An neuen Orten

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2 Die zweifache Gefahr des Marktes

Die alten Anbieterinstitutionen der Religion geraten dadurch natürlich unter massiven Transformationsstress. Vor allem müssen sie ein Konzept finden, auf dem Markt zu agieren, ohne ihm zu verfallen. Das müssen sie, denn sie haben gar keine Alternative: Die Kirchen können den Kontext ihres Handelns nicht mehr selber kontrollieren, was sie ja lange konnten und noch länger wollten. Dem Markt verfallen, das dürfen sie nun aber um ihrer Botschaft willen auch nicht. Denn in dieser Botschaft geht es um Umkehr und Erlösung, um Tod und Auferstehung der Leidenden und nicht um das schöne, reiche Leben des spätestens gegen die Armen und Kranken erbarmungslosen Marktes.

Ohne Zweifel: Die Kirche ist auf den (religiösen) Markt geraten, eine irreversible Änderung ihrer Kontextbedingungen epochalen Ausmaßes. Eines aber hat sich nicht geändert: Wie schon in früheren Epochen ihrer Geschichte und damit in der Inkarnationsgeschichte der christlichen Botschaft unterliegt die Kirche auch heute der Dialektik von „nicht entkommen können“, aber auch „nicht verfallen dürfen“. War sie in vormodernen, feudalen Zeiten „an die Macht“ geraten und damit in eine Situation, der sie ebenfalls weder entkommen konnte, noch einfach verfallen durfte, was ihr zwischen Franz von Assisi (1181-1226) und Bonifaz VIII. (1235-1303) bekanntlich recht unterschiedlich gelang, so steht die Kirche heute vor dem Grundproblem, aus einer institutionalistischen Marktperspektive herauszukommen, ohne deren Wahrheitsgehalt, nämlich tatsächlich „auf dem Markt“ zu sein, zu übergehen.

Die Kirche befindet sich auf dem Markt und dem entkommt sie nicht. Sie hat dennoch oder gerade deshalb etwas zu repräsentieren, was jenseits des Marktes liegt. Der religiöse Markt eröffnet nun aber, wie jeder Markt, viele Möglichkeiten, vor allem befreit er von religiöser Repression. Das ist eine große Befreiung. Aber er ist auch blind gegenüber zentralen Phänomenen menschlicher Existenz. Er neigt zum Beispiel dazu, die Unabgeschlossenheit und Geheimnishaftigkeit menschlicher Existenz einzuebnen in ein reduktionistisches Bedürfnis/Konsum-Schema und in einem konsumintensiven Leben das Ziel menschlicher Existenz zu sehen. Vor allem aber ist er gegenüber jenen gnadenlos, die sich nicht auf ihm behaupten können: etwa den Armen und Kranken.

In dieser Situation droht der Kirche eine verhängnisvolle Verkehrung: Einerseits lösen die Pluralisierungs- und Relativierungsprozesse, die funktionierende Märkte provozieren, innerkirchliche Probleme allein schon bei ihrer Wahrnehmung aus. Viele kirchliche Leitungsverantwortliche sind offenkundig irritiert vom Souveränitätsverlust, den das bedeutet. Mit anderen Worten: Man hat Probleme mit der freiheitsstiftenden Funktion des Marktes. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass man sich gerade hier gerne in enthobene Positionen der Singularität, der scheinbaren Nicht-Relativierbarkeit und Unangreifbarkeit flüchtet. Natürlich bleiben das im Wesentlichen diskursive Strategien mit vor allem selbsttherapeutischem Charakter. Verhängnisvoll werden sie freilich, wenn sie den Diskurs verlassen und versuchen, in kontrollierbaren Restfeldern der Kirche praktisch zu werden, sei es in periodischen Kontrollattacken gegenüber dem wissenschaftlichen theologischen Diskurs, sei es in jenen katholikalen13 Kristallisierungen, die zu beobachten sind.

Andererseits droht die Gefahr, dass man das Problematischste des Marktes akzeptiert: seine Selbstreferentialität, die den Markterfolg als letztes Handlungskriterium auf dem Markt setzt.14 Es wird nicht reichen, mehr oder weniger heimlich auf den Markterfolg zu schielen, wie es auf den verschiedenen Ebenen der Kirche wohl weit mehr geschieht, als man sich eingesteht. Denn dann holt einen ein, was damit verbunden ist: der religiöse Substanzverlust, genauer und wichtiger: der christliche Substanzverlust, der Verlust des Wissens, warum es einen gibt, unabhängig davon, welchen Erfolg man hat.

Man kann freilich in der gegenwärtigen Situation auch nicht bestehen, indem man sich in behauptete diskursive oder soziale Singularitäten flüchtet, indem man Relationalität, also sich selbst auf die Probe stellende Bezüge, grundsätzlich ausschließt. Eine Zeit lang wird eine verunsicherte Kultur ein solches exotisches Gegenprogramm fasziniert beobachten, dann aber holt diese Struktur ein, was ihr eben untrennbar eingeschrieben ist: ihre Selbstgerechtigkeit und ihre Blindheit sich selbst und den realen Bezügen gegenüber.

Die Marktsituation enthält für die Kirche mithin eine doppelte Versuchung: die Versuchung, auf den Markt genauso aufzuspringen wie früher auf die Nähe zur politischen Macht in der alten Verbindung von Thron und Altar oder zur pädagogischen Steuerungsmacht in der Herrschaft über die Einzelnen im geschlossenen katholischen Milieu zu werden. Und sie enthält die Versuchung, den Freiheitsgewinn des Marktes in regulierten diskursiven oder gesellschaftlichen Zonen zurückzunehmen.

3 Ein topologisches Programm: Das II. Vatikanum

Freilich gibt es ein Gegenprogramm zu Markteuphorie und kirchlichem Reaktivautoritarismus. Das kirchliche Lehramt selbst hat es entworfen und sich zu ihm bekannt, ein nicht ganz unerheblicher Teil der theologischen Aufgabe besteht darin, es an dieses sein Bekenntnis zu erinnern.

Die katholische Kirche hat sich selbst im II. Vatikanum einen Ort gegeben, denn sie hat sich hier, nach langen Jahrzehnten der Leugnung, zu ihrem konstitutiven Ortsbezug bekannt. Diese Ortsbestimmung hat die katholische Kirche am prägnantesten, weil explizit und konzeptionell, in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes vorgenommen und damit bereits deren Titel markiert.15 Es geht in ihr bekanntlich um die „Kirche in der Welt dieser Zeit“, wie es wörtlich heißt. Der Kirche wird damit eine doppelte, zeitliche wie örtliche Indexierung mitgegeben. Mit Gaudium et spes steigt die Kirche vom Olymp des unbeteiligten Beobachters mit göttlichem „view from nowhere“ in die Relativitäten von Welt und Geschichte, in der Hoffnung, in der Welt und für die konkreten Geschichten der Menschen Perspektiven zu eröffnen, die sie ohne die Botschaft der Kirche nicht hätten und die diese ihrerseits ohne die konkrete Konfrontation mit der Welt heute überhaupt nicht entdecken würde. Diese Entdeckungsrelationen sind im Konzil der Ort, an dem sich die religiöse Aufgabe und auch die religiöse Autorität der Kirche offenbaren und erschließen.

Dieses konziliare, inkarnatorische (vgl. Lumen gentium 8) und topologische Konzept von Kirche müsste eigentlich Folgen für die Reflexion und Konzeption kirchlicher Reaktionen auf die gegenwärtigen „neuen Zeiten“ haben. Es wirkt sich nämlich aus in der Perspektive, von der her wir Kirchenkonstitution entwerfen, im Theoriedesign unserer Transformationsdiskurse und schließlich in der Spiritualität unserer kirchlichen Kultur.

Der quasi immanenten Häresie einer jeden religiösen Institution, sich mit dem zu verwechseln, weswegen es sie gibt, wird im Konzil ein aufgabenbezogenes sakramentales Verständnis von Kirche entgegengesetzt. Hans-Joachim Sander hat diese pastorale Wende des Konzils konstitutionsanalytisch auf die Unterscheidung von Kirche als Religions- und als Pastoralgemeinschaft gebracht.16 Als Religionsgemeinschaft ist die Kirche eine immer noch mächtige Institution mit Einfluss und vielen Zeichen bleibender gesellschaftlicher Präsenz, als Pastoralgemeinschaft ist sie ein ohnmächtiger, weil von Gottes Gnade abhängiger Ort der Realisation des Evangeliums.

Die Polarität und auch die Unentkoppelbarkeit beider Existenzweisen, der religionsgemeinschaftlichen wie der pastoralgemeinschaftlichen, sind unausweichlich; von welchem Pol her man Kirche begreift, ist es aber nicht. Die pastorale Wende des Konzils besteht ganz wesentlich darin, Kirche als Religionsgemeinschaft von ihrem Charakter als Pastoralgemeinschaft her zu entwerfen. Da „Pastoral“ im Konzil ein qualifiziertes Geschehen meint, nämlich die kreative und handlungsbezogene Konfrontation von Evangelium und Existenz heute, ist genau dies die „materiale Wende“ in der Konzeption und Reflexion kirchlicher Konstitutionsprozesse.

Unsere Transformationsdiskurse sind ziemlich weit von ihr entfernt. Es würde etwa bedeuten, nicht zuerst Sozialformen, also Religionsgemeinschaftliches, zu reflektieren und dabei zu fragen, wie in ihnen Pastoral (noch) möglich ist, oder gleich gar, welche Zukunft diese Sozialformen haben, sondern umgekehrt zu reflektieren, wo und warum Pastoral im konziliaren Sinne heute dem Volk Gottes gelingt, um dann an der Weiterentwicklung jener Sozialformen mitzuhelfen, welche bessere Chancen für die Pastoral bieten.

Für das Theoriedesign unserer Transformationsdiskurse würde dies aber erfordern, endlich die moderne Utopik zu überschreiten hin zu einer Lehre von den konkreten Orten, welche die Autorität des Glaubens in seiner Praxis erweisen. Das setzt Aufmerksamkeit für jene Orte voraus, an denen das Volk Gottes schon heute neu entdeckt, wie sich heutige Existenz und Evangelium wechselseitig erschließen, in offenen, experimentellen, unfestgestellten Prozessen.

Utopien sind statische Projektionen der eigenen Wunschproduktion, und unsere Kirche ist voll davon, progressiven wie konservativen. Topologien aber, zumal praktisch orientierte, arbeiten mit den Differenzen im Netz der konkreten Orte und sind fasziniert von all dem, was Utopien nervös macht: Unberechenbarkeit, Differenz und Dynamik. Denn sie vermuten gerade dort den Reichtum dessen, was man braucht, aber noch nicht hat, und vor allem sind ihnen Ambivalenzen kein Gräuel, sondern notwendige Voraussetzungen humaner und damit christlicher Existenz.

 

Das betrifft übrigens auch die Pastoraltheologie. Sie ist ein klassisches Aufklärungsfach und daher utopisch gestimmt, wurde zudem von einer Kaiserin eingeführt und daher schwanken ihre Utopien zwischen Befreiungspathos und hierarchienahem Institutionsmanagement. Ein topologischer Ansatz würde für die Pastoraltheologie wie auch generell für den aktuellen Transformationsdiskurs der Kirche bedeuten, jene Orte zu suchen und zu befragen, an denen gelingt, was nach dem Konzil Voraussetzung von Kirchenbildung ist: die Pastoral.17

Es gibt eine Stelle im Konzil, die dabei sehr präzise definiert, worum es geht. Sie findet sich in Gaudium et spes 4. Dort heißt es: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“ Das kennt man mittlerweile. Es geht aber spannend weiter: „So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben.“ (Gaudium et spes 4)

Das ist eine wirklich brillante Formulierung. Sie behauptet nämlich erstens, dass diesseitiges und jenseitiges Leben in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, zweitens, dass es die zentrale, die konstitutive Aufgabe der Kirche ist, dieses Verhältnis von diesseitigem zu jenseitigem Leben in jeder Generation neu zu vermitteln und zwar als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens überhaupt. Und dass dies drittens nur gelingt, wenn die „Zeichen der Zeit“, also die säkulare Realität angemessen im Licht des Evangeliums gedeutet wird. Ohne die Deutung der Zeichen der Zeit also kann die Kirche ihren Auftrag überhaupt nicht erfüllen: Es ist ihr daher eine wirkliche Pflicht.

Fürchtet sie sich davor, sich mit den konkreten Herausforderungen der „neuen Zeiten“ zu konfrontieren, scheitert sie nicht nur an ihrer Zeit, sondern auch an ihrem eigenen Auftrag. Die Zeichen der Zeit aber sind topologisch, plural in Raum und Zeit, flüssig und neu, und heute, in postmodernen Zeiten, sind sie vor allem eines: überraschend, fremd und verstörend. Und deswegen empfiehlt das Konzil eben auch eine neue Haltung. Niemand hat diese Haltung bewegender verkörpert als jener Papst, der das Konzil einberufen hat. Dieser Papst steht für eine neue kirchliche Kultur als Folge des konsequenten Ortsbezugs der Kirche und ihrer grundsätzlichen Solidarität mit der „Menschheitsfamilie“, der sie, wie das Konzil immer wieder sagt, „eingefügt“ ist. Es heißt im „Akt des Glaubens“ von Johannes XXIIII., kurz vor seinem Tod:

Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert, nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen. Wer ein recht langes Leben gehabt hat, wer sich am Anfang dieses Jahrhunderts den neuen Aufgaben einer sozialen Tätigkeit gegenübersah, … wer wie ich zwanzig Jahre im Orient und acht in Frankreich verbracht hat und auf diese Weise verschiedene Kulturen miteinander vergleichen konnte, der weiß, dass der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu ergreifen und in die Zukunft zu blicken.18

Ein alter Mann und Papst bekennt kurz vor seinem Tod, immer noch am Beginn des Verständnisses des Evangeliums zu stehen. Und er nennt den Grund: die neuen Zeiten. Der oberste Repräsentant der alten Kirche markiert die vielen und ganz unterschiedlichen Orte, die ihn zu diesem Bekenntnis zwingen: sein langes Leben in diesem Jahrhundert, die Herausforderungen der sozialen Verwerfungen, der islamische Orient und das atheistische Frankreich und überhaupt die kulturellen Differenzen der Gegenwart.

Das Evangelium in diesen unüberschaubaren Zeiten und von seinen Problemen her in Wort und Tat besser zu verstehen und zu verwirklichen, das ist die alte Aufgabe der Kirche. Die kulturellen Revolutionen einer postmodern gewordenen Gegenwart stellen völlig neue Fragen an uns und damit an das Evangelium, Fragen, die wir noch kaum verstanden, geschweige denn beantwortet haben. Das ist unsere pastorale Chance.

Diese neuen Zeiten der Gegenwart sind für das pilgernde Volk Gottes eine große Herausforderung, denn das autologische Dispositiv zwingt die Kirche, eine ziemlich neue Konstitutionsform ihrer selbst zu entwickeln und dabei ihre Aufgabe nicht zu verraten, weder an den Markterfolg, noch an die kleingläubige Resignation des Autoritarismus. Das ist die kirchliche Herausforderung.

Diese Zeiten sind aber auch eine große Gnade. Denn sie versprechen neue Entdeckungen der alten Wahrheit des Evangeliums und das im hilfreichen Kontext der Demut.

DIE PROVOKATION ANNEHMEN
Welche Konsequenzen sind aus der Sinusstudie zu ziehen?
1 Außenperspektiven können schmerzen

Damit sie für das Wohl der Gläubigen … geeigneter sorgen können, sollen sie sich bemühen, ihre Bedürfnisse in den sozialen Umständen, in denen sie leben, richtig kennenzulernen, wobei sie dazu geeignete Mittel anwenden sollen, besonders der Sozialforschung.

So heißt es im Dekret des Zweiten Vatikanums über das Hirtenamt der Bischöfe, Christus Dominus 16. Wer immer das mittlerweile zu einer gewissen Berühmtheit gelangte „Milieuhandbuch religiöse und kirchliche Orientierungen“ beim Heidelberger Marktforschungsinstitut Sinus Sociovision in Auftrag gegeben haben mag – das „Handbuch“ selbst nennt die kirchennahe MDG Medien-DienstleistungsGmbH sowie die KSA Katholische Sozialethische Arbeitsstelle Hamm, unter „Beratung“ figurieren allerdings auch Mitglieder des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz oder etwa der Pressesprecher Kardinal Meisners –, man muss ihm ohne Zweifel dankbar sein.

Zwar können die Ergebnisse den halbwegs aufmerksamen Beobachter der gesellschaftlichen Szene(n) nicht wirklich überraschen und den oder die pastoral Tätige(n) auch nicht, besteht die Erhebungsmethode doch im Kern aus protokollierten und analysierten Gesprächen mit „Normalbürgern“ zu Lebenssinn, Religion und Kirche. Dies ändert aber nichts am exemplarischen Wert der Studie, denn sie leistet, was die katholische Kirche so dringend braucht: den wertvollen Dienst der Außenperspektive.

Freilich: Solche Außenperspektiven können schmerzen, wie ein Spiegel, eine Rezension oder die Beichte. Sie präsentieren auch nicht einfach die Wahrheit an sich, sondern spezifische Fremdblicke auf die eigene Wirklichkeit. Damit eröffnet sich der Kontrast von Fremd- und Eigenperspektive: Wie man auf diesen Kontrast reagiert, hat seinerseits Diagnosecharakter. Die Differenz von Fremd- und Eigenperspektive ist aber der genuine Ort intellektueller Erkenntnis und zugleich jener geistlicher Demut. Beidem ist die Kirche verpflichtet.

Die Untersuchung geht von zwei plausiblen Grundannahmen aus: zum einen, dass die situative Integration der Kirchenmitglieder jede normativ regulierte Kirchenmitgliedschaft abgelöst hat,19 mithin also auch katholische Religionspraxis unter den Individualisierungszwang moderner Lebensführung geraten ist; zum anderen, dass „Individualisierung“ nicht voraussetzungslose Wahlfreiheit, sondern Entscheidung auf der Basis neuer Integrationsmechanismen bedeutet. Schließlich müssen es moderne Biografien irgendwie schaffen, das Übermaß an Wahlmöglichkeiten zu bewältigen.

2 Sociovision hat der Kirche einen Marktlagebericht geliefert

Seit Gerhard Schulzes berühmter Studie Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart20 stehen dabei lebensstilorientierte „Milieus“ im Mittelpunkt des Interesses. Deren konkreter Zuschnitt ist relativ sekundär: Bei Schulze waren es fünf solcher Milieus, bei Sociovision sind es zehn. In ihrer bildlichen Signifikanz haben sie bei allem Stereotypieverdacht nicht nur einen gehörigen Unterhaltungs-, sondern auch Erkenntniswert, nicht zuletzt, wenn man versucht, den eigenen Lebensentwurf einzuordnen.

Schon beim Bamberger Soziologen Schulze war dabei zu lernen, dass im Unterschied zu vormodern traditionalen Gesellschaften und auch zur weltanschaulich versäulten deutschen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Milieuzugehörigkeit in „Lebensstilmilieus“ von den Beteiligten grundsätzlich als selbst gewählt erfahren wird, so sehr dies dem kritischen Außenblick auch als Selbstverblendung erscheinen mag. Der methodische Ansatz der Sociovisions-Studie kombiniert nun diese Milieutheorie mit einem einfachen Dreistufenschema der sozialen Lage und gelangt so zu einer ebenso plastischen wie differenzierten Matrix, in der die „Milieus“ mit Bezeichnungen „illustrativen Charakters“21 wie „Bürgerliche Mitte“, „Traditionsverwurzelte“ oder „Konservative“ situiert sind. Deren jeweilige religiöse und kirchliche Orientierungen erhebt die vorliegende Untersuchung.

Die Ergebnisse sind für die katholische Kirche einigermaßen provokativ. Bekommt sie doch bestätigt, dass sie in der Wahrnehmung der Bevölkerung offenbar nur noch in jenen drei eben genannten Milieus, die ca. 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, verwurzelt ist und das noch nicht einmal langfristig stabil. In allen anderen Milieus stößt die katholische Kirche dagegen weitgehend auf Desinteresse oder gar Ablehnung: Dort glaubt man in der Kirche nicht zu finden, was man an Religion nachfragt, wenn man denn Religion nachfragt, was allerdings, vielleicht mit Ausnahme der „DDR-Nostalgischen“, bei den meisten Menschen immer noch der Fall zu sein scheint.

Mit anderen Worten: Sociovision hat der Kirche geliefert, was man von einer Marktforschungsgesellschaft erwarten kann, einen Marktlagebericht. Das ist in jeder Hinsicht konsequent, schließlich vergesellschaftet sich Religion in entwickelten modernen Gesellschaften nicht mehr in herkunftsbezogenen Schicksalsgemeinschaften, sondern zunehmend über marktgesteuerte Mechanismen.

Die Ergebnisse der Sinusstudie sind einigermaßen ernüchternd. Man braucht freilich nur die eigene kirchliche Statistik zu konsultieren, erfahrene Seelsorger und Seelsorgerinen zu befragen oder etwa die ausgesprochen instruktive, von Johannes Först und Joachim Kügler herausgegebene Studie Die unbekannte Mehrheit, Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben22 zur Kenntnis zu nehmen, um bestätigt zu bekommen, was auch Sociovision herausgefunden hat: Mit der Marktgängigkeit der katholischen Kirche steht es hierzulande trotz eindrucksvoller diakonischer Präsenz nicht besonders gut.

Damit bestätigt sich, was in Pastoraltheologie und Religionssoziologie schon länger diskutiert wird. Die Sinusstudie pointiert aber eine Erkenntnis: Die katholische Kirche steht nicht einem, gar „dem“ modernen Milieu gegenüber, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher Milieus mit teilweise konträren Erwartungen an sie. Schärfer noch: Die Kirche selbst ist in das Spannungsfeld differenter Milieus geraten und kann sich nur noch in wenigen Milieus wirklich vermitteln, während sie andere schon kaum mehr erreicht.

Die weltanschaulich versäulte Gesellschaft der Weimarer Zeit, katholisch auch in der Nachkriegszeit noch ausgesprochen reststabil, wurde also abgelöst von einer Gesellschaft lebensstildifferenzierter Milieus. Diesen Differenzierungsprozess konnte die Kirche aber, wie es scheint, schlicht nicht mitvollziehen, was dann als „Milieuverengung“ der Gemeinden (Michael N. Ebertz) beschrieben werden kann.