An neuen Orten

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3 Kirche ist nicht nur Pfarrgemeinde





Freilich ist die Kirche nicht nur (Pfarr-)Gemeinde. Als solche und als bischöfliche Hierarchie scheint sie aber in der Sociovisions-Untersuchung primär auf, was insofern korrekt ist, als sie inner- wie außerkirchlich primär genau so wahrgenommen wird. Die Studie bezieht sich denn auch vor allem auf diese beiden kirchlichen Handlungssektoren, insofern sie

Wahrnehmungseinschätzungen

 abfragt. Viele andere Handlungsfelder der Kirche jedoch, allen voran die Caritas, aber auch der Bildungssektor und in weiten Teilen auch die so genannte Kategorialpastoral, bleiben damit weit unterbeleuchtet. Gerade aber dort gelingt es weitaus besser als in den Gemeinden, aus dem beschriebenen „Dreier-Milieu-Ghetto“ auszubrechen.



So tröstlich diese Ergänzung des Sociovisions-Befundes erst einmal ist, provoziert sie doch zwei Fragen: Auf welcher Basis gelingt ihnen diese Milieuüberschreitung und wie gestaltet sich dann das Verhältnis zum gemeindlichen Binnenmilieu? Hinter diesen Fragen aber lauert noch eine dritte: Wie kann die katholische Kirche in dieser Situation überhaupt noch ihre Steuerungs- und Handlungsfähigkeit behalten?



Der Ausdifferenzierungs- und Professionalisierungsprozess der pastoralen Struktur der deutschen katholischen Kirche kann als Versuch gedeutet werden, der neueren Milieudifferenzierung der deutschen Gesellschaft zu folgen. Das scheint in nicht geringem Maße gelungen: Zur Caritas gehen, falls notwendig, auch die kirchlich sonst kaum ansprechbaren „Konsum-Materialisten“; avancierte Künstler und damit „Experimentalisten“ finden sich etwa im „Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten“ oder in der Kölner „Kunststation St. Peter“, und für die „Postmateriellen“ gibt es manch gutes Kloster oder wenigstens Anselm Grün. Man fällt auf die seit den 1970er-Jahren dominierende Selbstdefinition der Kirche als „Gemeindekirche“ herein, wenn man übersieht, dass die Kirche dieser Gesellschaft ein breit ausgebautes und durchaus nachgefragtes Handlungsnetz jenseits der Gemeinde anbietet.



Allerdings verlagern sich damit die Milieuspannungen

in

 die Kirche, besser und genauer: sie verstecken sich zwischen den Ritzen der weitgehend unabhängig voneinander agierenden kirchlichen Handlungssektoren.

23

 Deren wechselseitige Nichtwahrnehmung ist mit den Händen zu greifen und jetzt auch besser zu verstehen.



Die Kirche ist auf den (religiösen) Markt geraten – ohne Zweifel eine Änderung ihrer Kontextbedingungen epochalen Ausmaßes. Sie darf aber nicht unversehens einer institutionalistischen Marktperspektive verfallen. Denn sie ist weder der Macht, noch dem Markt, sondern ihrer Botschaft verpflichtet.







4 Der unbequemen Außenperspektive nicht ausweichen





Es bedarf an dieser Stelle der Überlegungen einiger theologischer Vergewisserungen. Zum einen ist an den universalen Heilswillen Gottes zu erinnern. Gott will, so heißt es etwa in 1 Tim 2,4, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“. Die deutet nicht auf ein bevorzugtes begnadetes Segment von Menschen, auf einige wenige Auserwählte, sondern auf alle Menschen überhaupt. Die Kirche als das Volk Gottes in seiner sichtbaren Verfasstheit ist

Zeichen

 dafür, dass alle Menschen in universaler Weise zum Heil berufen sind. (vgl.

Gaudium et spes

 23f).



Zum anderen ist die Kirche nicht für sich selber da, sondern für die Verkündigung der Botschaft vom Gott Jesu in Wort und Tat. Die Bindung der Kirche an ihre sakramentale Sendung reißt sie aus dem Sog ihrer reinen institutionellen Selbsterhaltung und verweist sie auf ihre Existenz begründende Aufgabe: die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat.



Pastoral im Sinne des Konzils ist nun aber genau das, was geschieht, wenn die Kirche diese ihre Aufgabe in Angriff nimmt. Das Zweite Vatikanische Konzil hält die

pastorale Konstitution der Kirche

 fest. Sie ist dazu da, heutige Existenz kreativ mit dem Evangelium zu konfrontieren und dies in einer zweifachen Richtung: das eigene individuelle wie soziale Leben aus der Perspektive des Evangeliums zu befreien und das Evangelium aus der Perspektive der eigenen Existenz zu entdecken.



Auf dieser Basis lassen sich drei naheliegende Reaktionsmechanismen auf die Sinus-Studie als veritable Versuchungen identifizieren. Zum einen droht die Strategie „Verleugnen, Verharmlosen, Herunterspielen“. Sie liegt menschlich und im gewissen Sinne sogar wissenschaftlich nahe. Niemand nimmt unbequeme Wirklichkeiten gerne zur Kenntnis, gar solche, die zu Handlungskonsequenzen nötigen, von denen man noch nicht einmal genau weiß, welche das sein sollen. Erkenntnissen, die solche Krisensituationen und deren implizite Ohnmachtserfahrungen nach sich ziehen, weicht jeder gerne aus.

24



Natürlich kann man, wie an jede Forschung und an empirisch-sozialwissenschaftliche zumal, auch an diese Studie methodische Anfragen stellen, etwa was mit „qualitativer Repräsentativität“

25

 genau gemeint ist oder welchen Status die milieu(mit)konstituierenden „Wertorientierungen“ zwischen verhaltensnormierenden moralischen „Werten“ und eher ästhetischen Konsum- und Lebensstilvorlieben besitzen.



Doch all dies wäre zu offenkundig nur ein Ausweichen vor den unbequemen Außenperspektiven, welche diese Studie präsentiert, als dass eine Kirche, welche mit guten Gründen allen ihren Mitgliedern regelmäßige realistische Selbstkritik empfiehlt, auch nur in die Nähe dieser Strategie geraten sollte. Sie wäre zudem operativ verheerend: Wer sich nicht von außen wahrnehmen kann, ist in differenzierten Gesellschaften schlicht anschluss- und damit handlungsunfähig.



Sie wäre aber auch ein massiver Verstoß gegen den eigenen Pastoralbegriff, der schließlich die inkarnatorische Struktur des eigenen Handelns festhält. Die aber ist grundsätzlich gefährdet, wo man die Wirklichkeit, zumal noch die eigene, nicht akzeptieren kann und sich an ihr vorbeimogeln will. Letztlich wäre das eine spirituelle Katastrophe: Wer sich nicht halbwegs selbstkritisch wahrnehmen kann, wird nach und nach unaufrichtig mit sich und also unredlich.



Doch auch wenn man die Ergebnisse der Studie als Herausforderung anerkennt, droht eine Versuchung, jene des

institutionalistischen Opportunismus

. Man reagiert dann,

weil

 man auf den (religiösen) Markt geraten ist, reflexartig

wie

 ein Marktteilnehmer und versucht den Schwund der eigenen Marktanteile mit allen Mitteln aufzuhalten. Zu erkennen ist diese Strategie an ihren falschen Alternativen. Inhaltlich wird hier mit der Alternative „Profil versus Anpassung“ gearbeitet, im Blick auf die möglichen Vergesellschaftungsformen von Kirche mit der Alternative „Kundenorientierung versus Gemeinschaftsorientierung“. Die Studie selbst scheint im Einleitungsteil sowie in ihren milieuspezifisch vorgeschlagenen „Do’s & Don’ts“ solch einem Konzept nicht ganz abgeneigt zu sein.







5 Die Institution nicht mit ihrem Daseinszweck verwechseln





Diese Alternativen sind für christliche Pastoral aber verheerend. Sie sind allesamt direkte Konsequenz eines latenten Institutionalismus, also der Selbstverwechslung einer Institution mit ihrem Daseinzweck. Den Institutionalismus hat die katholische Kirche aber spätestens im Zweiten Vatikanum mit seiner aufgabenbezogenen sakramentalen Sicht der Kirche auf lehramtlicher Ebene grundsätzlich überwunden. Denn es geht in der Kirche immer und überall zuerst um die kreative Präsenz des Evangeliums. Die aber gibt es weder an den Menschen vorbei, denn sie sind nicht nur externe Adressaten der Botschaft, sondern als Kinder Gottes auch ein Teil ihres Inhalts. Von ihnen her allein kann und muss das Evangelium erschlossen werden, soll es für sie nicht nur Sinn, sondern auch Bedeutung haben, von ihnen her erschließt sich diese Botschaft im Übrigen auch für die Gläubigen immer neu.



Doch der trotzige Nischenrückzug bleibt als Versuchung: Man mag uns nicht in dieser Gesellschaft, zumindest in vielen ihrer Milieus, also konzentrieren wir uns auf jene, die uns mögen, sagt man dann, konzentrieren uns auf Selbstvergewisserungsräume und distanzieren uns von den anderen. Als entwickeltes Konzept dürfte diese Strategie in der deutschen Kirche gegenwärtig wenig verbreitet sein, zu offenkundig widerspricht sie deren gesellschaftlicher Statustradition sowie, wichtiger noch, dem universalen Heilswillen Gottes, dem Missionsauftrag Jesu und dem Solidaritätsimperativ des Zweiten Vatikanums (vgl.

Gaudium et spes

 1). In der abgeschwächten Form eines gewissen kulturpessimistischen Gestus scheint sie mir allerdings durchaus virulent.



Stattdessen ist zu akzeptieren, dass die Vergangenheit nicht wiederkommt. Dieser

Akzeptanzimperativ

, nicht in einer anderen Welt leben zu können als in jener, in der man lebt, und gerade sie als Aufgabe der Kirche anzusehen, ist christlich eigentlich selbstverständlich, sozialpsychologische Mechanismen einer Institution, die sich ihrer traditionellen Machtbasis beraubt sieht, gefährden diese Akzeptanz der Realität aber immer wieder.



Weiters sollte die Kirche ihre eigene Verkündigung, ihre konkrete Sozialform und ihre Interventionen in die gesellschaftliche Wirklichkeit situations- und prozessorientiert miteinander ins Spiel bringen. Diese

Prozessorientierung

 kirchlichen Handelns verabschiedet die Vorstellung fester institutioneller Gerüste und baut eher auf die institutionelle Phantasie, den institutionellen „Möglichkeitssinn“ des Volkes Gottes etwa im Sinne des Rahnerschen „Tutiorismus des Wagnisses“.



Kirchliche Sozialformen sind zudem, so ist immer wieder zu erinnern, kein Selbstzweck: Sie sind dazu da, evangelisatorische Probleme zu lösen, jene Probleme also, die sich ergeben, wenn man an einem konkreten Ort nach dem Sinn, vor allem aber nach der konkreten Bedeutung des Evangeliums fragt. Diese Umstellung hin zu einer vorrangigen

Aufgabenorientierung

 und weg von der bislang herrschenden Sozialformorientierung, welche vor allem das Weiterbestehen spezifischer kirchlicher Institutionen sichern will, würde eine wirkliche Umkehr unserer bisherigen pastoral(-theologisch)en Mentalitäten und Prioritäten bedeuten.

 



Es geht daher nicht um die Alternative „Anpassung oder Profil“, sondern um die gemeinsame Suche nach dem, was das Evangelium für jene bedeuten könnte, die meinen, dass es für sie nichts bedeutet, wie auch um die permanente Verunsicherung jener, die scheinbar so sicher wissen, was es für sie bedeutet. Jene, die glauben, haben das Evangelium nicht als Besitz, und jene, die mit der Kirche nichts anzufangen wissen, stehen nicht jenseits des Evangeliums. Das Evangelium ist von allen in seiner Bedeutung immer neu zu entdecken. Das geschieht auch an vielen Orten. Es geht also um die

Initiierung pastoraler Prozesse

 und um ihre stärkere Wertschätzung und Vernetzung, wo immer sie stattfinden.



Und es bleibt schließlich die Verpflichtung, auch heute „Kirche des Volkes“ zu sein. Als „Kirche der Selbstverständlichkeit“ geht die Volkskirche früherer Zeiten ihrem definitiven Ende entgegen. Es kommt aber alles darauf an, dass die Kirche ihren universalen Auftrag nicht preisgibt. Sicher: Niemand kann so einfach sein Milieu überschreiten. Es ist relativ sinnlos, von der Deutschen Bischofskonferenz mehr Buntheit, von den kleinbürgerlichen Gemeindemilieus mehr Großzügigkeit und von den liberal-konservativen katholischen Eliten weniger bildungsbürgerliche Arroganz und mehr pastorale Basisverbundenheit zu verlangen, so schön dies alles wäre.



Aber man kann verlangen, der eigenen Botschaft treu zu bleiben und also Studien wie die vorliegende als

geistliche Herausforderung

 ernst zu nehmen. Dann aber muss man ihre Außenperspektive als mögliche Innovationsperspektive wahrnehmen, jegliche Kultur des Ressentiments übersteigen und mit Aufmerksamkeit und Anerkennung sich und die anderen im Spiegel dieser Forschungen zu erkennen suchen.



Das hat zuletzt geistliche Gründe: weil wir ohne die anderen weniger wissen, was das Evangelium heute bedeuten könnte, und weil wir weder über den Glauben, noch über die Kirche, noch gar über das Evangelium einfach so verfügen. Das tut Gott allein. In Übergangszeiten wie diesen ist es besonders wichtig, dies zu erinnern – und auszuhalten.









DIE ENTDECKUNG DER KASUALIENFROMMEN





Einige Konsequenzen für Pastoral und Pastoraltheologie







„Die Innovation besteht nicht darin, daß etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondern darin, daß der Wert dessen, was man immer schon gesehen und erkannt hat, umgewertet wird.“





Boris Grojs

26







1 Das Grundproblem: Das Neue im Unbekannten, das Unbekannte im Neuen





Das verstörende Problem des Neuen liegt darin, dass zu seiner Analyse zuerst nur alte Kategorien zur Verfügung stehen. Das ist eine ebenso schlichte wie folgenreiche Konsequenz der Tatsache, dass die menschliche Zeit, zumindest unter irdischen Normalbedingungen, nur in eine Richtung verläuft und Menschen nicht, wie etwa Gott, in der Lage sind, aus der Zukunft in die Vergangenheit zu schauen oder gar in einer ewigen Gleichschau der Zeitlichkeit zu entgehen.



Die Entdeckung von Neuem verläuft normalerweise in drei Phasen:



• in der schieren Entdeckung von etwas, das einen irritiert,



• in seiner Entdeckung als wirklich Neues, es könnte sich ja auch als Altbekanntes in tarnend neuem Gewand herausstellen, und



• in der grundsätzlich nie abgeschlossenen Entdeckung des Entdeckten unter neuen, erst zu entwickelnden Kategorien.

27



Das Neue als Phänomen, das Phänomen als etwas Neues und neue begriffliche Konzepte zur Neuentdeckung des Neuen, das sind wohl die normalen Erkenntnisschritte von Neuem – wenn es gut läuft.



Die vorliegende Studie zur „Unbekannten Mehrheit“ könnte sehr dabei helfen, dass es bei der Entdeckung der neuen Situation der katholischen Kirche in Deutschland (und religionssoziologisch ähnlich strukturierten Gesellschaften) gut läuft. Denn schon der Titel dieser Studie behauptet (mindestens) zwei provozierende und ganz und gar unselbstverständliche Thesen:



erstens

, dass die Mehrheit der Mitglieder der katholischen Kirche bestenfalls noch „Kasualienfromme“ sind, und



zweitens

, dass sie der Wissenschaft und überhaupt der katholischen Kirche weitgehend unbekannt sind.



Das sind beides ebenso neue wie starke Behauptungen. Vieles spricht freilich für sie, nicht zuletzt diese Studie. Irritationen über das gewandelte Verhalten erwachsener Katholiken und Katholikinnen in Großstädten und anderswo gibt und gab es ja schon länger, vor allem an der professionellen pastoralen Basis der Kirche.

28

 Ein immer größerer Teil ihrer eigenen Mitglieder erfüllt offenkundig die für Katholiken und Katholikinnen bestehende, auch noch im CIC 1983 can 1247

29

 normierte und in der Nr. 2181 des „Katechismus der katholischen Kirche“

30

 eingeschärfte Sonntagspflicht nicht mehr oder immer seltener. Diese Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen betrachtet ausweislich ihres Handelns die Eucharistie offenkundig nicht als „Quelle“ und „Höhepunkt“

31

 ihres eigenen religiösen Lebens, noch hält sie überhaupt kontinuierlichen Kontakt zum kirchlichen Sozialraum.



Das ist tatsächlich ein ziemlich neues Phänomen, zumindest für die letzten 150 Jahre der katholischen Kirchengeschichte Deutschlands, galten hier doch Anfang der 1950er Jahre noch Kirchgangsquoten von 50 Prozent

32

 innerhalb eines zwar in sich differenzierten, aber doch auch klar abgegrenzten „katholischen Milieus“

33

. Noch überwiegt das Erstaunen und Erschrecken über dieses Phänomen.



Dass die Gläubigen den kirchlichen Anspruch immer nur ungenügend erfüllen und am kirchlichen Leben nie ganz so engagiert teilnehmen, wie die Kirche es gerne hätte, das ist ein altbekanntes Phänomen, sonst hätte es über die Jahrhunderte nicht immer die Aufforderung zu Sonntagsbesuch, Beichte und Kommunionempfang und entsprechende Sanktionierungen gebraucht. Neu aber ist die Erkenntnis, dass der Rückgang der Sonntagskirchgänger Symptom eines fundamentalen Wandels des Verhältnisses der Kirche zu ihren eigenen Mitgliedern oder besser der Mitglieder zu ihrer Kirche darstellt. Damit ist es weder mehr möglich, die radikal gewandelte Partizipationspraxis einfachhin zu übersehen noch als „volkskirchliche Laxheit“ in altbekannte Deutungsmuster einzuordnen.



Die vorliegende Untersuchung könnte ein Schritt sein in die Neuentdeckung des Neuen unter neuen Erkenntnisperspektiven. Dazu ist vor allem notwendig, die bisherigen, quasi-selbstverständlichen Wahrnehmungsmuster zu überschreiten. Deren Gemeinsamkeit aber ist es auch im Falle der aktuellen Transformationskrise der kirchlichen Sozialformen, das Neue vom Gewohnten her zu begreifen und als dessen Abweichung zu definieren. Die neuen Realitäten sind so noch kein Grund, die eigenen Wahrnehmungsmuster umzubauen.



Damit dies gelingt, braucht es eine Perspektivenverschiebung, deren zentrale Dynamik vom Neuen selber ausgeht. In der vorliegenden Untersuchung zeigt sich diese neue Sicht der Dinge darin, dass die Studie nicht von der Institution her fragt und von ihren – an sich ja durchaus berechtigten – Interessen an Partizipation und Integration ihrer Mitglieder her, sondern von jenen Mitgliedern und deren Selbstwahrnehmungen selber ausgeht. Dann aber zeigt sich jenseits aller nahe liegenden defizitorientierten Wahrnehmung, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder offenbar Partizipation und Integration auf – aus der Perspektive der Institution – ausgesprochen eigenwillige Weise realisieren, indem sie diese nämlich zugleich verweigern und aufrecht erhalten und dies aus für sie guten, geradezu „selbstverständlichen“ Gründen.







2 Die Ausgangsprovokationen





Im Detail signalisieren das Thema der Studie und der Titel, unter dem sie vorgestellt wird, drei neue Thesen. Es handelt sich dabei um wirkliche Provokationen für die gängigen kirchlichen Selbstwahrnehmungsmuster.



Eine

erste

 Herausforderung liegt bereits in der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes. Die Wirklichkeit liegt bekanntlich nicht einfach vor, sondern bedarf ihrer begrifflichen Erschließung, wissenschaftlich definierte Wirklichkeit gar einer begrifflich kontrollierten und nachvollziehbaren Erschließung. Indem die Studie jene in den Blick nimmt, die „nur“ Kasualien in Anspruch nehmen, ansonsten aber von der Kirche praktisch nichts wollen, definiert sie eine Untersuchungsgruppe, die bislang tatsächlich

merkwürdig ununtersucht und unentdeckt

 geblieben ist.



Dies, obwohl das Leiden der Verantwortlichen in der Pastoral am Auszug der Gläubigen, am zurückgehenden Sonntagskirchgang und überhaupt an der schwindenden Reichweite des eigenen Handelns allüberall mit Händen zu greifen ist

34

 und viele Priester, pastorale Mitarbeiter und engagierte Gemeindemitglieder unter den enormen inneren Unstimmigkeiten einer Sakramentenpastoral leiden, die in Zeiten

nach

 jeder volkskirchlichen Selbstverständlichkeit immer noch unter volkskirchlicher Fiktion abläuft.



Der Titel der vorliegenden Untersuchung behauptet in diesem Zusammenhang im Übrigen implizit auch, dass der Kirche

von sich selbst

 viel verborgen bleibt, insofern ihr eine große Gruppe ihrer eigenen Mitglieder unbekannt ist. Was Forschungslage und allgemeines kirchliches Bewusstsein betrifft, dürfte dies tatsächlich zutreffen, zu neu ist diese Situation und zu lang sind die Feedback-Schleifen kirchlichen (Leitungs-)Handelns und bisweilen leider auch pastoraltheologischer Aufmerksamkeit.

35



Zweitens

 erkennt die Studie, wiewohl sie methodisch qualitativ arbeitet, mit einiger Plausibilität in der von ihr untersuchten Gruppe der Kasualienfrommen die

Mehrheit aller Gläubigen

. Jenseits der halbwegs regelmäßigen Partizipanten

36

 und diesseits der Austretenden bzw. Austrittswilligen,

37

 die man beide auf ungefähr 25 Prozent wird schätzen können, wird eine Gruppe von mindestens 50 Prozent der Kirchenmitglieder anzusetzen sein, die zu dieser „unbekannten Mehrheit“ der Kasualienfrommen gehört, selbstverständlich bei fließenden Übergängen.

38



Damit wird nicht mehr und nicht weniger behauptet, als dass die katholische Kirche in Deutschland in der Mehrheit ihrer Gläubigen sich allen kirchlichen Partizipationsappellen konstant und konsequent verweigert, gleichzeitig aber an spezifischen biografischen Verdichtungspunkten auf kirchliche Ritenangebote (vorerst) ebenso konstant und verlässlich zurückgreift. Dass diese markante Abstinenz einer Mehrheit der Gläubigen von kirchlichem Leben kirchengeschichtlich durchaus keinen Sonderfall darstellt, ändert nichts an der Tatsache, dass sie dem Selbstverständnis und der Selbstwahrnehmung der katholischen Kirche der älteren Pianischen wie auch der jüngeren gemeindetheologischen Epoche markant widerspricht, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.



Diese Mehrheitsthese, aus der qualitativen Studie selbst wohl nur indirekt belegbar, aber in der Zusammenschau der verfügbaren religionssoziologischen Daten ausgesprochen plausibel, bedeutet für die in den letzten Jahrzehnten favorisierten, auf die Gemeindepastoral konzentrierten Konzepte

39

 schlicht die Anerkennung des eigenen Scheiterns. Schließlich gehen sie alle von einem Partizipations- und Aktivitätspostulat aus, das die Mehrheit der Kirchenmitglieder offenbar demonstrativ nicht erfüllt und auch gar nicht erfüllen will.



Dabei kann gegenwärtig noch offen bleiben, ob es sich dabei, wie Engelbrecht and vermutet,

40

 eher um ein Kohortenphänomen handelt, das sich mit dieser noch katholisch sozialisierten Generation erledigt haben wird, oder um ein typisches und damit bleibendes Phänomen der Nutzung religiöser Institutionen unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen. Für beide Annahmen spricht einiges.



Drittens

, und vielleicht am überraschendsten, wird dieser Gruppe im Untertitel der Studie, wenn auch in Anführungszeichen,

der Frömmigkeitsbegriff

 zugesprochen. Das ist überraschend, überwindet es doch demonstrativ einen defizitorientierten Zugang zu dieser innerkirchlichen Mehrheitsgruppe.

41

 Der Titelbegriff „Kasualienfromme“ jedenfalls überschreitet markant bisher gültige Zuschreibungsmuster. Normalerweise werden nämlich jene, die sich nur an den kirchlichen Kasualien beteiligen, gerade nicht als „Fromme“ bezeichnet, sondern als „Abständige“ und „Taufscheinchristen“, so die früheren Bezeichnungen,

42

 oder als „Fernstehende“ und „Gelegenheitschristen“, so die neueren Zuschreibungen. All das sind sie natürlich offenkundig auch, aber wie die Studie eindrucksvoll