Flucht durch Schwaben

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Cap. II

Bei Tag Schlaf zu finden, kann trotz langer Wachdienste schwerfallen. Besonders heute habe ich kaum ein Auge zugetan. Verträumt stehe ich vor den Stallungen. Übermüdet und dennoch angespannt verharre ich in Gedanken an die Ereignisse des Morgens. Steht der Feind noch vor unseren Toren? Und dieses Mädchen will mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Vermutlich erschien sie mir heute Morgen nur wegen der Situation so vertraut. Denn nicht selten werde ich von den älteren Wachen als »Marcus aus dem Albgau« bezeichnet. Niemand spricht diesen Zusatz mit Verachtung oder Groll aus. Es kann aber auch niemand mehr dazu äußern. Man sagte mir einmal, dass ich als kleines Kind an eine einflussreiche Familie am Bodamansee verkauft wurde. Was mit meinen Eltern passiert ist, weiß ich nicht. Habe ich Geschwister? Ich kann mich an nichts erinnern. Ich kenne bloß Arbona und einige nahe Siedlungen. Seit ich denken kann, stand ich hier in der Küche, in den Ställen und in der Rüstkammer; zumindest bis ich alt genug war, um bei der Ausbesserung des Wassergrabens zu helfen und schließlich für den Wachdienst auf den Mauern eingesetzt wurde.

»Hey, du da, hörst du überhaupt zu? Hol dir was zu essen und mach dich dann zur nächsten Wache bereit!« Völlig überrascht blicke ich in das bärtige Gesicht eines älteren Kriegers. »Nun, was ist los?« Ich wage nicht zu widersprechen, schnalle mir meinen Sax, also mein einschneidiges Kurzschwert, um und marschiere los. Wie lange ich wohl in Gedanken dagestanden habe? »Falsche Richtung, Idiot!« Noch immer wage ich nicht, den Mund zu öffnen. Stattdessen schlage ich einen Bogen, um die Richtung zu ändern, so als ob dies von Anfang an beabsichtigt gewesen wäre. Vor mir erhebt sich eine stattliche Steinmauer, der ich folge, bis ich an eine offene Feuerstelle gelange, wo bereits einige Männer sitzen. Ich kenne jeden Winkel dieser Siedlung und seiner Festungsmauern, und doch haben mich die Ereignisse der letzten Stunden und Tage so aus der Bahn geworfen, dass ich mich beinahe verirrt hätte.

»Nimm dir eine Schale, unsere neueste Errungenschaft bringt dir gleich was zu essen«, grinst mich einer meiner Wachgefährten an. Jemand berührt meine Schulter, und ich zucke, wie vom Blitz getroffen, zusammen, drehe mich um und blicke in das Gesicht des Mädchens von heute Morgen. Ihr Gesicht erstrahlt frisch gewaschen, und ihr dunkles Haar ist zu festen Zöpfen zusammengebunden. Wunderschön. Es gelingt mir nicht, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Stattdessen schließe ich mich bald darauf meinen Kameraden für den Dienst auf den Mauern an.

Als wären meine Gedanken der Schlaflosigkeit von heute Nachmittag erhört worden, nähert sich schon nach zwei Stunden der Centenar: »Deine Wache endet heute früher, der Tribun sucht nach Männern.« Ich weiß, was das heißt. Bestimmt wieder ein Auftrag mit ungewissem Ausgang. Und dabei möchte er keinen seiner erfahrenen Krieger einsetzen. Vielmehr nutzt er den jugendlichen Ehrgeiz der Jüngeren und die Schuldgefühle der unerwünschten Neuankömmlinge. Das war’s wohl mit dem zusätzlichen Schlaf. Ich werfe einen letzten Blick in die Nacht hinaus. Der Nebel ist bereits am späten Nachmittag verschwunden und hat uns die Sicht auf ein nicht sehr weit entferntes Lager eröffnet. Seit meinem Wachantritt am frühen Abend habe ich immer wieder kleine Schwadronen zum Lager reiten sehen, beladen mit reicher Beute. Der Feind will uns wohl verhöhnen oder aber zu einer dummen Handlung verführen, indem er sich vor unseren Augen häuslich einrichtet und uns dabei zusehen lässt, wie unsere heimatliche Umgebung geplündert wird. Ich folge dem Centenar hinunter in den Hof, wo bereits drei andere Männer warten. »Holt euch was zu essen und wartet am Feuer bei der Küche, der Tribun persönlich wird euch instruieren.« Was für eine Ehre, hätte ich am liebsten geantwortet, doch möchte ich mir keinen zusätzlichen Ärger einhandeln.

Als wir uns der Feuerstelle nähern, erkenne ich schon von weitem die schlanke Gestalt des Mädchens von heute Morgen. Allzu viele Pausen werden ihr offenbar auch nicht gegönnt. Ihr Leinengewand ist um die Hüften durch eine einfache Hanfschnur tailliert. Woher sie wohl kommt? Sie schenkt mir ein kleines Lächeln, das ich jedoch nicht zu erwidern wage. Ich möchte nicht das Gesicht vor den anderen verlieren, und in der Dunkelheit hätte man es vielleicht ohnehin nicht gesehen. Von meiner Reaktion enttäuscht, füllt sie erst die Schalen der anderen, dann die meine auf.

»Tribun!«

Wir erheben uns alle, doch der Tribun weist uns per Handzeichen auf unsere Plätze zurück und kommt ohne Umschweife zum Punkt: »Noch halten wir sie uns vom Leib. Und ich weiß, dass wir das auch weiterhin können. Doch dafür brauchen wir zwei Dinge: Vorräte und Informationen. Der Landweg ist versperrt, doch können wir uns immer noch über den See bewegen. Steigt heute Nacht hinab zum Ufer und bereitet ein Boot vor. Bei der ersten Dämmerung brecht ihr auf über den See nach Wazzarburg. Obwohl unsere Feinde jenen Ort vor uns erreicht haben, konnten wir bisher weder Rauch noch Flüchtlinge ausmachen. Der Abt des Gallusklosters scheint seine Leute dort gut ausgestattet zu haben. Findet heraus, was im nördlichen Teil Alemanniens vor sich geht und ob schon bald Hilfe naht. Und bringt ja Vorräte mit.«

Der Tribun möchte sich gerade umdrehen, da beginnt einer meiner Kameraden: »Wird uns denn nicht unser Herzog zu Hilfe eilen?«

Der Tribun spuckt verächtlich aus und fügt hinzu: »Unser selbst ernannter Landesherr führt noch immer seinen nutzlosen Krieg in Italia. Selbst wenn ihn Kunde von unserem Schicksal ereilt, wird er es unmöglich rechtzeitig hierher schaffen. Viel Glück euch allen.« Er dreht sich um und stapft davon.

Natürlich hatte er recht. Das Gros der kampffähigen Männer aus allen Teilen der Alemannia hatte vor vielen Tagen und Wochen dem Herzog Heeresfolge geleistet. Im Bestreben, seinen Einflussbereich weiter nach Süden zu vergrößern, war dieser zusammen mit seinem burgundischen Schwiegersohn nach Italia gezogen. Kaum waren die meisten Verbände in Richtung Alpes abgezogen, ereilten uns die ersten unheimlichen Nachrichten von Sichtungen fremdartiger Reiter. Ausgerechnet in der größten Not bleibt die lokale Bevölkerung ihrem eigenen Schicksal überlassen. Ohne Krieger und ohne Festungen. Einzige Ausnahmen bleiben jene Befestigungen, die noch aus alter Zeit stammen, wie eben unser Arbona.

»Was, wenn wir stattdessen nach Constantia segeln?«

»Viel zu weit weg.«

Ich erwache aus meinen Gedanken und lausche der neu entbrannten Diskussion unter meinen Gefährten.

»Außerdem ist es ein direkter Befehl des Tribuns. Und der Bischof wird uns ohnehin nicht helfen. Seit er die noch verbliebenen Krieger zu sich gerufen hat, soll er sich hinter seinen Mauern verstecken.«

»Also wie ihr?«, höre ich aus der anderen Ecke eine sanfte, jedoch zugleich beherzte Stimme antworten. Das Mädchen hatte uns offenbar die ganze Zeit belauscht.

»Was weißt du schon? Wegen dir und deinen Freunden sind wir doch erst in dieser Situation! Wir öffnen gnädig unsere Tore, und ihr fresst uns die letzten Vorräte weg«, gibt Strello, einer der Gefährten unserer Mission, wutentbrannt zurück.

»Was ist aus unserer christlichen Nächstenliebe geworden«, schalte ich mich dazwischen, »wenn wir nicht einmal mehr unseren Nachbarn helfen? Diesem Feind müssen wir alle geschlossen entgegentreten. Und wir alle leisten unseren Teil auf eine andere Art und Weise.«

Statt Dankbarkeit erhalte ich seitens des Mädchens jedoch nur ein schnippisches Schnauben: »Ach, du meinst, ich könne also glücklich sein, in der Küche untergekommen zu sein?« Nun lachen die anderen und machen sich auf etwas Unterhaltung gefasst. »Ich weiß durchaus, ein Schwert zu führen«, setzt sie zum zweiten Stoß an, »und wenn ihr’s wissen wollt, Wazzarburg ist bei Weitem nicht so gut ausgestattet, wie ihr alle zu wissen glaubt. Ich wollte erst dort Schutz suchen, doch wurde ich von den Mönchen abgewiesen. Entweder, sie leiden bereits seit Tagen Hunger, oder sie zeigen ebenso wenig Nächstenliebe wie ihr.« Das Mädchen wirft nun Strello einen strengen Blick zu und fährt fort: »Der Abt des Gallusklosters hat in seiner unendlichen Weisheit alle wehrlosen Greise und Knaben nach Wazzarburg geschickt, während er seine wertlosen Bücher bei den Mönchen in Augia in Sicherheit gebracht hat. Auf jener großen Insel hätten sowohl mehr Menschen als auch mehr Vorräte Platz gefunden.«

»Woher weißt du das alles?«, möchte ich von ihr wissen.

Sie zieht ihre Augenbrauen hoch und will gerade zu einer Antwort ansetzen, als sie von meinem Nebenmann Sindolt unterbrochen wird: »Wie eine Spionin sieht sie jedenfalls nicht aus.«

Verärgert will sie sich von unserer Gruppe wegdrehen, wird jedoch sogleich von Strello am Arm zurückgezogen: »Nein, im Ernst, warum sollten wir dir vertrauen? Woher weißt du das alles? Wir kennen nicht einmal deinen Namen.«

Widerwillig beginnt sie zu sprechen: »Man nennt mich Anna. Bis vor wenigen Tagen war ich noch als Magd des Praeses Wolfbert in Puachhorn tätig. Da konnte ich so manche Unterhaltung der Dienstboten des Gallusklosters belauschen. Vor Wochen ist mein Herr jedoch dem Ruf unseres Herzogs Burchard gefolgt. So musste ich auf eigene Faust fliehen, als sich die Schreckensnachrichten von fremden Reiterhorden verdichteten und aus der Ferne bereits die ersten Rauchsäulen zu sehen waren.«

»Sie sollte uns bei Sonnenaufgang begleiten«, meldet sich nun erstmals Milo, der älteste von uns vieren zu Wort. »Das Mädchen kennt sich am nördlichen Ufer besser aus als wir, und als ehemalige Magd des Wolfbert dürfte sie dem einen oder anderen Wortführer bekannt sein.«

»Ist das nicht zu riskant für sie?«, werfe ich ein.

»Gefährlicher als hier?«, entgegnet Anna.

 

Innerlich muss ich ihr recht geben. Zudem möchte ich ihre Nähe nicht mehr missen.

»Also ist es beschlossen«, folgert Milo. »Wir fünf brechen beim ersten Anzeichen der Dämmerung auf. Sindolt, Strello, bringt einige Vorräte hinunter zum Boot. Ich melde dem Centenar unsere neue Ausgangslage und folge euch nach.« Er wendet sich an uns: »Wir sehen uns gleich außerhalb der Mauern, seid bloß leise.«

Während die drei sich entfernen, bleiben Anna und ich zurück und schweigen noch kurze Zeit das Feuer an. »Hat dich dein Weg schon früher einmal nach Arbona geführt?«, setze ich schließlich zum Gespräch an.

»Ich glaube nicht«, flüstert Anna sehr knapp und in Gedanken versunken vor sich hin.

Um die peinliche Stille zu durchbrechen, nicke ich ihr zu und tue so, als müsste ich mir noch meine Sachen aus den Stallungen holen. Trotz meines kleinen Umwegs laufen wir uns jedoch kurze Zeit später wieder über den Weg. Mit einem kurzen Seitenblick auf meine bescheidene Ausrüstung, der ich offensichtlich nichts hinzugefügt habe, machen wir uns schweigend auf zur Mauer. Wir erreichen das plätschernde Ufer über eine kleine verbarrikadierte Öffnung in einem zusammengefallenen Halbrundturm an der nördlichen Festungsmauer. Dort warten bereits unsere Gefährten ungeduldig auf die Morgendämmerung. Wir hatten schon seit Längerem nichts mehr von den anderen Siedlungen am Bodamansee gehört. So waren viele der hiesigen Wachmannschaft über den Verbleib von Freunden und Verwandten im Unklaren. Und viele schlossen aus den täglich näherkommenden Rauchsäulen am Horizont schon länger auf das eigene Schicksal. Doch wir werden uns nicht kampflos ergeben. Wir nehmen es selbst in die Hand.

»Marcus und Strello, ihr übernehmt die Ruder. Machen wir uns bereit zum Aufbruch.« Milo verstaut die Vorräte im hinteren Teil des Bootes und heißt uns, über die Bordwand zu steigen.

Am Horizont erscheint ein dünner Streifen Licht. Milo stößt uns vom Ufer ab, und unser Boot gleitet in den endlos wirkenden See hinaus, während Strello und ich unsere Ruder im Einklang durchs schwarze Wasser ziehen. Wir entdecken am Ufer jenseits des Wassergrabens zahlreiche Lagerfeuer und können davor die Schatten vereinzelter Krieger wahrnehmen. Die Fackeln von Arbona werden hinter uns immer kleiner. Milo steht am Bug und versucht angestrengt, in der Dunkelheit potenzielle Gefahren auszumachen. Sindolt summt leise ein Lied in die kühle Morgenluft hinaus; so als wollte er den See günstig stimmen. Und das Gewässer ist uns diesen Morgen tatsächlich geneigt. Eine leichte Brise kommt auf, und wenige Momente später befiehlt Milo schon das Aufziehen des kleinen Segels. Wir legen die Ruder zu unseren Füssen nieder und überlassen dem Wind die Arbeit.

Das Morgenlicht reicht nun aus, um die Hügelkette am gegenüberliegenden Ufer zu erkennen, als Milo zu erzählen beginnt: »Ich war in deinem Alter, Marcus, als ich das erste Mal im Auftrag meines Herrn den See überquert habe. Wir fanden uns damals in Steinaun ein, nicht weit von Arbona entfernt. Obwohl erst seit Kurzem schwurberechtigt, war mir die Ehre zuteil geworden, als einer von über einem Dutzend Männern an der Seite des großen Grafen Burchard eine feierliche Landschenkung mit zu bezeugen. Ich werde den Tag nie vergessen.«

»Ihr meint doch nicht etwa dieses diebische Stück Scheiße?«, fährt ihm Strello dazwischen.

»Ich spreche von seinem Vater. Niemand hätte gedacht, dass sein Sohn diesen Weg einschlagen würde.«

»Während der Rebellion, auf wessen Seite standet Ihr damals?«, unterbricht ihn Strello ein zweites Mal.

»Es gab keine Seiten, kein Richtig oder Falsch«, gibt Milo verärgert zurück. »Man hatte den älteren Burchard beschuldigt, er wolle die alte Herzogswürde erlangen. Als hätte er dies nötig gehabt. Salomo, der machthungrige Bischof von Konstanz, schaffte es, geschickt gegen Burchards Familie zu intrigieren. Als Abt des Gallusklosters und Erzkanzler träufelte er mit seiner spitzen Zunge stetig Gift in des Königs Ohr. Am Ende fiel der ältere Burchard einem Mordanschlag zum Opfer, und beinahe seine ganze Sippe wurde gejagt und getötet. Einzig sein gleichnamiger Sohn konnte nach Italia fliehen. Unsere Hoffnung ruhte ausnahmslos auf ihm. Niemand hätte erwartet, dass seine von uns so ersehnte Rückkehr einen derartigen Bruderkrieg auslösen würde. Und auch wenn man es ihm nicht verübeln kann, nach allem was seiner Familie widerfahren ist, so hätte ich doch nicht mit einem solch rigorosen Handeln durch den jüngeren Burchard gerechnet. Nach seinen militärischen Siegen über Salomo und den König wurde das, was selbst für ihn undenkbar schien, schließlich Wirklichkeit. Noch auf dem Schlachtfeld erhob ihn die alemannische Kriegerelite zu ihrem Herzog. Seither haben sich die Machtverhältnisse drastisch verändert. Sein Vater hätte den Ungrern ein geeintes alemannisches Heer entgegengeworfen. Er hätte sich niemals mit den verräterischen Burgundern verbündet. Und«, Milo seufzt, »sein Vater hätte die Alemannia nie in solcher Not im Stich gelassen. Es gibt niemanden mehr, der genügend Mut aufbringt, sich diesen Horden entgegenzustellen. Denn selbst jene, die das könnten, verstecken sich lieber hinter ihren Mauern.« Und als würde Milo erneut eine Entgegnung von Anna erwarten, fügt er hinzu: »Wir sind einfach zu wenige.«

Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, als das nördliche Ufer des Sees in unmittelbare Nähe rückt. »Nun müssen wir dem Ufer in östlicher Richtung folgen. So können wir Wazzarburg nicht verfehlen.« Wir lassen unsere Blicke nach Osten schweifen und sehen dort in der Ferne eine dichte schwarze Rauchwolke aufsteigen. Wazzarburg ist gefallen.

Cap. III

Donnerstag, 27. April 926

»Legt euch in die Riemen! Wir steuern direkt drauf zu«, ruft uns Milo zu. Wir nähern uns den zahlreichen Booten, die zuvor das vom Rauch eingehüllte Wazzarburg verlassen hatten. Selbst wenn oder gerade weil diese äbtische Bastion am Bodamansee gefallen war, müssen wir von den Leuten des Abtes mehr erfahren. Offenbar waren vor dem Eintreffen der Ungrer sämtliche Boote der Umgebung zusammengezogen worden, denn vor uns lag mittlerweile eine regelrechte Flottille. Als wir uns einem der größeren Boote nähern, hebt Milo mit gestrecktem Arm die Hand zum Gruß: »Wir kommen als Freunde! Benötigt Ihr Hilfe?« Was für eine schöne Art und Weise, zu verbergen, dass man eigentlich selbst der Hilfe bedarf.

»Wer seid Ihr?« Ein großgewachsener älterer Mann in Mönchskutte steht am Bug des angesteuerten Bootes und beschwichtigt mit einer kurzen Handbewegung seine mit Bogen bewaffneten Begleiter.

Milo senkt unmerklich den Kopf zum Gruß: »Ich bin Milo, Abgesandter des Tribuns von Arbona und überbringe Euch die Grüße meines Herrn.« Wir hören auf zu rudern, holen das Segel ein und treiben langsam auf das Boot des Mönchs zu. »Wie haben sie Eure Mauern überwunden? Habt Ihr viele Opfer zu beklagen?«

Grinsend mustert uns der Mönch reihum: »Bislang hat keiner dieser Teufel unsere Insel lebend erreicht. Und es sind auch noch keine Opfer zu beklagen.« Anna schaut finster in die Richtung des Mönchs, Milo mahnt sie mit einem scharfen Blick, nun bloß keine Geschichten aufzurollen.

»Aber Wazzarburg steht in Flammen!«, spricht Milo das Offensichtliche aus.

Den Mönch scheint dies nicht zu kümmern: »Das soll es auch.«

»Wie bitte?«

»Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der Feind eine Möglichkeit gefunden hätte, uns trotz des kleinen Streifens Sees zwischen ihm und der Insel des heiligen Georg zu erreichen. Unser Herr Abt hat uns die Alten, Kranken und Jungen geschickt, um sie in Sicherheit zu wissen. All jene, die außerstande wären, zu kämpfen. Unsere einzige Aufgabe ist es, am Leben zu bleiben, bis alles vorbei ist. Den Brand haben wir gelegt, um den Anschein zu erwecken, dass alles, was an Wert zu holen wäre, bereits verbrannt ist. Außerdem ist diese Rauchsäule überall an den Ufern des Bodamansees zu sehen. Damit sind alle gewarnt. Sobald sie weitergezogen sind, kehren wir zurück.«

»Das ist Wahnsinn«, setzt Milo zu einer Entgegnung an, wird aber vom Mönch mit strengem Blick zum Schweigen gebracht.

»Weder brauchen wir Eure Hilfe noch können wir Euch welche beikommen lassen. Unsere Vorräte reichen gerade mal für uns.« Wie erwartet, hat er Milos Heuchelei von Beginn an durchschaut.

Wir lassen die Flottille an Flüchtlingsbooten hinter uns und bewegen uns das nördliche Ufer entlang. »Vielleicht finden wir woanders Hilfe«, erklärt sich Milo.

»Wenn die Ungrer bereits in Arbona sind, zeigt das, dass sie bereits den Rîn überschritten haben. Bestimmt sind sie schon bis nach Constantia vorgedrungen. Wir sollten umdrehen.« Milo lauscht meinem Vorschlag, geht jedoch nicht darauf ein.

»Ich gebe dem Jungen recht«, hören wir plötzlich Sindolts Stimme. »Das Ufer des Bodamansees ist verloren, und die Bewohner der Inseln sind zu sehr auf ihre Vorräte angewiesen. Viel Erfolg versprechender wäre es, weiter im Landesinneren nach Hilfe zu suchen.«

»Sprich!«, ermutigt ihn Milo nun etwas aufmerksamer.

»Nun, hat der Mönch nicht davon gesprochen, dass lediglich die nicht Kampffähigen evakuiert wurden? Das würde bedeuten, dass der Abt des heiligen Gallus trotz Burchards Feldzug über einige Kämpfer verfügt. Vielleicht sollten wir ihn besser direkt um Hilfe bitten, als bei seinen Untergebenen zu hausieren.« Sindolts Vorschlag scheint Gehör gefunden zu haben, sodass Milo das Ruder herumreißt und Kurs auf Arbona nimmt.

»Euch ist schon klar«, kommt es nun gehässig von Strello, »dass wir eine erneute Erkundungsfahrt vergessen können, wenn wir bei Tag in Arbona anlegen und den Ungrern somit unser Boot zeigen?« Milo entschließt sich, etwas westlich von Arbona auf die Nacht zu warten.

Auch wenn ich Strello ebenfalls recht geben muss, fühle ich bei der ganzen Sache ein unerklärliches Unbehagen. Strello verbessert diesen Umstand zudem nicht gerade. Seit er durch Milo bestätigt wurde, hört er nicht mehr auf zu reden. Ich wünsche mir unsere ruhige morgendliche Überfahrt zurück. Bestärkt durch unser Schweigen werden seine Kommentare immer gehässiger, und schließlich erklärt er, wie froh er sei, dass wir nicht auch noch auf die Idee gekommen seien, die Flüchtlinge aus Wazzarburg nach Arbona einzuladen: »Wir haben schon genügend Fremdlinge aufgenommen, die uns das letzte Brot wegessen, als dass wir noch weitere Schmarotzer bräuchten.« Ohne Umschweife blickt er dabei Anna direkt ins Gesicht.

»Nun ist es aber genug«, bringt ihn Milo endlich zum Schweigen. »Du darfst gerne zurück nach Arbona schwimmen.« Die weitere Zeit verbringen wir schweigend. Am späteren Nachmittag legen wir westlich von Arbona an. »Nehmt nur das Nötigste vom Boot, wir werden weiterfahren, sobald die Nacht hereinbricht«, gibt Milo eine kurze Anweisung.

»Hast du gehört? Nur das Nötigste!«, blafft Strello Anna an, die sich beim Aussteigen eine wärmende Decke geschnappt hat.

»Noch ein Wort, Strello, und ich schicke dich hier und jetzt ohne jegliche Ausrüstung auf den Weg zum Kloster des heiligen Gallus«, knurrt Milo. Das wäre nicht einmal die dümmste Idee. Bestimmt wäre es von hier aus einfacher, unbemerkt durch die feindlichen Linien zu kommen, als vom belagerten Arbona aus. Mit meinem Sax bewaffnet und einem Stück Brot in der Hand setze ich mich in Annas Nähe. Ich habe das Gefühl, sie beschützen zu müssen, selbst wenn es gegen meine eigenen Leute ist. Unsere drei Gefährten stehen währenddessen direkt am Ufer, und ich vernehme den unzufriedenen Tonfall Strellos, Milos Ärger darüber und einen schlichtenden Sindolt dazwischen. Sollte ich mich ebenfalls einmischen und die drei daran erinnern, wie wichtig im jetzigen Moment absolute Ruhe ist? Ich setze mich näher zu Anna und möchte gerade einen Spruch loswerden, um die Situation etwas aufzulockern.

Doch Anna stößt mich mit voller Kraft zur Seite und schreit: »Achtung!« Ich stürze zu Boden und höre knapp hinter mir das dumpfe Geräusch von Metall auf Holz. Wir waren mitten in eine Gruppe ungrischer Späher geraten. In letzter Sekunde hatte mich Anna zur Seite gestoßen und dabei geistesgegenwärtig meinen blanken Sax an sich gerissen. Dadurch hatte der Angreifer ins Leere geschlagen, während Anna blitzschnell reagiert und ihm meinen Sax zwischen die Rippen gestoßen hat. Der Todesschrei des fremdartigen Kriegers vermag allerdings kaum das Schreien zu überdecken, welches fast gleichzeitig vom Ufer ertönt. Ich sehe, wie Sindolt den schwer verletzten Milo über einen gefallenen Ungrer ins Boot hievt, während Strello einem weiteren Feind den Gnadenstoß versetzt.

»Schnell zum Boot!«, rufe ich Anna zu, die den Sax inzwischen wieder frei bekommen hat. Doch stürmt bereits ein weiterer dieser Teufel auf uns zu. Ich kriege gerade noch einen dicken Ast zu greifen, um ihn auf Distanz zu halten. Anna steht dicht an meiner Seite und hält ihm herausfordernd die vom Blut seines Kameraden tropfende Schwertklinge entgegen. Von rasender Wut ergriffen, wagt er einen Schritt nach vorn, doch zertrennt im selben Augenblick die Klinge einer Axt Muskeln und Sehnen seiner Schulter und zertrümmert den Knochen des Schlüsselbeins. Hinter dem zusammensackenden Krieger erscheint Sindolts triumphierendes Gesicht, das sich jedoch fast im gleichen Moment zu einer schmerzerfüllten Fratze verzerrt. Von einem Pfeil getroffen sinkt er zu Boden. Während Anna dem Ungrer den Gnadenstoß versetzt, werfe ich einen Blick ins umliegende Dickicht und sehe den Schützen im Wald verschwinden. »Bestimmt warnt er seine Leute. Wir müssen hier weg!« Ich packe Anna am Arm und möchte zum Boot eilen, doch liegt dieses längst nicht mehr am Ufer. Um seine eigene Haut zu retten, hat sich Strello vom Ufer abgestoßen und ist für uns bereits unerreichbar.

 

Auf unsere Rufe reagiert er lediglich mit einem selbstzufriedenen Winken und dem Satz: »Das Boot war ohnehin zu voll«.

»Dieser Bastard!«

»Hoffentlich hat es immerhin Milo geschafft«, flüstert mir Anna zu, wischt die Klinge an der Kleidung ihres letzten Opfers ab und beobachtet, wie der Verräter in den See hinaus rudert. Sie reicht mir den Sax und packt die wenigen zurückgelassenen Sachen zusammen.

Wir durchstreifen den Wald im Hinterland von Arbona, kommen in der zunehmenden Dunkelheit aber nur sehr schwer voran. Schließlich geben wir auf und machen es uns in besonders dichtem Buschwerk für die Nacht bequem. Im morgendlichen Licht werden wir hoffentlich besser vorankommen. Und vielleicht suchen sie dann nicht mehr nach uns. »Wie kommen wir morgen bloß nach Arbona?«, überlege ich laut.

»Nach all dem möchtest du wirklich dahin zurück?« Ich denke über Annas Frage nach und vermag, keine Antwort zu finden. »Besser, wir schlagen uns allein durch und suchen die Krieger des heiligen Gallus.«

Darauf entgegne ich: »Aber im Wald wird es doch ebenso von Spähern wimmeln.«

»Dann müssen wir eben auf der Hut sein. Außerdem konnten wir uns vorhin doch ganz gut gegenseitig beschützen.«

Damit habe ich meine Antwort. »Einverstanden.« Ich würde nicht von ihrer Seite weichen. Zusammen sehen unsere Überlebenschancen gar nicht so schlecht aus.

Wir sitzen nah beieinander. Anna hat die Decke vom Boot über uns geworfen, und so warten wir auf die vollkommene Dunkelheit. Damit erübrigt sich auch das abwechselnde Wache halten. Wer würde uns im dunklen Wald schon finden? »Ich bin dir noch immer eine Antwort schuldig«, spricht Anna leise.

»Eine Antwort worauf?«, frage ich ehrlich verwundert.

Anna fährt fort: »Ich war, soweit ich mich erinnern kann, nie in Arbona, aber ich scheine dir vertrauen zu können, als wären wir uns schon einmal begegnet. In deiner Nähe fühle ich mich sicher.«

»Mir geht es genauso«, stimme ich ihr zu, »und dies nicht nur, weil du mich heute vor dem sicheren Tod bewahrt hast. Ich schulde dir etwas.«

»Woher kommst du? Und sag jetzt bloß nicht Arbona. Ich weiß selbst, wo ich dich gefunden habe«, setzt Anna belustigt nach und ignoriert damit besonders meinen letzten Satz ganz geschickt.

»Du wirst es mir nicht glauben, aber ich weiß es nicht. Ich kann dir weder sagen, woher ich komme, noch wer meine Eltern sind«, versuche ich meine wirren Gedanken zu ordnen. »Ich kann mich bloß an Arbona erinnern. Man nannte mich aber auch einmal ›Marcus aus dem Albgau‹. Damit konnte ich noch weniger anfangen.« Wir schweigen uns an. Nun hält sie mich wohl endgültig für verrückt.

Doch dann beginnt Anna zu erzählen: »Es ist wohl einfach zu viel passiert in den letzten Tagen. Meine Erinnerungen sind wie von einem dunklen Schatten überzogen.«

»Und deine Geschichte als Magd des Wolfbert?«, frage ich vorsichtig.

Anna möchte antworten, hält dann kurz inne und versucht es erneut: »Nicht alles war erfunden.« Dachte ich es mir doch. »Tatsächlich verbrachte ich einige Zeit am Hof des Wolfbert, doch ist alles, was vorher passierte, nicht von Belang.« Ich beobachte sie stirnrunzelnd. Schließlich ringt sie sich zu einer Erklärung durch: »Meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Stattdessen wuchs ich am Hof eines Bauern des Wolfbert auf.« Anna hält kurz inne. Ihr tiefes Schlucken und die bebenden Lippen lassen nichts Gutes erahnen. »Der Kampf um die Herzogsherrschaft über die Alemannia hat viel Tod und Verderben über uns gebracht.« Ich blicke schweigend auf meine Füße. »Wenn wir morgen überhaupt eine Chance auf Rettung durch das Galluskloster erhoffen möchten, sollten wir jetzt schlafen«, beendet Anna unser Gespräch. Sie dreht sich leicht mit dem Rücken zu mir, sodass ich nicht anders kann, als meinen Arm um sie zu legen. Für einen kurzen Augenblick vergesse ich die Gefahr und bin einfach nur froh, dass das Schicksal uns zusammengeführt hat. Gemeinsam schlafen wir ein.