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3 Die Ursprünge: Gemeindetheologie 1935

Erfolgreich im Sinne realer, wenn auch ambivalenter Praxisrelevanz wurde die Gemeindetheologie im katholischen Bereich erst nach dem II. Vatikanischen Konzil, das übrigens selbst auf diesem Feld ausgesprochen zurückhaltend geblieben war, mit seiner Volk-Gottes-Theologie und seiner Betonung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen aber zumindest partiell konvergent zu Intentionen der Gemeindetheologie ist. Die Ursprünge der Gemeindetheologie liegen aber auch im katholischen Bereich deutlich früher.

In seinem 1979 erschienenen Buch „Wie wird unsere Pfarrei eine Gemeinde?“ hatte Ferdinand Klostermann die Bildung „lebendiger Zellen“ innerhalb der Pfarrei gefordert. Der Zusammenschluss dieser „lebendigen Zellen“ sollte dann die „Lebendige Gemeinde“ bilden. Diese Forderung findet sich praktisch wortgleich bereits in den „Richtlinien für die Katholische Aktion“, die der Wiener Kardinal Theodor Innitzer (1875-1955) 1934 ausgegeben hatte. Dort heißt es:

Um die Gesamtheit der Gläubigen zu erreichen, soll in jeder Pfarre die Zellenarbeit durchgeführt werden. Sie besteht darin, daß in planmäßiger Auswahl der Laienapostel die ganze Pfarre durchorganisiert wird. Durch diese Laienapostel ergibt sich die lebendige Verbindung zu allen Familien und Gliedern der Pfarre. Die einzelnen Laienapostel, die den Kern einer Zelle bilden, sind durch ständige Schulung und Anregung in eifriger Tätigkeit zu erhalten.217

Zeitlich befinden wir uns zu Beginn des Österreichischen Ständestaates.218 Das ist mehr als eine zeitliche Koinzidenz. Den Beteiligten ist der Zusammenhang durchaus bewusst. Der Wiener Prälat Dr. Karl Rudolf (1886-1964), erster Leiter des 1931 geschaffenen „Wiener Seelsorge-Instituts“, reflektiert im „Jahrbuch der katholischen Aktion Österreichs“ des Jahres 1935 ausdrücklich auf diese Zusammenhänge von staatlichen und kirchlichen Entwicklungen, innerhalb derer insbesondere die IV. Wiener Seelsorgertagung vom 2. bis 4. Januar 1935 eine zentrale Rolle gespielt hatte. Die von Dollfuß am 1. Mai verkündete neue Verfassung stelle, so Rudolf,

den durchaus ernsten Versuch dar, mitten im Herzen des entchristlichten, um nicht zu sagen entgotteten Abendlandes auf der Grundlage der in der Enzyklika Quadragesimo anno gegebenen kirchlichen Lehrweisungen einen christlichen Staat, eine wesentlich christliche Volksgemeinschaft aufzubauen. Dieses … säkulare Wagnis kann nur gelingen, wenn sich im österreichischen Volke lebendigstes, blutvolles Christentum findet, das den Paragrafen der Verfassung das entsprechende wahrhaft christliche Leben als wesentliches Aufbauelement zur Verfügung stellt.219

Die Organisationsform dieses „lebendigsten, blutvollen Christentums“ aber sollten nicht die traditionellen katholischen Vereine, sondern die „Katholische Aktion“ sein, deren zentrales Organisationselement aber war die Gemeinde. Oder wie es auf der bereits erwähnten IV. Wiener Seelsorgertagung im Januar 1935 hieß: „Das Königreich Christi im kleinen … ist die Pfarrgemeinde.“ Und der jugendbewegte Referent fährt fort:

Ja, wir bauen am glücklichen Land der Pfarrgemeinde und des Vaterlandes! Damit ist die große einheitliche zeitgegebene Linie unserer Jugendbewegung gezeichnet in den Worten: Ein Führer! Ein Zeichen! Ein Reich! Oder: Christus – unser oberster Führer! Sein Zeichen – unser Zeichen! Sein Führer- und Königreich – die Pfarrgemeinde!220

Pius XI. hatte in seiner ersten Enzyklika Ubi arcano 1922 die „Katholische Aktion“ als durchaus neue Organisationsidee der katholischen Kirche propagiert und empfohlen. Es ging darum, die Laien und ihren Einsatz für die Kirche in neuer Weise zu aktivieren. Dieser Ansatz enthielt eine charakteristische Doppelbotschaft. Einerseits wurde der Status der Laien aufgewertet, denn ihre Tätigkeiten wurden als relevant für die Existenz von Kirche, vor allem für das Ziel von deren „Aktivierung“ und „Verlebendigung“ angesichts drohender Säkularisierungstendenzen erkannt und anerkannt. Andererseits wurde jede Laienaktivität strikt unter hierarchische Leitung gestellt und als untergeordnete „Mitarbeit“ am Apostolat der Kirche, die im eigentlichen Sinne der Klerus und nur er repräsentierte, charakterisiert und damit begrenzt.

Dieses Konzept wurde deutlich als (anti-liberales) Nachfolgekonzept zur im deutschsprachigen Bereich dominierenden Organisation des Katholizismus in katholischen Vereinen verstanden.221 Freilich: Lange änderte sich, übrigens auch in Österreich, erst einmal praktisch nichts. Im November 1927 musste Pius XI. die österreichischen Bischöfe, die zu ihrer jährlichen Herbstkonferenz in Wien zusammengekommen waren, mit Nachdruck an seinen Wunsch nach Errichtung einer „Katholischen Aktion“ erinnern und jetzt erst kam man auch dem päpstlichen Wunsch zumindest offiziell nach. Am 15. Dezember 1927 proklamierte der Wiener Kardinal Friedrich Gustav Piffl im Festsaal des Wiener Priesterseminars feierlich die „Katholische Aktion“ der Erzdiözese Wien – nicht ohne freilich gleich hinzuzufügen, dass eigentlich nichts wirklich Neues geschaffen werden müsse, denn alle Elemente der „Katholischen Aktion“ existierten doch bereits seit längerem auch so schon. Das war natürlich weniger als die halbe Wahrheit.

Das zeigte sich, als im Herbst 1932 Innitzer Nachfolger von Kardinal Piffl wurde. Höhepunkt seines ersten Bischofsjahrs war der „Allgemeine Deutsche Katholikentag“, der vom 7. bis 12. September 1933 in Wien stattfand, allerdings wegen Reiseschikanen nur von sehr wenigen Deutschen besucht werden konnte und so de facto ein österreichischer Katholikentag wurde.222 Im Zuge der Nachbereitungen dieses erlebnisintensiven religiösen Großereignisses wies Innitzer einen Kreis jüngerer Kleriker um Karl Rudolf und Leopold Schmid, viele geprägt vom „Bund Neuland“, an, „sich durch eine Anzahl geistig führender Laien zu ergänzen und möglichst konkrete Vorschläge zu erstatten für den Neuaufbau einer Katholischen Erzdiözese aus dem Geist und der Kraft des Katholikentages“223.

Im Rahmen des von Karl Rudolf geleiteten „Wiener Seelsorge-Instituts“ bildete sich daraufhin eine spezielle Arbeitsgemeinschaft „Katholische Aktion und Pfarrgemeinde“. Jetzt erst setzte sich die eigentlich für die „Katholische Aktion“ konstitutive Idee durch, sie nicht als reine Zusammenfassung katholischer Vereine, sondern als völlig neue Bewegung zu verstehen und zu errichten. Das zielte auf nichts weniger denn einen wirklichen Systemwechsel in der pastoralen Basisorganisation. Bis dorthin hatte sich katholisches Laienleben auch in Österreich vor allem in den nach 1848 gegründeten Vereinen abgespielt, die „Pfarre“ war gerade in Folge des Josephinismus vor allem ein „Amt“, an das man sich bei Bedarf, und möglichst nur dann, wandte wie an ein anderes Amt. Zumindest konzeptionell wurde die pastorale Basisorganisation nun radikal auf das Projekt einer explizit gemeinschaftsbezogenen „Pfarrgemeinde“ umgestellt.

„Nur die Organisationsidee der Pfarrgemeinde allein ist ein wirklich Ganzes, ein ideelles, natürliches und übernatürliches, territoriales und einheitliches Ganzes“224 – so der bereits zitierte Referent zur Jugendpastoral P. Ferdinand Bruckner O.Cist auf der IV. Wiener Seelsorgertagung. Dieses Projekt zielt dabei auf nichts weniger denn auf umfassende, ja totale Erfassung der Gläubigen:

Der Zeitgeist ist nun heute einmal aufs Totale, aufs Ganze gerichtet und tut am liebsten dort mit, wo totale Ideen in totalen Formen Gewähr für entscheidende allgemeine Neugestaltung bieten. Diesem Zeitgeist stehen die partikularen Vereinsformen und -ideen auf die Dauer unebenbürtig gegenüber … Deshalb die verantwortungsschwere, aber vom innersten Erlebnis getragene Frage: Gibt es im katholischen Bereich eine Organisationsidee, auf der eine großzügige einheitliche, vom Wesen her total wirkende, und doch mannigfaltige Gemeinschaftsbildung (der Jugend) möglich wäre? Wenn ja, dann ist es nur die Organisationsidee der Pfarrgemeinde!225

Im „Wesen der Pfarrgemeinde liegt die geistig religiöse, personale und territoriale Totalität; wenigstens theoretisch und grundsätzlich, wenn auch im Leben nie ganz verwirklicht.“226

Den Planern dieser pastoralen Umgestaltung war die Größe ihrer Aufgabe klar: „Es gehört zu den schwersten Problemen, das längst verkümmerte Pfarrbewusstsein in den Leuten wieder lebendig zu machen“227, so Franz Schebeck, ein anderer Referent dieser Tagung in seinem Rückblick auf das erste Jahr der neuen Katholischen Aktion unter dem bezeichnenden Titel „Die Pfarrgemeinde als Lebenszentrum der Katholischen Aktion“. Dazu war vieles notwendig: Schebeck wusste, dass es darum ging, „die Pfarrgemeinschaft in ihrer Ursprünglichkeit wieder herzustellen“228, den „Klerus … wieder für den Gedanken der Pfarrgemeinschaft“229 zu gewinnen, das „längst verkümmerte Pfarrbewußtsein in den Leuten wieder lebendig zu machen“230, und dass die „Gewinnung und Schulung der Laienhelfer231 erst noch begonnen werden musste. Er forderte ein „Pfarrheim, zum wenigsten einen Pfarrsaal232, vor allem aber ging es um die „Erfassung der ganzen Pfarre233: „Erst die in diesem Sinne aufgebaute lebendige Pfarrgemeinde wird eine fähige Trägerin und fruchtbare Wirkerin der Katholischen Aktion sein können“234. Hier findet sich an zentraler Stelle bereits, was auch in der nachkonziliaren Gemeindetheologie zum programmatischen Leitwort werden sollte: die „lebendige Pfarrgemeinde“. Schon die Wiener „Weihnachts-Seelsorgertagung“ des Jahres 1933 trug explizit jenes Motto, das bis vor kurzem den zentralen pastoralen Konzeptbegriff für die Basisorganisation der katholischen Kirche hierzulande bildete: „Die lebendige Pfarrgemeinde“235.

 

Kardinal Innitzer machte sich dieses Programm in seinen erwähnten Richtlinien vom 18. 12. 1934 voll und ganz zu eigen. Innitzer fordert die „Errichtung von Pfarrheimen“, die Einsetzung eines „Pfarrbeirat(s)“, „allgemein zugängliche Pfarrabende“ und die „Schulung der Laienapostel“. Der Pfarrer ist der Führer der Pfarrgemeinde, er beruft die „Führer der Naturstände“. „Als Naturstände sind die Gruppen der Männer, Frauen, der männlichen und weiblichen Jugend anzusehen, und zwar in der Ganzheit aller Pfarrangehörigen“. Die angesprochene „Zellenarbeit“ besteht aber nach Innitzer darin, „dass in planmäßiger Auswahl der Laienapostel die ganze Pfarre durchorganisiert wird.“236

Die zentralen Strukturen dieses Konzepts einer Gemeindetheologie im Rahmen der Katholischen Aktion und innerhalb des autoritären Ständestaates werden markant sichtbar im Vorwort Kardinal Innitzers im „Jahrbuch der katholischen Aktion in Österreich“ des Jahres 1935. Mit Oppositionsbildungen, die auch in der Gemeindetheologie der 70er Jahre zentral wurden, werden spezifische Aufwertungszuschreibungen an die Laien vorgenommen, dies in einem konkret handlungsbezogenen wie in einem dogmatischen Sinne. Die Laien sollen „von bloß Besorgten zu Mitsorgern, von bloß Betreuten zu solchen, die auch betreuen, werden“237, denn schließlich besitze der Christ „als Getaufter und Gefirmter priesterlichen Charakter, … so dass er in seiner Weise berufen sei, in einem rechtverstandenen allgemeinen Priestertum zur Welt, die ihn umgibt, zu stehen und in ihr zu wirken.“238

Doch auch hier findet sich bereits eine charakteristische Dopplung von Aktivierung und Domestizierung. Denn das alles gelte, so Innitzer, nur „in bewusster Bei- und Unterordnung unter die kirchliche Hierarchie“239. „Ein Heer, das zur Schlacht, auf Eroberung auszieht, ohne rechte Zu- und Unterordnung der einzelnen Teile unter der Führung, hat von vorne herein keine Aussicht auf Erfolg, auf Sieg“. Noch „tiefer“ freilich sei „die Unterordnung unter die amtliche Hierarchie … begründet in der Glaubenstatsache, dass Papst und Bischöfe und in ihrem Auftrag die Priester die von Christus unmittelbar zu seiner Vertretung bestellten Hüter und Führer im Reiche Gottes sind.“ Die Arbeit der Laien unterliege daher „in allen Phasen“ der „ordnenden, sichernden und führenden Gewalt“240 des Bischofs und seiner Vertreter. Innitzer lässt kein Missverständnis über das Ziel dieser pastoralen Erneuerung aufkommen:

Es geht um nichts mehr und nichts weniger, als dass die Kirche sich anschickt, ihren Totalitätsanspruch, den sie von Christus ihrem göttlichen Stifter an alle Menschen und an alle menschlichen Verhältnisse hat, wieder und mit allem Nachdruck zu stellen. Christus soll wieder oder endlich das Haupt der gesamten erlösten Menschheit werden.241

4 „Gemeindetheologie 1970“ und „Gemeindetheologie 1935“ – ein Vergleich
4.1 Historische Kontinuitätslinien

Zwischen der „Gemeindetheologie 1970“ und der „Gemeindetheologie 1935“ existieren zwei unverkennbare historische Kontinuitätslinien. Ihre Relevanz ist allerdings eigens zu prüfen. Zum einen wurden beide Konzepte in Wien entworfen und damit im einzigen deutschsprachigen Bereich, in dem sich das vatikanische Konzept der hierarchiegeleiteten „Katholischen Aktion“ gegen das ursprünglich deutsche „Katholizismus“-Konzept des Verbände- und Vereinswesens durchsetzen konnte. Man war sich dieser Alternativstellung durchaus bewusst: „Die Vereinsidee, aus liberalen und demokratischen Zeiten stammend und für diese Zeiten notwendig und nur so möglich – muß formal und inhaltlich eine Umwandlung durchmachen, soll sie in die neue Zeit passen, die organisch, total und autoritär denkt.“ In „organisatorischer Hinsicht ist die stärkere Einordnung in die Arbeit und das Leben der Pfarre sowie die Berufung und Sendung der Führer von oben statt ihrer Wahl von unten ein Ausdruck jener Umwandlung“242 – so Joseph E. Mayer im „Jahrbuch der Katholischen Aktion in Österreich 1935“. Ähnlich auch die Äußerung des Jugendseelsorgers Bruckner auf der erwähnten Seelsorgertagung 1935: „Unsere Vereine stammen aus einer Zeit, die für die gesamt-katholische Bewegung der Pfarrgemeinden noch nicht reif war“, es sei daher „nicht Verlust und Untergang, sondern große Gnade und Auferstehung, daß wir heute die Vereinsidee hineinwachsen sehen dürfen in die große Idee der Pfarrgemeinde.“243

Schließlich wurde in Österreich, im Unterschied zu Deutschland, nach dem II. Weltkrieg die durch den Nationalsozialismus abgebrochene Verbände-Tradition nicht wieder aufgenommen, vielmehr die Katholische Aktion weitergeführt, deren Geistlicher Assistent nach dem Krieg niemand anders als Ferdinand Klostermann war. Klostermann war zudem auf dem Konzil Mitarbeiter am konziliaren Laiendekret, wenn er auch zu diesem durchaus lange eine skeptische Haltung einnahm.244

Zum anderen gibt es auch eine personelle Kontinuität: Theodor Innitzer war – schon als Kardinal – der Habilitationsvater des Wiener Pastoraltheologen Michael Pfliegler, dieser wiederum der Habilitationsvater seines unmittelbaren Nachfolgers Ferdinand Klostermann. Auch Klostermanns Lehrer Michael Pfliegler war ein leidenschaftlicher Anhänger der „Katholischen Aktion“. 1935 begrüßte er die neu angebrochene Zeit des „totalen Staates“, sah schließlich nicht jetzt mehr Wissenschaft gegen Glauben, sondern Glauben gegen Glauben kämpfen, denn heute wisse man, „dass der Glaube die stärkste und allein Ordnung schaffende Macht“245 sei.

Ferdinand Klostermann war durch Michael Pfliegler zur Pastoraltheologie gekommen, biografisch gesehen relativ spät. Pfliegler wie Klostermann waren klassische Kirchenreformer ihrer Zeit, Pfliegler stand zeitweise gar den religiösen Sozialisten nahe, Klostermann war mit Rahner Konzilsperitus des Wiener Kardinals König und innerhalb der Wiener Theologischen Fakultät bis zu seiner Emeritierung auf deren linkem Flügel positioniert. Wir sind hier also nicht im Milieu der „braunen Priester“246, eher im Milieu eines modernisierungswilligen Reformkatholizismus. Klostermann kam wegen seines regimekritischen Wirkens in der Jugend- und Studentenseelsorge gar vom 31. 3. bis 15. 12. 1942 in Gestapohaft, 1943 bis 1945 war er nach Ausweisung aus den Alpen- und Donaugauen und einem Zwangsaufenthalt „nördlich der Mainlinie“ Kaplan der Berliner Pfarre St. Agnes.

Ferdinand Zauner,247 Schüler und Freund Klostermanns, berichtet in seinem bereits erwähnten Rückblick auf das Leben seines Lehrers, dass dieser noch 1949 die „Idee der Gemeinde“ als „protestantisch“ betrachtet und nicht, wie etwa Innitzer, als selbstverständlichen Konzeptbestandteil der „Katholischen Aktion“ verstanden habe. Im Theoriebereich zeigt sich hier also ein Kontinuitätsbruch, wie er freilich der praktischen Basisrealität der katholischen Kirche Österreichs entsprochen haben dürfte. Die „Katholische Aktion“ hatte zwar die katholischen Vereine praktisch vollständig ersetzt, das Gemeindekonzept des Vorkriegs-KA-Programms hatte aber nicht wirklich gegriffen. Die Umformatierung der Basisstruktur der katholischen Kirche im Sinne eines aktivierten und aktivierenden Gemeindelebens als dichten Gemeinschaftslebens hatte nicht wirklich stattgefunden – mit Ausnahmen. Über eine dieser Ausnahmen scheint auch die Vermittlung von Gemeindetheologie 1935 und Gemeindetheologie 1970 gelaufen zu sein: die Hochschulgemeinde Wien.

Bei Zauner ist zu erfahren, dass Klostermann die „Gemeinde“-Idee vom Wiener Hochschulpfarrer Karl Strobl248 (1908-1984) kennen gelernt habe. „Strobl hatte während des Zweiten Weltkrieges katholische Studenten als christliche Gemeinde versammelt, nachdem sämtliche kirchlichen Verbände verboten waren.“ Das entspricht nun tatsächlich ganz dem Innitzerschen Konzept. Zauner weiter: „Nach 1945 setzte man dann vor allem auf die Katholische Aktion. Der Hochschulseelsorger Strobl gründete die Katholische Hochschuljugend als selbständige Gliederung der Katholischen Aktion, beließ jedoch die ‚Gemeinde‘ als Kirche an der Universität.“ Auch das entspricht dem ursprünglichen KA-Konzept.

Klostermann sieht das ursprünglich offenbar anders. „Dem konsequenten Systematiker Klostermann“, so Zauner,

war dies lange ein Dorn im Auge. Er belächelte Strobls Idee der Gemeinde als „protestantisch“. Katholisch seien die Pfarre und die Katholische Aktion. Erst in einem Schiurlaub auf dem Arlberg mit dem damaligen Religionslehrer Günter Rombold249 konnte Klostermann dazu gebracht werden, die Theologie der Gemeinde zu durchdenken. Das Ergebnis war das … „Prinzip Gemeinde“, gewidmet „Der Katholischen Hochschulgemeinde Wien“.250

Offenbar genügten ein Schiurlaub und ein überzeugender Praxisbericht, um ein revolutionäres pastoraltheologisches Konzept zu entwickeln, genauer: um ein bereits vor dem Krieg im Ständestaat versuchsweise propagiertes und in der Wiener Hochschulgemeinde weiter getragenes pastorales Konzept wieder aufzugreifen. Vielleicht ist ja tatsächlich Kardinal Innitzers Konzept „KA und Pfarrgemeinde“ in der Perspektive einer gemeinschaftsorientierten Aktivierung konsequenter als Klostermanns ursprüngliches Programm „KA und Pfarre“, das letztlich Kardinal Piffls minimalistischer Rezeption des päpstlichen KA-Konzepts entsprach. Die Wiener Hochschulgemeinde und deren Leiter Karl Strobl verkörpern offenbar die Kontinuitätsschiene, über welche die Gemeindetheologie 1935 den Vater der Gemeindetheologie 1970 erreichte. Historisch gesehen dürfte gelten: Die katholische Gemeindetheologie entstand im Umfeld der österreichischen Katholischen Aktion und des katholisch dominierten Ständestaates, überlebte in der Wiener Hochschulgemeinde unter Karl Strobl, gelangte schließlich zu Ferdinand Klostermann und wurde von diesem ausgesprochen erfolgreich in den nach-vatikanischen pastoraltheologischen Diskurs eingespeist.

4.2 Funktionen

Die gemeindetheologischen Ansätze von 1935 und 1970 ähneln sich, unterscheiden sich freilich auch. Beide gehen von einer bislang defizitären kirchlichen Reaktion auf die Säkularisierungsprozesse ihrer jeweiligen Gegenwart aus. Beide versuchen, angesichts des „mitten im Herzen des entchristlichten, um nicht zu sagen entgotteten Abendlandes“, so wie bereits zitiert Kardinal Innitzer 1935 (!), die katholische Großkirche an ihrer Basis gemeinschaftsorientiert zu reformatieren, und beide laden dazu die eher formale kirchenrechtliche Größe „Pfarre“ mit gemeinschaftsnahen Kategorien auf: unter dem Begriff „Pfarrgemeinde“ 1935, unter dem Begriff „Gemeinde“ 1970. Sie gleichen sich auch in der Dualität von Emanzipationspathos der Laien und unangetasteter Leitungsgewalt der Priester.

Die beiden gemeindetheologischen Ansätze unterscheiden sich aber darin, wie diese unangetastete Leitungsgewalt dann konkret gedacht wird. 1935 geschieht dies zeittypisch mit anti-liberaler Stoßrichtung in Kategorien von Über- und Unterordnung und konkret gefasst in der Führerkategorie. 1970 wird diese unangetastete „Letztverantwortung“ des Klerus dann demokratiekompatibler eher in familiaristisch-paternalistischen Kategorien wie „Pfarrfamilie“, „brüderliche Leitung“ und „Einmütigkeit“ gefasst.

Damit wird auch die zentrale Diskontinuität erkennbar, die mit den beiden Jahreszahlen 1970 und 1935 benannt werden kann: Sie liegt im völlig gewandelten politischen und kulturellen Kontext. Wurde die „Gemeindetheologie 1935“ zu Beginn des autoritären österreichischen Ständestaates vorgelegt, so die „Gemeindetheologie 1970“ in der nachkonziliaren Aufbruchsphase und zudem auch unmittelbar nach jenem westeuropäischen und US-amerikanischen Kulturumbruch und Demokratisierungsschub, den man gewöhnlich mit der Chiffre „1968“ umschreibt. Führerideologie und anti-demokratisches Ordnungsdenken waren damit natürlich obsolet geworden, die „Gemeindetheologie 1970“ galt ja auch eher als „progressives“, weil tendenziell egalitäres innerkirchliches Konzept. Umgekehrt stellt sich dann aber die Frage, inwiefern fast identische Konzepte in solch radikal unterschiedlichen zeithistorischen Kontexten entwickelt, präsentiert, attraktiv und zumindest partiell auch erfolgreich werden konnten. Welche Funktion erfüllten diese gemeindetheologischen Diskurse in der jeweiligen kirchlichen Lage? Was war 1935 wie 1970 so attraktiv an diesem Konzept?

 

Michel Foucault hat bekanntlich dem Christentum zugesprochen, nicht nur eine völlig neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte eingespeist zu haben, sondern mit der „pastoralmacht auch eine völlig neue Form religiöser Organisation.

Sie ist selbstlos, im Unterschied zur Königsmacht, sie ist individualisierend, im Kontrast zur juridischen Macht, und sie ist totalisierend, im Unterschied zur antiken Machtausübung. Sie bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das ganze Leben. Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben einzusetzen für die Schafe, ein Hirt, der jedes Einzelne der Schafe im Auge haben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem Schaf interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht mindestens so wichtig wie der Altar: Im katholisch-autoritären Ständestaat bestand denn auch die Pflicht, den jährlichen Beichtzettel beim Arbeitgeber abzugeben.

Pastoralmacht ist nach Foucault also individualisierend, totalisierend und zumindest dem Anspruch nach selbstlos. Betrachtet man beide Gemeindetheologien, jene von 1935 wie jene von 1970, als Versuch, die verlorenzugehen drohende kirchliche Pastoralmacht zu sichern bzw. wiederzugewinnen – und die beide Entwürfe begleitenden Krisenanalysen legen das nahe –, dann zeigt sich, dass beide darin übereinstimmen, den sich lockernden Zugriff der Kirche auf den Einzelnen durch den Aufbau spezifischer, kommunikativ verdichteter sozialer Räume wieder verstärken zu wollen. Sie unterscheiden sich freilich im Zugang zu dieser Lösung, näherhin in der Gewichtung von Individualisierung und Totalisierung. Die Gemeindetheologie propagiert sich 1935 vor allem als zeitgewünschte Totalisierung des kirchlichen Zugriffs, die Gemeindetheologie 1970 primär als ebenso zeitgewünschte Individualisierung dieses Zugriffs.

Die gemeindliche Gemeinschaftlichkeit dient in der Gemeindetheologie 1935 vor allem dazu, alle in allen ihren Lebensbezügen zu erreichen, also die Totalität des Zugriffs zu garantieren. Man denke an Innitzers Satz, es ginge „um nichts mehr und nichts weniger, als dass die Kirche sich anschickt, ihren Totalitätsanspruch … wieder und mit allem Nachdruck zu stellen.“251 Der zeittypische Hintergrund ist unmittelbar greifbar: Immerhin forderte der Professor für Dogmatik an der Theologischen Hochschule von Stift St. Florian in Oberösterreich, Dr. Alois Nikolussi (1890-1965), auf der Wiener Seelsorgertagung 1935 auch, man müsse

das Wir-Gefühl von der staatlich-politischen in die kirchlich-religiöse Sphäre hinüberleiten, wo es ja wirklich am allermeisten bodenständig ist. Wir müssen ein wahres Trommelfeuer loslassen, bis dass das Wir vor jedermanns Bewusstsein aufragt wie ein Diktator: groß, herrlich, berauschend.252

Im gleichen Aufsatz fällt übrigens auch Nikolussis unvergesslicher Satz: „Es ist katholischer, mit dem Bischof im Irrtum als gegen den Bischof in der Wahrheit zu schreiten“253. Die Gemeindetheologie 1970 aber hatte bei aller totalisierenden Funktion, auch sie wollte „möglichst viele“ in möglichst vielen Lebensbezügen erreichen, vor allem ein individualisierendes Interesse. Der Einzelne sollte wirklich als Einzelner wahrgenommen werden. Es ging darum, jeden auch wirklich zu erreichen, also die Individualität des Zugriffs zu sichern.

Beide Konzepte stehen in der Dualität von Emanzipation und Unterordnung der Laien. Den Vertretern beider Konzepte ist das bewusst. Sie unterscheiden sich freilich darin, wie sie diese Dualität bearbeiten. Die Gemeindetheologie 1935 greift vom Unterordnungspol auf die Einzelnen zu und verspricht im gemeindlichen Gemeinschaftlichkeitskonzept partielle Emanzipationserfahrungen. Die Gemeindetheologie 1970 greift vom Emanzipationspol auf die Einzelnen zu und domestiziert – oder weniger polemisch gesagt – balanciert diese Emanzipationsbewegung mit dem gemeindlichen Gemeinschaftlichkeitskonzept aus, so dass die priesterliche Pastoralmacht nicht nur nicht gefährdet, sondern auf neuer, wohl am besten „familiaristisch“ zu nennender Basis fortführbar wird. Die „Selbstlosigkeit“ des priesterlichen Hirten wird daher 1935 in der Führermetapher, 1970 in der Metapher des gütigen Familienvaters codiert.

Gemeinsam aber ist beiden Gemeindetheologien ein durchgängiger Aktivierungs- und Verlebendigungsgestus, eine anti-volkskirchliche Entdifferenzierungstendenz. Kennt die Volkskirche eine extrem gespreizte und letztlich auch akzeptierte Partizipationsdifferenz von kirchenrechtlich notwendiger Minimalpartizipation bis zu heroischhimmlischen Heroismusanforderungen, wie sie die Heiligen der Zeit repräsentieren (etwa Katharina von Emmerich, die nichts aß und stigmatisiert war, oder der heilige Pfarrer von Ars als Ikone priesterlicher Heiligkeit und Schlichtheit zugleich), so sind Gemeindetheologien eher von einer mediatisierten Normalpartizipation oberhalb des Kirchenrechts, aber unterhalb religiöser Extremismen gekennzeichnet. Gemeindetheologien sind immer auch der Versuch, das Ärgernis zu beseitigen, dass nicht alle Menschen religiöse Virtuosen sind.