Die Omega-Spur

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2.2. Die Thesen des Visionärs

Teilhard hat neben den oben erwähnten umfangreichen naturwissenschaftlichen Arbeiten, die nur in der einschlägigen Fachwelt Verbreitung fanden, für die allgemeine Öffentlichkeit einerseits naturwissenschaftlich orientierte Werke verfasst (hier vor allem sein Hauptwerk „Der Mensch im Kosmos“), anderseits darauf aufbauend religiös-philosophische Texte. Er legte großen Wert darauf, diese beiden Textarten zu unterscheiden; die naturwissenschaftlichen Texte und Buchteile sollten auch für jene Leser einsichtig sein, die seinen theologischen Überlegungen und Spekulationen nicht folgen wollten oder konnten.

Viele seiner Argumente und Indizien zum Thema Evolution sind heute, 100 Jahre später, schon anerkannter, unstrittiger Bestand naturwissenschaftlichen Wissens; dieser Teil der Debatte muss heute nicht mehr wiederholt werden. Wir wollen uns in der Folge mit jenen Aspekten beschäftigen, die im Zusammenhang mit der „Spur nach Omega“ stehen.

Schon in der Vorbemerkung aus dem Jahre 1947 zu „Der Mensch im Kosmos“ weist Teilhard darauf hin, dass der Sinn dieses Buches darin besteht, Phänomene zu beschreiben und damit eine „Einführung zu einer Erklärung der Welt“ zu geben, nicht aber Metaphysik oder Theologie zu betreiben. Er will einfach beschreiben, was er sieht, und denkt darüber nach.

So zeigt er, dass wir an der Materie eine ungeheure Vielfalt von Erscheinungen beobachten, vom Sandkorn über die zahllosen Arten der Pflanzen- und Tierwelt bis zu den Himmelskörpern. Gleichzeitig zeigt uns die moderne Naturwissenschaft, dass letztlich alle diese Phänomene im Grunde aus den gleichen Atombestandteilen bestehen, nur eben in sehr unterschiedlichen Anordnungen. Dazu sind Formen und Auswirkungen von Energie erkennbar.

Je nach dem Zusammenhang unserer Fragestellungen interessieren wir uns für verschiedene Ebenen dieser Phänomene. Ein Beispiel dazu: Ein Innenarchitekt findet einen Tisch passend oder unpassend für ein Zimmer, ein Tischler stellt fest, welches Holz bzw. welche Konstruktionsform dem Tisch ein bestimmtes Maß an Tragfähigkeit verleiht, ein Chemiker wird die Bestandteile auf seine Weise analysieren. Ein Atomforscher wird darauf hinweisen, dass alle Atome, also auch diejenigen, aus denen letztlich der Tisch besteht, vor allem aus leeren Zwischenräumen bestehen. Alle diese Aussagen sind richtig, aber innerhalb ihres Bezugssystems; jemand, der sich weigerte, auf den Tisch seinen Teller zu stellen, weil dieser ja vor allem aus leerem Raum bestehe, würde aber als verrückt gelten. – Im Sinne dieses Beispiels versucht Teilhard, in Gesamtzusammenhängen zu denken, nicht bei den immer detaillierten Teilchen-Analysen der Naturwissenschaft stehen zu bleiben.

Der Astronom weiß, dass unser Sternenhimmel uns Licht aus völlig unterschiedlichen Epochen zeigt. Im Kosmos sehen wir eigentlich Bilder aus ganz verschiedenen Zeiten. Nur manches davon stammt aus der sogenannten Gegenwart, etwa das Licht der Nachbarplaneten. Manche Galaxien schicken uns Licht, das aus der Zeit stammt, in der auf der Erde noch die Dinosaurier lebten, neueste Erkenntnisse gehen noch viel weiter. „Gegenwart“ ist ein nützlicher Alltagsbegriff. Für den Naturforscher ist sie kein Punkt, sondern ein Schnitt durch unbestimmbare Zeit-Fibern. Gestirne sind für uns auch Laboratorien, in denen die Evolution der Materie vor sich geht. Nicht nur Theologen machen sich Gedanken über die Begriffe Zeit und Ewigkeit, auch der Naturwissenschaftler kommt nicht darum herum.

Teilhard weist darauf hin, dass Physik und Biologie vor allem die Außenseite der Materie beschreiben, wo Atome sich verbinden, wo Evolution auch Kristallisierung (auf der Erde und in ganzen Galaxien) bedeutet, weiter Polymerisation, Bildung von Makromolekülen, Mikroorganismen, bis hin zur Komplexität der Zelle und somit des Lebens. Demgegenüber muss aber auch die Innenseite der Materie betrachtet werden. Er erinnert daran, dass jede Bewegung, die langsam genug ist, als Unbeweglichkeit erscheint. In der Natur ist ein scheinbares Abweichen von einer Regel die Steigerung von Eigenschaften, die grundsätzlich überall vorhanden sind, sonst aber nicht wahrgenommen werden.

Die Lage der Kontinente der Erde erscheint den Menschen im Alltag als fix gegeben. Geologen wissen aber aus der Geschichte der Kontinentalverschiebungen, dass die Erde vor Millionen Jahren ganz anders gegliedert war. So könnte auch der Begriff des Wunders damit zusammenhängen, dass Ereignisse extrem selten oder Veränderungen nur in großen Zeiträumen feststellbar sind. Die große Zahl einfacher Stoffe ist statistischen Gesetzen unterworfen, die kleinere Zahl komplexer Verbindungen hat ein höheres Maß an Individualität (auch Spontaneität).

Als Merkmale für Leben nennt Teilhard Vermehrung, Erneuerung, Assoziation, planmäßige Additivität, Erfindungsgeist; Leben heißt aber auch Verschwendung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum. Im Bereich der Biologie sieht Teilhard eine Entwicklungslinie zur Differenzierung der Nervensubstanz, somit eine klare Richtung der Evolution, aus inneren Kräften werden feste Instinkte. So sind bei Insekten und vielen Säugetieren psychische Fähigkeiten in die Gliedmaßen übergegangen, bei den Primaten jedoch ins Gehirn, was einen entscheidenden Vorsprung bedeutet.

Die Frage, ob „Außen“- oder „Innen“-Faktoren primär seien, sei wissenschaftlich nicht zu entscheiden: Wird eine Tierart zum Raubtier, weil die Mahlzähne schärfer werden, oder führt die innere Entwicklung Richtung Raubtier dazu, dass die Mahlzähne schärfer werden?

Die Erforschung frühester Spuren des Menschen ist Teilhards eigentliches persönliches Fachgebiet: Er erläutert Details diverser Funde, skizziert vielfach verzweigte Zusammenhänge zwischen Formen des Lebens mit dem Schlüsselbegriff „phylum“ (= lebendiges Büschel), weist auf Unterschiede im Gehirnumfang hin. Letztlich sei der biblische Bericht von der Abstammung aller Menschen von einem einzigen Paar jedoch naturwissenschaftlich nicht fassbar. Hinsichtlich Zeitangaben zum Anfang der Menschheit ist Teilhard betont vorsichtig, weist aber wiederholt darauf hin, dass je nach Definition erste Spuren des Menschen jedenfalls deutlich älter als 100.000 Jahre seien, manche Funde auch auf einige Millionen Jahre hindeuten, alles Zeiträume, die sowohl die Vorstellungskraft seiner Zeitgenossen und erst Recht der Menschen zur Zeit der Entstehung der Bibel weit übersteigen. Gleichzeitig sei Leben im Allgemeinen und erst recht menschliches Leben relativ zum Alter des Universums ein sehr junges Phänomen. (Die heutige Naturwissenschaft rechnet mit 13,7 Milliarden [13 700 000 000 !] Jahren seit dem Urknall, 4,7 Milliarden Jahren seit der Entstehung des Sonnensystems, mit ersten Säugetieren vor etwa 135 Millionen Jahren. Erste menschliche Funde dürften etwa 3,6 Millionen Jahre alt sein, die ältesten Spuren menschlicher Städte nur etwa 6.000 Jahre. Die konkreten Zahlen ändern sich immer wieder, entscheidend ist jedoch die völlig unterschiedliche Dimension.)

Teilhard spricht von einer Menschwerdung der Art durch den Sprung in die Intelligenz, wobei Lebensprinzipien wie Fortpflanzung, Verbreitung, Verzweigung etc. unverändert weiterhin relevant bleiben. Ein als konkrete Individuen beschreibbares erstes Menschenpaar ist naturwissenschaftlich nicht fassbar; der „erste Mensch“ ist eine Menge.

Hier führt Teilhard nun den Begriff der „Noogenese“ ein, womit er Geburt und Entwicklungsformen des Geistes beschreibt. Diese sieht er als kosmisches Phänomen, das auf Vollendung von innen her strebt (Konvergenz) und die den absteigenden Strom der Entropie letztlich besiegt. In Erweiterung der Zonenvorstellung der Geologie, wonach wir beim Aufbau der Erde über den aus Metallen, Gesteinen und Wasser gebildeten Zonen sowie der Atmosphäre auch eine Biosphäre erkennen können, sieht Teilhard hier nunmehr das Entstehen einer Noosphäre – einer Zone des Geistes auf unserem Planeten. In dieser Sicht sind gesellschaftliche Phänomene als Steigerung biologischer Phänomene zu sehen, werden menschliche Erfindungen zur Fortsetzung der Evolution! In dieser Zone des Geistes lernen wir in Raum-Zeit-Systemen zu denken, erkennen Entwicklungen nicht nur in Physik und Astronomie, sondern auch bis hin zur Religionsgeschichte. Mit einem Zitat nach Julian Huxley beschreibt Teilhard den Menschen „als die zum Bewusstsein ihrer selbst gelangte Evolution“. Damit werden auch neue Dimensionen jenseits der normalen Alltagserfahrung vorstellbar; Teilhard weist hier auf das Beispiel der Mathematik hin, wo schon seit Langem eine Zahl wie „pi“ eingeführt wurde, die nicht an den Fingern abgezählt werden kann, die keine Entsprechung im Alltagsverständnis hat, die aber für die Berechnung von Kreisumfang und Kreisfläche ganz zentral ist. Auch die Relativitätstheorie Einsteins ist inzwischen allgemein wissenschaftlich akzeptiert, auch wenn sie in der Vorstellungswelt des Durchschnittsmenschen kaum Raum finden kann. Es gibt offensichtlich Dinge, die wir als richtig anerkennen müssen, auch wenn sie im Alltag nicht einsichtig sind.

Der Naturwissenschaftler Teilhard fragt sich, wieso die Physiker mit gutem Grund davon sprechen, dass Energie zum Zustand der größten Wahrscheinlichkeit strebt, d. h. zur Entropie, gewissermaßen dem Ende aller Ordnung. Gleichzeitig sieht er in der Evolution aber die Entwicklung zu immer komplexeren Systemen, zum Leben, zum Geist usw. Wie passt das zusammen?

Teilhards Antwort ist sein erweitertes Energiekonzept: Er beginnt mit den traditionellen Begriffen der physikalischen Energie (definiert als „Fähigkeit zu arbeiten oder Widerstand zu überwinden“) und der psychischen Energie („Wirkungsfähigkeit von Bewusstseinsfaktoren“), weitet diese aber aus zur Idee einer kollektiven Bindungskraft. Für diese weiter gedachte Energie sieht er zwei Arten: Die erste, die er „tangential“ nennt, strebt zum Zustand der größten Wahrscheinlichkeit, letztlich zur Entropie; hier verweist Teilhard auf die Erkenntnisse und Thesen der modernen Physik, die er keineswegs bestreitet, bei denen aber seiner Meinung nach eine wichtige Ergänzung fehlt: Die zweite, von ihm „radial“ genannte Energie (in Anlehnung an den Kreisradius, der zum Mittelpunkt führt) führt zu immer komplexeren, aber statistisch unwahrscheinlichen Zuständen, d. h. zum Leben, zum Menschen, zur Person. Im Innersten dieses Bildes liegt ein letzter Punkt, den er Omega nennt (entsprechend dem letzten Buchstaben des griechischen Alphabets). Wer diese zweite Energieform nicht sieht, kann in seinem bloß physikalischen Weltbild die Entstehung von Leben, Mensch usw. nicht erklären oder muss sie als eigentlich sinnloses Zwischenspiel der Evolution deuten.

 

Die als kollektive Bindungskraft verstandene Energie zeigt sich auf unterschiedlichen Stufen der Evolution auf sehr unterschiedliche Weise: von der in der Physik beschriebenen Teilchenstrahlung über die Anordnung im Zellkern bis hin zum Menschen und durch gesellschaftliche Phänomene über die Entwicklung des Einzelmenschen hinaus. Damit sind zum Beispiel elektromagnetische Anziehung und Abstoßung, Kohäsion und Adhäsion, Liebe und Hass äquivalente Phänomene auf unterschiedlichen Stufen der Evolution.

In einer Kurzformel schreibt Teilhard einmal: Evolution = Spiritualisation = Personalisation. Bei anderer Gelegenheit formuliert er: „Es gibt nicht Materie und Geist, es gibt nur Materie, die Geist wird.“ Der Begriff der Person ist hier wichtig, die Teilhard im natürlichen Bereich als unabhängigen Mittelpunkt der Weltbetrachtung und des Handelns versteht. Er wehrt sich hier gegen gesellschaftliche Strömungen, die die Person gegenüber dem Kollektiv als zweitrangig sehen, und argumentiert sogar hier als Naturwissenschaftler: Anhäufungen von Atomen oder Atomgruppen werden in der Evolution eben „bloß“ zu Kristallen, deren Entwicklungsmöglichkeiten jedoch weit hinter den Möglichkeiten der organischen Chemie, geschweige denn des Lebens zurückbleiben.

Von hier führt dann die geistige Brücke von naturwissenschaftlicher Theorie zu Teilhards unorthodoxer Interpretation des Christentums mit ihren spirituellen Folgerungen.

2.3. Teilhards Spiritualität der Evolution

Teilhards spirituelle Prägung beginnt extrem konservativ. Die Familie insgesamt und insbesondere die Mutter sind traditionell katholisch, tägliches Abendgebet der Familie (inklusive Dienerschaft) gehört ebenso zum Familienleben wie im Juni tägliches gemeinsames Beten der Herz-Jesu-Litanei. Für Teilhard entwickelt sich aus diesem Hintergrund der Herz-Jesu-Verehrung seine Vorstellung der Verbindung des Göttlichen und des Kosmischen, wie er als junger Mann in Briefen und noch im hohen Alter schriftlich bekennt.

Neben der Religion ist für Teilhard seit frühester Kindheit die Materie interessant; Steine und Eisen, die er eifrig sammelt, repräsentieren für ihn Ewigkeit. Bis ins hohe Alter kommt er wiederholt auf ein ihn schockierendes Kindheitserlebnis zurück, als er bemerken musste, dass sich auf gesammelten Eisenstücken Rost angesetzt hatte – ein offensichtliches Zeichen, dass Ewigkeit auch in der härtesten Materie nicht gegeben ist. So musste der spätere Brückenbauer zwischen den Welten der Naturwissenschaft und der Religion schon als Kind merken, dass zwar Materie nicht ewig ist, es aber Verbindungen zwischen dem göttlichen und dem materiellen Bereich gibt.

Als Naturwissenschaftler kommt Teilhard zu der Erkenntnis, dass die wissenschaftliche Forschung zwar für manche auch Versuchung für den Glauben, für ihn im Gegenteil aber klarer Wegweiser hin zum christlichen Glauben sei. Die Analyse immer kleinerer Teile der Materie bringt uns zu dem Punkt, wo wir kaum noch zwischen Materie und Energie unterscheiden können; Materie als solche ist keine stabile Grundlage der Welt, Konsistenz entsteht erst durch ein verbindendes Element, den auf unterschiedlichen Ebenen in sehr unterschiedlichem Ausmaß erkennbaren Geist. Teilhard verwendet hier das Bild des Kegels, wo die zur Spitze gehende Achse alles zusammenfasst, wohingegen die traditionelle Naturwissenschaft primär auf die immer kleineren Einzelelemente an der Kegelbasis ziele.

Wer jedoch als Wissenschaftler den Richtung Synthese aufwärts zielenden Pfeil der Evolution studiert, registriert Bewusstsein, Personalisation, Geistwerdung (Noogenese) als empirisch feststellbare derzeitige Höhepunkte und kommt bei Fortschreibung dieser Beobachtungen zur These eines Punktes Omega als „Zentrum unserer Zentren“. Im Punkt Omega vereint sich das durch Geistwerdung frei gewordene Bewusstsein; Liebe ist in diesem Sinn eine Spur der psychischen Konvergenz des Universums. Liebe würde aber sterben, wenn sie auf das Unpersönliche stieße, sie braucht das Miteinandersein. (Auch noch so umfassende und allgegenwärtige unpersönliche Kräfte respektiert der Mensch, liebt sie aber sicher nicht – wer liebt schon die Schwerkraft?)

Er nennt den Endpunkt seiner naturwissenschaftlichen Überlegungen „Punkt Omega“; als Theologe setzt Teilhard schließlich diesen mit Christus gleich und formuliert thesenhaft:

„A. Der offenbarte Christus ist nichts anderes denn Omega.

B. Als Omega stellt er sich in allen Dingen erreichbar und notwendig dar.

C. Und schließlich musste er, um als Omega konstituiert zu werden, durch die Mühsal seiner Inkarnation das Universum erobern und beseelen.“1

Diese Überzeugung stützt Teilhard biblisch vor allem auf paulinische und johanneische Texte, insbesondere die Hymnen des Epheser- und des Kolosserbriefes (vor allem auch Kol 2,10), die er vielfach kommentiert. Sie wird Ausgangspunkt seiner Schau der Welt und seiner Spiritualität. 1934 formuliert er als Antwort auf Bedenken eines wohlmeinenden Kollegen sein persönliches Glaubensbekenntnis in vier Sätzen:

– „Satz 1: Ich glaube, das Universum ist eine Evolution

– Satz 2: Ich glaube, die Evolution geht in Richtung des Geistes

– Satz 3: Ich glaube, der Geist vollendet sich im Personalen

– Satz 4: Ich glaube, das höchste Personale ist der Christus-Universalis“2

Satz 1 ist heute wohl weitgehend akzeptiert. Die Sätze 2 und 3 werden viele – nicht alle – Menschen für richtig halten, ungewöhnlich bis heute ist sicher Satz 4.

Teilhard kommt jedoch nicht nur auf Grund naturwissenschaftlicher und theoretisch-theologischer Überlegungen zu diesem Glaubensbekenntnis; er hat auch persönliche Erfahrungen, die diese Überzeugung in ihm festigen: Mitten im Fronteinsatz des Ersten Weltkriegs bei Verdun, als er Kriegserlebnisse innerlich verarbeiten muss, aber auch mit dem eigenen Tod zu rechnen hat, hat Teilhard offensichtlich mystische Erfahrungen, die er in literarisch verschlüsselter Weise in Briefen an seine Cousine Marguerite schriftlich festhält. In einem Text, der einem verstorbenen Freund in den Mund gelegt wird, stellt sich der Erzähler die Frage, in welcher Weise Christus heute leiblich erscheinen würde, wie er sich von der umgebenden Materie abgrenzen würde. In der Vision sieht der Seher dann eine vibrierende Schicht, die immer größer wird, bis das ganze Universum vibriert. Diese Bewegung scheint dabei vom Herzen Christi auszugehen, dessen Augen den Seher faszinieren. Später glaubt er diesen Blick im Auge eines sterbenden Soldaten wiederzuerkennen.

Eine weitere Vision betrifft die in einer Monstranz befindliche Hostie, die immer größer zu werden scheint, in der alles andere aufgeht. Der weiße Schimmer scheint dabei aktiv zu sein, scheint alle Liebeskraft des Universums aufzusaugen. Schließlich wird in einer dritten Vision von einer Hostie berichtet, die ein Priester im Feld in einem kleinen Gefäß mit sich trägt, wo die Trennung zwischen ihm und der Hostie aus den noch zu lebenden und der Forschung dienenden Jahren zu bestehen scheint.

Im Jahr 1919 – Teilhard hatte den Kriegsdienst überstanden und seine Geologie-Studien in Jersey abgeschlossen – entsteht ein poetisch-allegorischer Text, „Die geistige Potenz der Materie“, den Teilhard wichtig genug nimmt, um ihn dann mehr als 30 Jahre später, 1950, als Anhang zu seinem Alterswerk „Das Herz der Materie“ anzuschließen. Der Text erinnert an Passagen des Alten Testaments, nämlich den Bericht über Elias, der im Feuerwagen zum Himmel entrückt wird (2 Kön 2), und auch den Kampf Jakobs mit Gott (Gen 32), wo dieser eine ganze Nacht lang mit Gott kämpft, bis er gesegnet wird. Hier ringt der Mensch aber mit der Materie, wodurch zwischen ihm und den anderen Menschen ein chaotischer Wirbel entsteht. Im Inneren des Wirbels wurde aber ein Licht sichtbar, bis schließlich „Gott strahlte auf dem Gipfel der Materie, deren Ströme ihm den Geist brachten“3. Mit dieser Erfahrung wird Teilhard wohl endgültig zum einsamen Seher.

Es mag überraschend sein, dass der naturwissenschaftlich hochqualifizierte Forscher und avantgardistische theologische Denker Teilhard als Mystiker gerade von einem Herz-Jesu-Bild ausgeht, von dem viele geneigt sind, es als sehr kitschanfälliges Symbol der Christusverehrung zu sehen, und das eher das Gegenteil eines modernen Christentums zu repräsentieren scheint. Charakteristisch für Teilhards Spiritualität ist auch, dass er diese und andere mystische Erfahrungen nicht etwa während ruhiger, länger dauernder Gebetszeiten wahrnimmt, sondern oft in besonders kritischen Momenten seines Lebens, sei es im Fronteinsatz im Krieg oder auf Expeditionen. Seine Mystik lebt im sehr konkreten Alltag.

Den Begriff des „Christischen“ bildet Teilhard neu in Analogie zu Kosmos und „kosmisch“ und meint damit „die Gegenwart Christi im Universum als eine umwandelnde Gegenwart“. Mit dieser Begriffsbildung versucht er auszudrücken, dass sein Christusbild weit umfassender als jenes der traditionellen Theologie ist – Inkarnation, Eucharistie sind Elemente einer zusammengehörenden Entwicklung, in deren Verlauf der Kosmos ganz in Liebe verwandelt wird (Amorisation). So kann Teilhard einerseits von einer grundlegenden Gleichung zukünftiger Religion sprechen als „Gott über uns + Gott vor uns“ und begeistert beten: „O immer größerer Christus!“

Wesen und Bedeutung der Liebe leitet Teilhard dabei zunächst aus der Naturwissenschaft ab (nicht aus der Theologie!): In einem umfangreichen zentralen Text aus dem Jahre 1937 über die menschliche Energie beschreibt er menschliche Energie zunächst als Teil der kosmischen Energie, sieht innerhalb der menschlichen Energie die spirituelle Energie als bisher von der Wissenschaft kaum beachtet und schließt diese Argumentationskette mit der Aussage, die Liebe sei die höchste Form menschlicher Energie. Von daher wird für ihn das christliche Liebesgebot nicht bloß ein moralischer Appell, um vollkommen zu werden, sondern hat die noch viel stärkere Bedeutung: „liebt einander, sonst werdet ihr untergehen! (oder: aussterben!)“4 Die wesentlichste Botschaft des Christentums sei daher weder in der Bergpredigt noch im Zeichen des Kreuzes zu finden, sondern darin, dass sich Gott als persönliches Wesen dem Menschen als Ziel einer persönlichen Vereinigung zeige. Kommunion geht über Opfer hinaus.

Aus dieser Einsicht folgen nun praktische Konsequenzen für das spirituelle Leben: Die wohl bedeutendste Folgerung, die Teilhard aus diesen Überlegungen zieht, ist die Heiligung (Teilhard spricht sogar von „Vergöttlichung“) der Tätigkeiten, des aktiven Lebens, die er in seinem Text „Das göttliche Milieu“ darstellt. Er kritisiert die Tendenz zur Weltflucht und Weltverachtung, die er vielfach in der Tradition der christlichen Spiritualität sieht. Auch die häufige praktische Teilung des Lebens in einen weltlichen Alltags- und geistlichen Sonntags-Teil sei unbefriedigend. Ebenso lehnt Teilhard die Einstellung ab, nicht die Arbeit selbst, sondern allenfalls deren gute Intention sei wertvoll. Die Welt ist nicht nur ein Übungsfeld für den Menschen, sondern jede Anstrengung trägt dazu bei, die Welt in Christus zu vollenden. Die Schöpfung ist noch nichts Fertiges, sie geht weiter. Aufgrund der Schöpfung, wie Teilhard sie deutet, und noch mehr aufgrund der Inkarnation gibt es nichts Profanes; alles ist heilig.

Neben der Heiligung des Tätigseins gibt es aber auch die Erfahrung der Vergöttlichung des Erleidens, sei es durch Wachstum oder durch Minderung. Bei Ersterem denkt Teilhard an inneres Wachstum; er weist darauf hin, dass der Mensch deutlich mehr „empfängt“ als „macht“. In solchen Reisen in unser Inneres erleben wir oft Angst, Unsicherheit. Gerade für solche Situationen erinnert uns Teilhard an das Wort des Evangeliums: „Ich bin es, fürchtet euch nicht“ (Mt 14,27). Wenn Erleiden aber Minderung bedeutet, durch Unfälle, Rückschläge oder die Erfahrung des Bösen, so bedeutet spirituelles Leben für ihn, mit Gott gegen das Übel zu kämpfen. Hinsichtlich der stärksten Minderung aber, des Todes, sollen wir bitten zu lernen, uns im Sterben mit Gott zu vereinigen.

 

Bei den daran anschließenden Betrachtungen über den Wert der Askese fällt auf, dass Teilhard einerseits zunächst die Bedeutung der Entwicklung des inneren und äußeren Menschen betont, die Voraussetzung für ein Loslassen sei, darüber hinaus in sehr vorsichtigen Formulierungen diese Überlegungen nicht nur für den einzelnen Menschen anstellt, sondern auch Parallelen für die Kirche insgesamt sieht. Vor dem Hintergrund seiner Gesamtsicht von Menschheit und Kirche ist die innere Logik dieser Andeutung wohl nachvollziehbar: Muss vielleicht auch die Kirche insgesamt sterben, um zu leben?

Im Alter von 37 Jahren (1918) wendet sich Teilhard auch schriftlich einem gerade für ihn als Jesuit und Priester existentiell wichtigem und schwierigem Thema zu, dem Themenkreis Geschlechtlichkeit, Jungfräulichkeit, Verhältnis Mann – Frau. Er schreibt ein dichterisches Werk, in dem, ähnlich der Figur der Weisheit in der Bibel, die aus Dantes Göttlicher Komödie übernommene Figur der Beatrice als Sprecherin auftritt, die „Hymne an das Ewig Weibliche“5:

„ … alles im Universum erfolgt durch Vereinigung und Befruchtung – durch Zusammenschluss der Elemente, die zueinander suchen, paarweise verschmelzen und neugeboren werden in einem Dritten … ich bin der Zugang zum gesamthaften Herzen der Schöpfung – die Tür zur Erde – die Einweihung … wer mich behalten will, muss sich mit mir wandeln … noch immer verführe ich, aber dem Lichte zu … Gott ist es, der euch in mir erwartet … ich bin das Ewig-Weibliche.“

In seinem Alterswerk, dem 1950 entstandenen „Herz der Materie“, kommt Teilhard unter dem Titel „Das Weibliche oder das Einigende“ auf diesen Themenkreis zurück:

„Das Lebendigste des Greifbaren ist das Fleisch. Und für den Mann ist das Fleisch die Frau … Nicht mehr als auf Licht, Sauerstoff oder Vitamine kann der Mann – kein Mann – (mit einer täglich dringender werdenden Evidenz) auf das Weibliche verzichten …“6

Nicht nur theoretische Einsichten haben Teilhard zu diesen Formulierungen geführt, sondern auch die Frauen in seinem Leben. Nach seiner Mutter ist dies vor allem seine Cousine Marguerite, mit der er intensiven Kontakt und geistigen Austausch pflegt und der er auch seine mystischen Erfahrungen anvertraut. Der Kontakt mit deren Freundin und Lehrerin Léontine Zanta öffnet ihm auch die Augen für die damaligen Anliegen der Frauenbewegung, in der Léontine als erster weiblicher Doktor der Philosophie Frankreichs eine führende Rolle spielt. Die engagierte Kommunistin Ida Treat bringt ihn dazu, sich ausführlich mit dem Marxismus zu beschäftigen; nicht zuletzt in Verarbeitung dieser Diskussionen entsteht Teilhards „Göttliches Milieu“. Die Begegnung mit der Amerikanerin Lucile Swan bringt für Teilhard die Notwendigkeit, sich mit den Grenzen, die ihm als Jesuiten und Priester in der Partnerschaft mit Frauen gesetzt sind, ernstlich auseinanderzusetzen; die zeitweilige Hinwendung Luciles zum Buddhismus wird auch Anlass für ihn, sich mit den östlichen Religionen zu befassen. Die Theologin Jeanne Mortier wirkt in der Spätphase von Teilhards Leben als seine vertraute Sekretärin und bekommt testamentarisch die verantwortungsvolle Aufgabe, den schriftlichen Nachlass Teilhards vor kirchlicher Beschlagnahme zu schützen. Für Rhoda de Terra, die ihn persönlich umsorgt, erwirkt Teilhard von seinem Ordensoberen schriftlich die offizielle Erlaubnis, ihn bei seinen letzten Afrikareisen zu begleiten.

Die Einhaltung seiner Gelübde als Ordensmann und Priester bleibt ihm immer ein zentrales Anliegen, auch in Situationen, wo dies harte und schwierige Entscheidungen erfordert.

Im Weltbild Teilhards steht der Gedanke der Askese nicht als Selbstzweck, sondern als Element eines viel umfassenderen Zusammenhangs. Diesen erläutert er wiederholt in seinen Schriften, die je nach Anlass und Zusammenhang manchmal mehr in naturwissenschaftlicher, manchmal mehr in theologischer bzw. mystischer Sprache abgefasst sind. In einem Essay aus dem Jahr 1942, der in eher wissenschaftlich-formaler Sprache gehalten ist, zeigt er, wie im Rahmen eines traditionellen statischen Weltbilds der Mensch, der Gott sucht, dies am besten tut, indem er sich aus der Welt heraus („hinauf“) löst. Die Welt, die Natur (im Gegensatz zur Übernatur) ist gegeben, quasi nur Bühne. Das Schicksal der Welt und eigentlich auch der Menschheit als Ganzes ist für das Heil der einzelnen Seele nicht wirklich relevant. Das Problem bei dieser Betrachtungsweise ist, dass der Aspekt der fortdauernden Schöpfung ignoriert wird und dass nach Teilhards Ansicht auch der Bedeutung der Inkarnation nicht voll Rechnung getragen wird. Wenn man hingegen die Welt als in Entwicklung befindlich betrachtet (was offensichtlich dem Willen Gottes in seiner Schöpfung entspricht), dann führt der Weg zum individuellen Heil durch die Welt hindurch (gleichzeitig nach vorne und oben) und der Vollsinn der Inkarnation (auch im Sinne von Eph 4,9–10) wird erkannt.

Im „Göttlichen Milieu“, entstanden schon 1925–1927, weist er darauf hin, dass die klassischen Tugenden, wie auch Askese, auf ein sehr individuell gesehenes Ziel hinstreben – es geht um das Heil der einzelnen Seele. Das ist zwar zweifellos legitim, greift aber zu kurz. Unsere Bemühungen bedürfen der Ergänzung durch jene aller anderen Menschen; beim Aufbau des mystischen Leibes Christi ist die christliche Liebe Prinzip und Effekt jeder spirituellen Verbindung. Die zentralen Gebote des Evangeliums lauten daher Kommunion und Caritas, das ist auch die Quintessenz von und praktische Richtschnur für Teilhards Spiritualität.

Als Teilhard 1936 aus einem kirchenpolitischen Anlass diesen Themenkreis behandelt, argumentiert er: Die Spannungen zwischen Christentum und moderner Welt stammen aus der Entdeckung der bisher ungeahnten Dimension von Raum und Zeit, der damit entstandenen Haltung von Universalismus und Futurismus, wozu noch die Entdeckung der Evolution kommt. So stünden sich eine Religion des Himmels und eine Religion der Erde gegenüber. Wer diese Haltung der modernen Welt verdamme, werde scheitern und wende sich außerdem gegen die schöpferische Kraft Gottes. Er wolle hingegen eine Metaphysik der Evolution erarbeiten und die Christologie so ausweiten, dass unser modernes Bild des Universums darin Platz habe. Demnach sei nicht Entsagung/Entbehrung das Synonym für christliche Vollkommenheit, sondern die Forderung der Liebe Christi für den Bau einer besseren Welt.

In seinen letzten Lebensjahren zieht Teilhard mehrfach Bilanz über sein Leben und seine Bemühungen. Nicht nur das physische Alter belastet ihn, sondern vor allem auch die Erkenntnis, eine Änderung der Haltung seiner kirchlichen Oberen zu seinen Lebzeiten nicht mehr erwarten zu können. Immer wieder wird er depressiv. Er blickt zurück auf seine ersten Herz-Jesu-Betrachtungen, wo er im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen die Darstellung des strahlenden Herzens als Ausbruch aus dem gebrechlichen Leib gesehen hatte. Er denkt an Unsicherheiten seiner Jugend, wo ihm schien, er müsse zwischen Naturwissenschaft und Religion wählen. 1919 hatte er sich gefragt, warum es keine der Wahrheit geweihten Orden gäbe; es wäre an der Zeit, forschende Orden zu gründen, „die der natürlichen Wahrheit aus Leidenschaft für den Leib Christi geweiht sind“.

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