden damit grundsätzlich in einen neuen Rahmen gestellt. Der aber wurde, da die alten rechtlich-institutionellen Regelungen davon unberührt weiter galten, nicht wirksam umformatiert, sondern durch seine personalistische Aufladung nur eindringlicher und zugleich härter gemacht. Damit kam eine Entwicklung sich sukzessive immer weiter aufladender innerkirchlicher normativer Ehe- und Familiendiskurse zum Abschluss und im gewissen Sinne auch zu einem Kulminationspunkt. Seit dem 19. Jahrhundert war die katholische Kirche verstärkt als Anwältin von Ehe und Familie aufgetreten und hatte dabei „mit semantischen Beständen der Spätantike, mit kirchenrechtlichen Figuren des Mittelalters und der Gegenreformation und der ‚institutionalistischen‘ Überformung, die all das im 19. Jahrhundert erfahren hatte“160, gearbeitet. Die Umstellung auf den bürgerlichen Personalitäts- und Intimitätsdiskurs zeigte sich aber spätestens mit Humane vitae als gerade das nicht: als grundsätzliche Umstellung, vielmehr als Rahmung und Intensivierung, ja Intimisierung aller bisherigen Ehe- und Familiendiskurse.

 

Eherechtlich und lehramtlich-normativ hat sich daher zur vorkonziliaren Situation praktisch nichts geändert. Das hat zu geradezu paradoxen Konsequenzen geführt. Die personale Aufladung des Eheverständnisses ohne entsprechende rechtliche Relativierung führt nämlich nun zu einer personalen Aufladung des Rechtlichen und einer rechtlichen Aufladung des Personalen.161 Man braucht die Kraft und die Relevanz des Rechtlichen nicht zu leugnen, muss aber feststellen, dass die klassischen Ziele einer christlichen Ehe weder innerhalb der Ehe noch gar in der Beziehungsrealität außerhalb rechtlich wirklich zu sichern sind.

Die rein personalistische Aufladung alter rechtlicher Regelungen ist in Zeiten verblassender kirchlicher Einflussmacht nicht nur faktisch dysfunktional, sie ist in ihren internen (zwischen ziemlich erbarmungslosem Rechts- und dogmatischem Idealisierungsdiskurs) und externen (zwischen kirchlicher Norm und faktischem Leben auch der kirchentreuen KatholikInnen) Spannungen unplausibler noch als die nüchterne rechtliche Fassung früherer Zeiten.

Die rechtliche Fassung der katholischen Ehe- und Familienlehre kann heute weder ihren Sinn noch gar ihre Bedeutung ausschöpfen. Das konnte sie streng genommen natürlich nie. Heute kann diese rechtliche Fassung ihren Sinn und ihre Bedeutung noch nicht einmal präsentieren. Es wird in der Pastoral also darauf ankommen, dem Profil der katholischen Ehe- und Familienlehre jenseits ihrer rechtlichen Verfassung in der vielfältigen Beziehungskultur der Gegenwart Geltung zu verschaffen. Das ist die Herausforderung und sie wird nur zusammen mit dem Glaubenssinn des Volkes Gottes162 als wirklicher Entdeckungsprozess zu bewältigen sein. Aber die Pastoraltheologie kann natürlich darüber nachdenken, in welche Richtung dieser Entdeckungsprozess gehen könnte.

Man könnte etwa versuchen, in radikal neuen (Beziehungs-)Gegenden Sinn und Bedeutung der klassischen Ehezwecklehre in Prozessen „abduktiver“163 Kreativität zu entdecken. Abduktive Prozesse sollten stets da ansetzen, wo die Kreativität aussetzte und der Faden der Plausibilität riss. Das könnte in unserem Falle bedeuten, auf die klassischen Stichworte der alten Ehezwecklehre zurückzugreifen, sie aber grundlegend neu zu kontextualisieren. Diese Neukontextualisierung weg aus ihrem rechtlichen (und dann gar noch sekundär personalistisch aufgeladenen) Kontext hätte sie vor allem in den Kontext der realen Praktiken des Volkes Gottes heute zu verlagern. Sie würden dann nicht Ehe-„Zwecke“, sondern notwendige Erfahrungs- und Bewährungsfelder von Ehe und Familie benennen.

Nun hat die Ehezwecklehre seit Augustinus ein klassisches Profil. Es ist in den drei „Ehezwecken“ fides, proles, sacramentum zusammengefasst: also Treue, Nachkommen und Sakrament.164 Neukontexualisiert in den Erfahrungen des Volkes Gottes könnte dieser alte Diskurs unter Umständen abduktive Kreativität entwickeln, freilich nur dann, wenn er situativ und kreativ mit konkreten Lebenslagen Betroffener in Kontakt gebracht wird und man deren Intuitionen traut.

Die Ehezwecklehre sieht sich als solche, also als „Zweck“-Lehre, nun aber schweren Einwänden gegenüber. Hans-Joachim Sander hat sicher Recht, wenn er in seinem Gaudium et spes-Kommentar feststellt, dass es „bereits strukturell eine Abstufung“ bedeute,

wenn man Zweckursachen in einer so engen personalen Beziehung wie der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau eine wesentliche Repräsentanz gibt; eine solche Beziehung ist zweckfrei, wenn sie aus Liebe besteht, weil die Liebe keinen Zwecken unterworfen ist. Sie muss sich nicht rechtfertigen, auch wenn es mit noch so hohen und respektablen Zielen geschehen soll.165

Die hier vorgeschlagene Neuformatierung der Ehezwecklehre sieht in ihnen denn auch keine Ehe-„Zwecke“ mehr, sondern will ihr abduktives, also kreatives Potential in der Spannung zu den Lebensrealitäten von Ehe, Familie und analogen Beziehungen heute zur Geltung bringen. Das aber kann dadurch geschehen, dass nicht ihr „Zweckcharakter“ und damit Begründungs- und Zielcharakter für die Ehe im Mittelpunkt steht, sondern sie unausweichliche Erfahrungs- und Herausforderungsorte familiärer menschlicher Nahbeziehungen markieren und zugleich mögliche Orte der Entdeckung der Bedeutung der christlichen Botschaft in einer der prekärsten Zonen menschlicher Existenz.

Der „Ehezweck“ proles, also Nachkommenschaft, würde dann nicht länger verstanden als „Zweck“ der einzig, gar noch als „remedium concupiscentiae“ erlaubten ehelichen Sexualität, sondern als die ebenso glückliche wie irritierende wie herausfordernde Erfahrung der Elternschaft. Was sie heute genau bedeutet, wäre in den Erfahrungen von Eltern heute zu eruieren und zu beschreiben. Zugleich wäre zu fragen, was die christliche Botschaft zur Entdeckung und Gestaltung dieser Erfahrung beizutragen hat und wie umgekehrt an ihr Sinn und Bedeutung christlicher Glaubensinhalte sich erschließen.

Denn Elternschaft ist, besonders in nach-patriarchalen Zeiten, die sehr spezifische Erfahrung einer Verantwortung, der man nicht ausweichen kann, für Menschen, die man nicht beherrscht. Es ist die Erfahrung, für etwas verantwortlich zu sein, für das man biologisch und sozial auch tatsächlich verantwortlich ist, auf das man aber nicht wirklich umfassend und vor allem immer weniger Einfluss nehmen und das man schon gar nicht kontrollieren kann. Mit anderen Worten: Es ist eine Erfahrung der Demut.

Elternschaft konfrontiert in einer einzigartigen Weise mit der unausweichlichen Dialektik und Ambivalenz der eigenen Existenz. Elternschaft ist eine Beziehung größter Intensität und wie jede intensive und nicht regionalisierte, sondern tendenziell inklusive Beziehung konfrontiert sie mit den zentralen Polaritäten des eigenen Lebens: mit der Polarität von Macht und Ohnmacht, von Freude und Leid, von Nähe und Distanz, von Verantwortung und Scheitern vor Verantwortung.

Die zentrale Freude der Elternschaft aber ist tatsächlich das Geschenk der Gegenwart neuen und vor allem anderen Lebens. Eltern und Kinder sind eng verbunden, aber sie unterscheiden sich auch wesentlich, vor allem darin, dass sie gleichzeitig in verschiedenen Phasen ihrer Biografie leben. Diese Differenz ist unüberwindbar, reich und verstörend zugleich: Im Kind kommt einem eine andere Gegenwart entgegen. Welche Lehre unseres Glaubens hilft, dies zu verstehen und zu leben, und welche Lehre unseres Glaubens eröffnet Sinn und Bedeutung dieser Erfahrung?

Und: Kann all dies, oder Ähnliches, oder Anderes, jedenfalls mit Elternschaft Verbundenes an kirchlichen Orten in Kontakt, Kontrast, Verbindung gebracht werden mit der Botschaft Jesu? Kann man an kirchlichen Orten Trost und Hilfe finden, wenn es nicht gelingt? Gibt es überhaupt offene und ehrliche Diskurse darüber? Und das dann vielleicht wirklich im Horizont eines Gottes, von dem Christen glauben, dass er Kind wurde, sich auch mit den Kindern besonders identifiziert166 und gleichzeitig der Vater aller ist?

Auch die Sehnsucht nach dem „Gut der Treue“ wie die Schwere seiner Realisierung ist groß. „Der Traum von der Treue“167 wird nach wie vor geträumt, die Schlösser an der Hohenzollen-Brücke in Köln168 und anderswo und vor allem die in den Fluss geworfenen Schlüssel sind hierfür nur die neuesten Symbole. Die „sukzessive oder serielle Monogamie“169 bei permanentem prekären Aushandlungsrisiko kann als Zentralbefund heutiger Beziehungsrealität gelten. Die anhaltend hohen, immer noch steigenden Scheidungszahlen markieren das andere Ende der Problemzone.