An neuen Orten

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4 Perspektiven
4.1 Ein „Zeichen der Zeit“ endlich wahrnehmen!

Die epochalen Veränderungen der Geschlechterrollen, die Veränderung der Wertehaltungen und Einstellungen berühren das ganze Leben und haben Auswirkungen auf bestehende Handlungsformen und -muster. Für Lebensformen, Einkommenserwerb, die Bedeutung von Beruf und Freizeitgestaltung, die Einstellung zum anderen Geschlecht, zu Partnerschaft und Sexualität, Ehe, Familie, Kindererziehung gibt es gesellschaftlich keine eindeutigen oder als gültig erwiesenen Richtlinien mehr.

Wo aber wäre dann Zukunft für die Kirche – für eine Kirche, in der Frauen und Männer sich gleichberechtigt diesen Veränderungsprozessen und Neukonstellationen stellen und sie im Lichte des Evangeliums zu deuten und zu leben versuchen? Wo überhaupt wäre sie zu suchen, diese Zukunft – auch und gerade für die Frauen, die derzeit für eine Kirche eintreten sollen, die Frauen ganz deutlich den zweiten Rang zuweist?187 Womöglich nirgends anderswo als genau in dieser Machtlosigkeit.

Der erste Schritt einer in ihrer öffentlichen Artikulationsfähigkeit männlich dominierten Kirche (und Theologie) wäre, erst einmal wirklich wahrzunehmen, welches Leben Frauen heute führen und welche Rolle darin Kirche und Religion (und die Männer) spielen. Die Kirche der Männer wird lernen müssen, auszusteigen aus dem alten Spiel der patriarchalen Zuschreibungen und einzusteigen in das Spiel der aufmerksamen Wahrnehmung. Sie wird also schlichtweg dazu angehalten sein, vor allem zu schweigen und zu hören – zu hören auf jene Kirche, die es bei den Frauen schon gibt, ohne diese vorschnell abzuwerten oder zu belächeln.

Was aber heißt dieses „Wahrnehmen“ konkret? Was müssen in einer männlich dominierten Kirche die Männer und was die Frauen lernen? Und was brauchen sowohl Männer als auch Frauen an Unterstützung, damit sie nicht vor jeglichem Bemühen, einfach wahrzunehmen was ist, wieder einseitig in der Sackgasse der Machtspiele landen? Wie gelingt es dieser Männerkirche, aus den Diskursen der unhinterfragten Bemächtigung auszusteigen? Wie gelingt es ihr, aus den ewig gleichen Denkstrukturen und Handlungsmustern herauszukommen?

Notwendig ist vor allem der Auszug aus altvertrauten Bastionen zugunsten von mehr Beziehung, zu den Frauen, aber auch unter den Männern, mehr Gemeinschaft, ebenbürtiger Gegenseitigkeit und Identitätsgewinn. In der Geschichte hat die Kirche den Ausstieg aus den Diskursen der Bemächtigung meist nicht oder nur sehr zögerlich aus Einsicht in deren Ungerechtigkeit getan, jetzt wird sie es tun müssen, weil sie anders überhaupt nicht mehr zum Gespräch zugelassen werden wird. Veränderung wird aber nur dort möglich sein, wo Verlust und Gewinn überhaupt erst sichtbar und zum Thema gemacht werden.

Es hat frühe Zeichen der Einsicht gegeben: grundsätzliche und auch konkrete zur Sache der Frauen. Für Johannes XXIII. etwa war die Frauenemanzipation neben dem „Aufstieg der Arbeiterklasse“ und der Entkolonialisierung eines der aktuellen „Zeichen der Zeit“188: die Befreiung der Arbeiter, der kolonialisierten Völker und der Frauen, das sind für Johannes keine Verfallsgeschichten der alten Ordnung, sondern Entdeckungsgeschichten der „Würde der Person“, ja von Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit.189 Die Weigerung der Frau, „sich als seelenlose Sache oder als bloßes Werkzeug einschätzen zu lassen“, die Tatsache, dass sie „sowohl im häuslichen Leben wie im Staat jene Rechte und Pflichten in Anspruch (nimmt), die der Würde der menschlichen Person entsprechen“, das ist für Johannes XXIII. schlicht ein epochaler Bewusstwerdungsprozess der Menschenwürde, der, wie der Papst nicht ohne Stolz hinzufügt, „vielleicht rascher geschieht bei christlichen Völkern“190.

Sollte sich die katholische Kirche auf die Suche nach den Resten ihrer verlorenen Definitionsmacht des Geschlechterverhältnisses konzentrieren, wird sie darüber alle Autorität verlieren. Die neue Ordnung der Geschlechter markiert offenbar das Ende des sanktionsbewährten machtförmigen Zugriffs der Kirche noch auf das letzte der ihr gebliebenen menschlichen Existenzfelder – und damit vielleicht den unumkehrbaren Anfang ihrer neuen Form. Womöglich würde dann die Kirche am Ende der klassischen Moderne nach zweitausendjähriger Geschichte endlich zum Anfang dessen kommen, wo ihr Gründer am Ende seines Neuanfangs bereits war.

4.2 Was heute schon möglich ist

Da nicht anzunehmen ist, dass die gegenwärtig gültigen kirchenrechtlichen Zulassungsbedingungen zum priesterlichen Amt in absehbarer Zeit geändert werden, bleibt die Frage: Was tun? Möglich, auch unter den geltenden Bedingungen, und unbedingt notwendig scheinen mir repräsentative Sichtbarkeit, basisorientierte Öffentlichkeit und balancierte Kirchlichkeit.

a. Repräsentative Sichtbarkeit

Die katholische Kirche sollte alles daran setzen, Frauen sichtbar in Leitungspositionen zu bringen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Immerhin gibt es bereits Pastoralund Schulamtsleiterinnen, Ordinariatsrätinnen und Personalchefinnen.191 Das hat es vor wenigen Jahren noch nicht gegeben. Viele von ihnen widerlegen schlicht durch ihre Existenz und Kompetenz patriarchale Stereotypen.

b. Basisorientierte Öffentlichkeit

Die katholische Kirche sollte weiterhin intensiv daran arbeiten, Orte reversibler und aufmerksamer religiöser Kommunikation jenseits des alten, tendenziell repressiven religiösen Diskurses zu schaffen. Der Rückzug der Priester aus der Fläche etwa, so bedauerlich er ist, macht Räume frei für Laien, also auch und besonders für Frauen. Dies sollten Frauen entschieden nutzen zur Gestaltung von kommunikativen Räumen, die von ihnen geprägt sind.

c. Drittens, und am heikelsten: balancierte Kirchlichkeit

Offenkundig gibt es schon heute in der katholischen Kirche so etwas wie eine „Kirche der Frauen“ und sie wird von den älteren wie, wenn auch mit geringerem Anteil, auch von jüngeren Frauen gebildet. Gerade manche ältere Frauen haben sich ihren Ort in der Kirche und ihren Ort von Kirche geschaffen. Frauen scheinen sich dabei zunehmend frei zu machen von der Leitungsautorität und ihre eigene, frauendominierte kirchliche Erfahrungswirklichkeit zu gestalten.

Die „Kirche der Frauen“ ist eine Zumutung für die patriarchale Kirche, denn jene ist neu und ungewohnt für diese, sie weiß nicht mit ihr umzugehen und kann sich zu ihr nicht in ein kreatives Verhältnis setzen. Die patriarchale Kirche ist aber auch eine Zumutung für die „Kirche der Frauen“, denn jene schätzt sie nicht, gibt ihr keine Macht und neigt dazu, ihre personale Ernsthaftigkeit, religiöse Qualität und evangelisatorische Potenz zu unterschätzen.

Die „Kirche der Frauen“ ist aber auch eine unausweichliche Größe für die patriarchale Kirche, denn ohne jene ist sie nicht zukunftsfähig, kann sie das Evangelium bei den Frauen nicht verkünden und noch weniger entdecken und letztlich ihre eigene Existenz nicht sichern. Die patriarchale Kirche ist aber auch eine unausweichliche Größe für die „Kirche der Frauen“, denn diese entstammt jener, teilt mit ihr viele Traditionen und kann sich nur mit Bezug auf sie ihrer eigenen Herkunft versichern.

Hildegard Wustmans, frühere Dezernatsleiterin in der Diözese Limburg und jetzt Pastoraltheologin in Linz, hat in ihrer Grazer Habilitationsschrift192 die Kategorie der „Balance“ vorgeschlagen, um das Verhältnis der „Kirche der Frauen“ zum traditionellen kirchlichen Raum zu beschreiben. Balancen sind heikle Angelegenheiten und für sie sind immer beide Seiten verantwortlich. Sie gehen leichter verloren, als man sie einrichtet, und sie sind nie gesichert. Zudem sind sie anstrengend. Hat man sie aber einmal gefunden, ermöglichen sie das schier Unmögliche: Dinge ins Schweben zu bringen, die ständig zu kippen drohen – und dann einfach liegen bleiben.

Es geht nicht um Utopien, sondern, mit einem Begriff von Foucault, um Andersorte, Heterotopoi.193 Das sind, anders als Utopien, Orte, die es tatsächlich gibt, die aber eine Differenz zu ihrer Umgebung setzen und dadurch verschämte oder verschwiegene Wahrheiten ans Licht bringen. Bei Foucault sind Friedhöfe und Bordelle klassische Heterotopoi. Sie sind ausgegrenzt und bringen verschwiegene Wahrheiten ans Licht: hier etwa die Unausweichlichkeit und also Macht des Todes wie der Sexualität.

Solche Orte gibt es schon. Man sollte sie nicht verstecken, sondern ausstellen und herzeigen. Denn sonst sprechen sie nicht, obwohl sie viel zu sagen hätten.

TEIL II: SOZIALFORMEN

1935 – 1970 – 2009
Ursprünge, Aufstieg und Scheitern der „Gemeindetheologie“ als Basiskonzept pastoraler Organisation der katholischen Kirche
1 Gemeindetheologie: Definition und Charakteristika

Die katholische Kirche Deutschlands – und in anderer Form auch die evangelische – bewegt seit einiger Zeit kaum etwas mehr als der ressourcenbedingte Umbau ihrer pastoralen Basisstruktur. Die Konfliktlinie verläuft dabei im Wesentlichen zwischen den Anhängern der „Gemeindetheologie“ und den Pastoralplanern der Seelsorgeämter, die, so jedenfalls im katholischen Bereich, die wenigen verbliebenen Priester auf einer höheren Ebene des kirchlichen Stellenkegels ansiedeln müssen und daher das lange propagierte Idealbild einer um den Pfarrpriester gescharten, überschaubaren, lokal umschriebenen, kommunikativ verdichteten Glaubensgemeinschaft auflösen.194

 

So lange freilich existiert dieses gemeindliche Idealbild kirchlicher Basisorganisation im katholischen – und übrigens auch im evangelischen – Bereich noch gar nicht. Dessen Aufstieg ab 1970, sein Anfang in den 1930er Jahren, die Modifikationen, die es dabei durchmachte sowie die aktuelle Lage der Gemeindetheologie im Bereich der deutschsprachigen katholischen Kirche sollen im Folgenden nachgezeichnet werden. Es geht dabei primär um eine diskursive, nicht um eine soziale Größe, wenn auch der pastoraltheologische Diskurs seit Maria Theresias Gründungszeiten des Faches nicht mehr so erfolgreich gewesen sein dürfte wie bei der realen Durchsetzung der Gemeindetheologie als quasi selbstverständliche Normalform kirchlicher Basisverfassung.

Gemeindetheologie meint dabei das, was Petro Müller, einer ihrer vehementesten Verteidiger, mit Blick auf ein prominentes Beispiel der Nachkonzilszeit, die Wiener „Machstraße“, in den programmatischen Satz zusammenfasst: „Überschaubare Gemeinschaften mündiger Christen sollten die anonymen Pfarrstrukturen aufbrechen und an ihre Stelle treten.“195 Zentrale Bezugsgröße der Kirchenmitgliedschaft ist in der Gemeindetheologie nicht mehr, wie eigentlich katholisch programmatisch üblich und in der Pianischen Epoche auch sozial weitgehend realisiert, die römisch-katholische Gesamtkirche mit dem Papst an der Spitze, sondern der überschaubare Nahraum einer kommunikativ verdichteten, letztlich nach dem Modell einer schicksalhaft verbundenen Großfamilie gedachten „Gemeinde“.

2 Der Aufstieg: Gemeindetheologie 1970

„Gemeinde“ ist im Horizont der verschärften konfessionellen Differenz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts alles andere als ein genuin katholischer Begriff. Der Wiener Pastoraltheologe Ferdinand Klostermann (1907-1982) berichtet, dass noch 1968 ein Jesuit in den „Räumen der Wiener Katholischen Hochschulgemeinde“ ihm entgegnet habe, „Gemeinde sei eigentlich eine eher protestantische Vokabel, die man im katholischen Bereich vermeiden sollte“196. Freilich, so schreibt Klostermann dann 1970, mittlerweile sei „Gemeinde … wie über Nacht eine katholische Vokabel, ja geradezu eine katholische Modevokabel geworden.“197

Erst Anfang der 1970er Jahre, so lässt sich aus Klostermanns Bemerkung schließen, setzte sich offenbar die „Gemeindetheologie“ endgültig und sehr schnell auch im katholischen Bereich durch. Es musste also vorher ein anderes Paradigma kirchlicher Basisorganisation geherrscht haben. Im 4. Band des „Lexikons für Theologie und Kirche“ aus dem Jahre 1960 wird denn auch unter dem Stichwort „Gemeinde“ noch schlicht auf „Pfarrei“ bzw. auf „Kirche“ verwiesen, ausgeführt waren nur das „protestantische Glaubensverständnis“ und die „Rechtsgeschichte“.198

Wer ist dieser Ferdinand Klostermann, der hier durchaus zutreffend den Sieg der Gemeindetheologie auch im katholischen Bereich konstatiert? Zum einen, er ist jener Theologe, der für diesen Sieg wie kaum ein anderer verantwortlich war. Ferdinand Klostermann, von 1962 bis 1977 Ordinarius für Pastoraltheologie an der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät,199 kann als zentraler Theoretiker wie als Initiator der nachkonziliaren Gemeindetheologie gelten. Er war ohne Zweifel einer der einflussreichsten Theologen seiner Zeit und das weit über Österreich hinaus.

Von den im Lande geborenen österreichischen Theologen ist nur einer nach dem Zweiten Weltkrieg in der ganzen Welt bekannt geworden: Ferdinand Klostermann. Das ist wohl unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich mit seinem Namen die Leitidee für die Seelsorge nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbindet, nämlich die christliche Gemeinde200

– so der Linzer Pastoraltheologe und Freund Klostermanns, Wilhelm Zauner, in einem Rückblick auf Klostermanns Leben 1987.

Der gemeindetheologische Diskurs Klostermanns reagiert deutlich auf die Säkularisierungserfahrungen des sich auflösenden katholischen Milieus in der Modernisierungswelle der frühen 60er Jahre. Man wollte der schon seit längerem, nunmehr aber unübersehbar nachlassenden Bindekraft der katholischen Kirche gegensteuern. Für Klostermann spielt die These, „dass im allgemeinen der Kirchenbesuch mit der wachsenden Pfarreigröße abnimmt“, eine zentrale Rolle in der Begründung seines gemeindetheologischen Projekts. Er entwickelt aus diesem Befund „die pastorale Notwendigkeit von Pfarrteilungen bzw. gemeindlichen Substrukturen unserer städtischen Großpfarreien“ und fordert auch die „Erhaltung der Kleinpfarreien … als echte Gemeinden“, auch „auf dem Lande.“201 Dieses Begründungsmuster findet sich im Übrigen praktisch identisch knapp ein Jahrhundert vorher im protestantischen Bereich, als auch dort gemeindetheologische Konzepte erst wirklich nachhaltig Fuß fassten.202

Der „fortschreitenden Säkularisierung“ sollte, so rückblickend auf einer Fachtagung der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2007 der frühere Essener, jetzige Münsteraner Bischof Genn mit Bezug auf eine Studie Wilhelm Dambergs, durch „die Bildung von Pfarreien unter dem Leitbild der Pfarrfamilie“ entgegengewirkt werden. Daraus entstand etwa im Bistum Essen „die Option, im Umkreis von maximal 750 Metern immer wieder eine Kirche mit der entsprechenden Infrastruktur (Pfarrhaus, Kaplanei, Kindergarten, Pfarrheim, Jugendheim, Küsterwohnung) zu bauen.“203

Der gemeindetheologische Diskurs knüpft zudem an die Tradition des genuin antiliberalen, demokratiekritischen „Organismusgedankens“ der Zwischenkriegszeit an,204 wie ihn etwa Romano Guardini innerkirchlich exemplarisch – und am reflektiertesten – vertreten hat und den man in der Maxime zusammenfassen kann: „Nicht mehr das subjektiv-individualistische Denken herrsche vor, sondern eine organisch geprägte Form, in der die Kirche als Gemeinschaft der Vielen entdeckt wird, geeint in Gott“205. Alois Baumgartner hat bereits in seiner 1977 erschienenen Studie zu den „Ideen und Strömungen um Sozialkatholizismus der Weimarer Republik“206 entsprechende Tendenzen unter dem Titel „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ analysiert.

Diese innerkirchliche „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ war ihrerseits bereits die Konsequenz aus den (zumindest so gedeuteten) Defiziterfahrungen an religiöser Intensität und Konsequenz einer rein volkskirchlichen Formation von Kirche. Deren Charakteristikum war das als selbstverständlich empfundene Mit- und Zueinander der drei Größen kirchliche Sozialform, religiöses Sinnsystem und gesellschaftliche Wirklichkeit. Im katholischen Milieu der Pianischen Epoche gelang das zwar nur noch auf der geschmälerten Basis eines gesellschaftlichen Submilieus und also auf defensiv-triumphalistischer Basis, aber es gelang doch noch recht weitgehend.207 Spätestens mit der Perforierung dieses Milieus (für sensible Geister aber aben auch schon vorher) zerfiel diese Einheitsimagination von kirchlicher Sozialform, religiösem Sinnsystem und gesellschaftlicher Wirklichkeit.208

Im gemeindetheologischen Konzept Klostermanns werden nun zwei dieser drei Parameter in ein erneuertes Nahverhältnis gebracht: die kirchliche Sozialform und das religiöse Sinnsystem. Die „Gemeindetheologie“ reintegriert beide subjekt- und (klein-) gruppenorientiert. Der grundlegende Wandel des Verhältnisses zur dritten Größe, der umgebenden gesellschaftlichen Realität, wurde dabei eher begrüßt. An die Stelle wechselseitiger Stützung traten der Gesamtgesellschaft gegenüber nun Kategorien wie „Kontrast“, „Eigenständigkeit“ und „Unabhängigkeit“. Oder noch einmal in den Worten Klostermanns: Im gemeindekirchlichen Konzept werde

das volkskirchliche Denken überwunden; ein Denken, das zu falschen Identifizierungen von Kirche und Volk, Kirche und Staat, Kirche und Partei, Kirche und Klassen, Kirche und irgendwelchen Systemen anderer Ebenen neigt.209

„Gemeindetheologie“, das zeigt sich als wirkmächtiger pastoraltheologischer Transformationsdiskurs, der in der Mitte der 1960er Jahre tatsächlich enorm praxisrelevant wurde. Er projektierte die Umformatierung der kirchlichen Basisstruktur hin zu „überschaubaren Gemeinschaften mündiger Christen“, wie es dann hieß. „Gemeinde“, das war konzipiert als Nachfolgestruktur der als anonym, bindungs- und entscheidungsschwach wahrgenommenen volkskirchlichen Pfarrstruktur. Man kann diesen Diskurs tatsächlich Gemeindetheologie nennen, denn eines seiner charakteristischen Merkmale war und ist bis heute die dezidiert theologische Selbstbegründung.210 Das unterschied ihn signifikant von dem bis dahin für Organisation und Legitimation kirchlicher Basisstrukturen primär zuständigen kirchenrechtlichen Diskurs. Ein weiteres Merkmal des gemeindetheologischen Diskurses und vielleicht Folge seiner theologieintensiven Begründung war es, zumindest konzeptionell alle kirchlichen Handlungsstrategien auf diesen Umbauprozess zu zentrieren. Es galt eben tatsächlich das „Prinzip Gemeinde“211, es galt die Maxime „Kirche als Gemeinde“212, um Klostermann-Titel aus den frühen 70er Jahren zu zitieren.

Dieser Umformatierungsprozess hatte zugleich extensiven wie intensivierenden Charakter. Klostermann nennt als Ziel des Gemeindebildungsprozesses, „dass in (einer) Pfarrei möglichst viele Menschen eine möglichst genuine Gemeinde Jesu, des Christus, erleben können“, „dass die Pfarrei ein konkreter Ort wird, an dem möglichst vielen Pfarrangehörigen, aber auch anderen im Pfarrgebiet wohnenden Menschen die Glaubenserfahrungen Jesu weitervermittelt werden können.“ Dazu sollen „möglichst viele in christliche Gruppen und Gemeinden“213 eingebunden werden. Intensivierung und extensive Erfassung gleichzeitig also waren angezielt. Das Ergebnis sollte die „menschliche, brüderliche, offene und plurale Pfarrei“214 sein, so die Formulierung Klostermanns.

Die Gemeindetheologie startet als Diskurs. Konzeptionell war dieser Diskurs zumindest im deutschsprachigen Raum bis vor kurzem praktisch alternativlos. Die Realität freilich war komplexer. Einerseits wurde tatsächlich die alte volkskirchliche und rein kirchenrechtlich definierte Territorialpfarrei mit gemeindetheologischen Kategorien aufgeladen. Um dem gemeindetheologischen Ideal näher zu kommen, wurden etwa die bereits von Klostermann geforderten „lebendigen Zellen“215 gegründet, also Familien-, Bibel- und andere religiöse Kreise als Orte verdichteter Kommunikation, möglichst auch verdichteter religiöser Kommunikation. Dazu wurden Pfarrheime gebaut, vor allem aber wurde eine neue Rhetorik und durchaus auch eine neue Wirklichkeit kommunikativer Gemeinsamkeit und Partnerschaft eingeübt. Gleichzeitig jedoch verlor die Gemeinde immer mehr ihrer realen Funktionen. Als nämlich die alte Pfarrerrolle im Professionalisierungsprozess der Pastoral in den 70er und 80er Jahren in ein Set von Hauptamtlichenberufen ausdifferenziert wurde, wanderten die sich professionalisierenden Handlungsfelder stets auch aus der Gemeinde aus, was zwar einen Differenzierungsfortschritt bedeutete, aber angesichts der unterkomplexen Gemeindetheologie ein reales, bis heute ungelöstes Integrationsproblem kirchlichen Handelns schuf,216 andererseits neo-integralistischen, klerikalistischen Reintegrationskonzeptionen zumindest partiell und vor allem in der Diskussion über „priesterliche Identität“ eine gewisse Schwungkraft verlieh.