Passion Laufen

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KAPITEL 2 / STARTLINIE

IL CAMPIONE: MARCO OLMO

Endlich geht es los. Meine Bahnstation unten im Tal morgens um 5.30 Uhr. Der Bahnsteig, von dem aus ich fast alle meine weiten Reisen gestartet habe. Vertraute Wege am ICE und anschließend am Flughafen. Latente Aufregung, wie beim Start zu einem großen Rennen irgendwo in der Welt. Ich habe eine Verabredung mit Marco Olmo in Mailand.

Marco ist mein persönlicher Hero. Ich habe es gar nicht so mit Vorbildern, hatte aber immer einen Riesenrespekt vor Lebensleistungen. Während meiner Zivildienstzeit habe ich viele alte Menschen kennengelernt. Einige habe ich über den mobilen sozialen Hilfsdienst zuhause unterstützt, andere wiederum im Heim intensiv gepflegt. Es geht hier nicht um die Umstände, in denen sie lebten, aber ihre Geschichten haben mich sehr interessiert. Bestürzend, berührend, erschreckend, aber oftmals erzählten die Geschichten der Menschen auch von der Kraft und Energie, mit der die Menschen gelebt haben. Manchmal war aber auch gar nichts da außer Geringschätzung über das eigene Leben – und Resignation. Es hat mich anfangs sehr verwirrt. Bald habe ich aber gemerkt, dass ich mich über jede steinalte Oma freute, die noch mit dem Bus in die Stadt fuhr, um ihre Besorgungen zu machen. Dieser Respekt begleitet mich schon ein Leben lang. Es geht nicht um Medaillen und Rekorde, sondern um den Wunsch, aus seinem Leben etwas zu machen.

Ich treffe Marco Omo das erste Mal beim Marathon des Sables (MdS) 2007. Es ist mein erstes großes Wüstenrennen. Am Ende des Rennens gibt es auf der Terrasse einer großen Hotelanlage in Zagora die gemeinsame Siegerehrung. Lahcen Ahansal gewinnt, sein Bruder Mohamad Ahansal belegt Platz zwei. Kurz darauf kommt es zur Siegerehrung der Altersklassen. Volker Voss, der bei den deutschen Teilnehmern so etwas was wie ein Urgestein des MdS ist, macht mich schon vor der Ehrung auf Marco Olmo aufmerksam. Ein großer, hagerer Läufer, er steht zurückhaltend, fast ein wenig schüchtern, zwischen den hunderten von Läufern aus aller Welt. Als er aufgerufen wird als Gewinner der Altersklasse 50–60 gibt es den größten Applaus des Tages. Viele Läufer erheben sich von den Stühlen. »Bravo! Marco, Bravo!«, hört man sie von allen Seiten rufen. Er hat mit 59 Jahren Platz 9 in der Gesamtwertung beim MdS belegt und die AK gewonnen. Sein Ansehen innerhalb der Szene begründet sich natürlich in seiner Leistung, aber andere haben auch große Rennen gewonnen. Seine Zurückhaltung, sein freundliches Auftreten, das wirkt fast scheu, aber genau diese Haltung macht ihn vielen Menschen sympathisch. Wenn es dir gelingt, einen seiner »Augenblicke« einzufangen, dann ist dieser glasklar, ganz fest und direkt aus seinen sehr blauen Augen. Stolz und Bescheidenheit – zwei Eigenschaften, die nicht immer und von allen als Talent gesehen werden. Zwei Eigenschaften, die sich aber noch seltener in einem Menschen einfinden, um sich zu einer besonderen Charaktereigenschaft zu entwickeln. Es ist ganz schwer zu erklären, was Marcos Faszination ausmacht. Tatsache ist, dass die Läufer keine Erklärungen benötigen, um zu erkennen, dass hier ein ganz Besonderer vor ihnen steht. Ich würde gern mit ihm reden an diesem Nachmittag in Zagora. Ich bin fasziniert und neugierig, aber schüchtern genug, um diesen zurückhaltenden Mann nicht zu stören. Ich beobachte ihn seit dieser Zeit. Ich lese über ihn und von ihm. Im Jahr 2010 kommt eine DVD heraus mit dem Titel Il Corridore. Das gleichnamige Buch erscheint 2012. Da ich zu dieser Zeit nur zehn Worte Italienisch kann, denke ich viele Jahre der Film heißt Der Korridor. Im Sinne von »Weg«, »Flur«, »Tunnel« – hat man ja schon mal als Läufer. Gefühlt bin ich jedenfalls der erste in Deutschland, der den Film Der Läufer sieht. Bis heute mein Lieblingswerk über das Laufen. Vollkommen unspektakulär im Gegensatz zu heutigen High-End-Produktionen.


Marco Olmo: The Legend.

DER GRÖSSTE TRIUMPH. ODER: WIE MARCO OLMO DIE ZEIT STILLSTEHEN LIESS

Zahlreiche Szenen, ohne viele Worte. Trocken. Schlechtes Wetter. Gutes Wetter. Atmosphärisch. Über das Leben. Die Höhen und die Tiefen. Valley deep – Mountain high. Bergläufer halt. Ich finde ja seit jeher, dass das Unspektakuläre dem Laufen sehr gut steht – auch den Läufern. Man kann ihnen viele verrückte Dinge nachsagen, aber es sind anständige Leute.

Im gleichen Jahr startet Marco Olmo beim Ultra-Trail du Montblanc (UTMB) über die Strecke von 165 km mit 9.000 positiven Höhenmetern. Ein Lauf der Superlative: eine vollständige, durch drei Länder (Frankreich, Italien und die Schweiz) führende Runde um das Montblanc-Massiv – sieben Täler, 71 Gletscher, 400 Gipfel. Und Marco Olmo wird kurz vor seinem 59. Geburtstag Weltmeister beim Ultra-Trail du Montblanc.

Damals sieht der Gewinn dieses Titels für mich so aus, als könnte Marco die Zeit stillstehen lassen. Als gäbe es eine reelle Chance, die Lebenszeit, den Prozess des Älterwerdens, in die Irre zu führen. Er wird Weltmeister – nicht nur in seiner Altersklasse, sondern im Gesamtklassement. Der Zweitplatzierte ist eine knappe Stunde langsamer und fast zwanzig Jahre jünger. Leute! Wir sprechen nicht von Dart oder Dressurreiten. Weltmeister im Laufen, mit knapp 59 Jahren auf einer der schwersten Strecken überhaupt. Mein Respekt – unser Respekt – dafür ist zeit- und grenzenlos.

Bevor wir unser Treffen in Mailand angehen wollten, war ein Besuch zuhause bei ihm und seiner Frau Renata in den Alpen geplant. Allerdings hatte mich eine ausdauernde Lungenentzündung und in der Nacht vorm Abflug zusätzlich ein Norovirus so aus den Latschen gehauen, dass nix mehr ging. War ich vorher durch die Lungenentzündung etwas matschig, hatte der Virus meinen Aggregatzustand endgültig Richtung Ursuppe verschoben. Mein Hirn funktionierte nur noch nach ausdrücklicher Aufforderung. Das sind die Tage, an denen ich mich diebisch freue, wenn ich ein Zimmer betrete und noch weiß, was ich eigentlich da will. Ich versuchte alles und war morgens noch ganz früh beim Doc, aber auf dem Weg dorthin hatte ich schon gemerkt, dass selbst Autofahren grenzwertig ist. In Italien hätte ich vom Flughafen Turin noch 200 km mit dem Wagen in die Berge fahren müssen. Das war einfach kein guter Plan. In meinen Überlegungen, wie man mit Norovirus am besten fliegt – außer am besten natürlich gar nicht –, hatte ich grundsätzlich den obligatorischen Spuckbeutel oder auch die Kotztüte im Flieger einkalkuliert. Mein Arzt Doktor Maylahn klärt mich aber über zwei Dinge auf: »Tut man nicht in Ihrem Zustand, und wenn es ein unruhiger Flug wird, müssen sie aus Sicherheitsgründen angeschnallt auf ihrem Sitz bleiben. Das setzen die Flugbegleiter gegebenenfalls physisch durch.« Okay! Beim Norovirus liegen die Wörter Überfall und Durchfall eng beieinander und erfordern schnelles Handeln. Soweit hatte ich noch nicht gedacht, und wir wollen hier nicht weiter »ausmalen«, was da in dem Sitz hätte passieren können.

Somit komme ich eine Woche später zu unserem Treffen nach Mailand. Paolo Zubani – der italienische Repräsentant des Marathon des Sables – ist seit 20 Jahren ein sehr guter Freund von Marco und dolmetscht, da meine mittlerweile 20 Worte Italienisch nicht reichen werden. Paolo ist selbst ein alter Hase und startet dieses Jahr zum 29. Mal beim MdS. Er weiß fast alles über Marco. Das ist gut, beim Gespräch wird das noch hilfreich sein, da Marco ein ehrenwerter, großer Mann der Berge, des Laufens ist, aber auch ein Gentleman, der manchmal gar nicht so gern und wenig über sich spricht. Das ist ein feiner Charakterzug. Macht ein Interview oder ein Gespräch im ersten Moment jedoch nicht einfacher.

Paolo verspätet sich. Das macht nichts. Als ich ankomme und Marco treffe, ist es wie immer. Er steht da vor dem riesigen Hauptbahnhof und wir begrüßen uns. Nur dass wir uns noch nie getroffen haben, wenn man mein Beobachten aus der Ferne in Zagora mal außen vor lässt. Aber es ist alles ganz vertraut. Das passiert gern unter Läufern. Hatte ich mit Jan Fitschen genauso. Man kennt sich nicht und man kommt sich vor, als hätte man sich nur ein paar Wochen nicht gesehen. Etwas aufgeregt bin ich allerdings schon, was man daran merkt, dass ich sofort losplappere. »Ciao – come stai? Bel tempo – a freddo!« Blieben meinerseits noch 13 Wörter über, die ich dann auch schnell verbraucht hatte. Mein Wortschatz war aufgebraucht und ich befreit. Wir verstanden uns von nun an prächtig. Ist mir ja immer sehr unangenehm, wenn ich eine Sprache nicht kann. Dann lieber vollkommen wild mit Händen und Füßen, mit Draufzeigen oder internationalen Wörtern und Gesten. Kauen für Hunger, Mittelfinger für die Politik etc., und wenn gar nix mehr geht, stelle ich fest, dass einige Worte aus meinem Lateinwortschatz helfen. Ich kann mir ja nix merken – aber manchmal den totalen Schwachsinn wie z.B. Lateinvokabeln von vor 40 Jahren. Beim Gespräch über Lieblingstiere wird mir zwei Stunden später das englische Wort für Esel fehlen. Das Lateinische habe ich aber gerade parat: Asinus. Wurde sofort verstanden, und wir kommen überein, dass Esel ganz wunderbare Tiere sind. Das ist halt so – treffen sich zwei alte Männer, die das Laufen lieben. Ohne Worte – die Kommunikation geht einfach weiter. Wir gehen auch weiter. Wir suchen uns ein kleines Restaurant und unterhalten uns auf dem Weg dorthin. Ein wenig – nicht viel. Wozu auch?

 

Paolo stößt dazu, und wenn es nicht im Winter mitten in Mailand gewesen wäre … ich glaube, wir hätten gemeinsam einen ganzen langen Nachmittag im Spätsommer auf einem Marktplatz in den Alpen sitzen können. Wir hätten Espresso, Wasser, leichten trockenen Weißwein und vielleicht einen Pastis zu uns genommen. Wir hätten die vor uns liegende Piazza beobachtet. Wir hätten vorbeifahrende Autos und Motorräder gesehen, spielenden Kindern zu- und Frauen hinterhergeschaut, und für die Kommunikation hätten meine zwanzig Worte italienisch gereicht – wahrscheinlich für uns alle Drei.

Ich liebe diese Momente, wenn man – oder Männer – zusammensitzt und es braucht keine Gespräche. Alle fühlen sich trotzdem sehr wohl. Aber für ein Interview ist das eine denkbar ungünstige Ausgangssituation.

Ich habe Fragen über Fragen, und es ist mir fast peinlich, sie zu stellen, aber ich will unbedingt die Geschichte des Marco Olmo erzählen. Hier in diesem Buch. In dem Moment, wo wir beschließen offiziell anzufangen, fällt mir schlagartig der Titel für ein weiteres Buch ein: »Ich wär’ viel lieber schüchtern geblieben!«

HERE WE GO …

Was war eigentlich dein allererstes Rennen, Marco?

Ich habe nie großartig gezielt Sport gemacht, war aber als Kind der Berge immer viel draußen unterwegs. Mit 26 Jahren hatten wir eine Sache laufen, wegen einem vier Kilometern langen Rennen bei uns im Dorf. Es ging mit 400 Höhenmetern viel rauf und runter auf der kurzen Strecke. Ich habe dafür das erste Mal trainiert, um dort gegen die anderen Jungs zu gewinnen. Es brachte enorm viel Spaß und ich wurde im Ziel Vierter.

Wie ging es danach weiter mit dem Laufen?

Ich bin bei Rennen in den Bergen mitgelaufen – meistens in unserer Gegend. Die Läufe waren sehr unterschiedlich, aber ich bin noch nie einen Marathon gelaufen. Erst später, mit 47 Jahren, ging ich dann zum Marathon des Sables. Zusammen mit Paolo, weil er ein Team für das Rennen gegründet hatte. Das war 1996, und der MdS war mit 200 Teilnehmern noch relativ klein. Heute sind es über 1.300 Starter in der Wüste.

Wenn du zurückblickst: Was war dein größter Erfolg?

Sicherlich der Sieg und die Weltmeisterschaft in 2007 beim UTMB. Ich hatte das Rennen im Jahr zuvor bereits gewonnen, aber diese Strapaze mit einem weiteren Sieg im darauffolgenden Jahr zu krönen, das war etwas Besonderes.

Du vergisst zu erwähnen, dass dies kurz vor deinem 59. Geburtstag passierte, und tatsächlich ist das Meisterstück mit zwei Siegen in Folge danach nur noch einmal vollbracht worden: von Kilian Jornet. Wie war das im Ziel für Dich?

Überwältigend war die Freude, der Zuspruch, den ich von allen Seiten bekam. Ich hatte tatsächlich Tränen in den Augen auf der Ziellinie.

Wie wichtig war dieser Sieg?

Nun ja – ich hatte nicht Amerika entdeckt, aber ich fühlte mich sehr gut.

Das ist eine sehr knappe Umschreibung.

Du sprichst nicht so viel und so gern über dich?

(Er beantwortet die Frage mit einem Grinsen.)

Was passierte noch?

Neben der Erschöpfung und Freude? Ach ja (und er lacht dabei): Als ich meinen Siegerpokal erhielt, stand Renata neben mir. Das Erste, was ihr in diesem Moment einfiel, war der Hinweis darauf, dass sie nicht mehr wisse, wo sie in der Hektik das Auto geparkt hatte für die Heimfahrt. Ich dachte noch: So schnell hat einen das normale Leben zurück.

Das war vor zehn Jahren. Das wichtigste Rennen aus den vergangenen Jahren für dich?

Im Herbst 2016 war ich auf einem sehr schönen Rennen: Ultra Bolivia Race. Wir liefen teilweise in Höhen von über 3.600 Metern. Es war ein Lauf über sechs Etappen und 170 km Länge. Teilweise liefen wir auf dem Salar de Uyuni – die mit mehr als 10.000 Quadratkilometern größte Salzpfanne der Erde. Die Salzkruste entstand vor über 10.000 Jahren durch das Austrocknen eines riesigen Sees.

… und du hast das Rennen mit über zwei Stunden Vorsprung im Alter von 68 Jahren gewonnen.

Ja, das stimmt. Ich bin auch sehr stolz darauf. Ich liebe die Berge. Ich bin ein Mann aus den Bergen. Ich habe viele Rennen gemacht und auch einige gewonnen. Bestimmte Rennen bleiben einem aber besonders im Gedächtnis.

Welche noch?

Ein Skirennen: Abfahrt. Das Rennen hieß Tri Rifugi und ich konnte es im Jahr 1985 gewinnen. War mir irgendwie auch wichtig. Ich hebe nicht so viele Sachen auf, aber dieses Paar Ski und die Gewinnerschuhe vom UMTB habe ich behalten.

Welches war dein anstrengendstes Rennen?

Das war hier bei uns in der Heimat: Marathon Alpes. Es war ein Etappenrennen über knapp 200 Kilometer mit 18.000 Höhenmetern. Das war das Härteste, was ich je erlebt habe.

Was waren die aufregendsten Länder, die du besucht hast?

Aufregend und sehr interessant war es bei der Libyan Challenge im Akakusgebirge, in Ägypten und Jordanien. Faszinierende Rennen in Ländern mit einer langen und interessanten Geschichte, die für die ganze Welt von Wichtigkeit ist. Nehmen wir die beeindruckenden Pyramiden von Gizeh oder die Felsenstadt Petra in Jordanien mit ihren Tempeln.

Dem stimme ich gern zu – das waren auch mit meine schönsten Rennen. Der Zieleinlauf an den Pyramiden beim Sahara Race und ebenso das Ziel bei den Felsentempeln in Petra ist atemberaubend. Was war richtig übel?

Beim MdS 2016 ging ich richtig unter. Auf der langen Etappe ging es mir ganz schlecht. Es war sehr heiß, und es lief gar nicht gut. Mir war übel, und ich musste viel gehen. An einem Checkpoint mit Arzt wurde ich untersucht. Mein Blutdruck war normal. Was soll ich sagen? Es gab somit keinen Grund aufzuhören, also marschierte ich weiter.

Bist du jemals verlorengegangen oder hast den Weg verfehlt?

Nicht wirklich. Bei der Libyan Challenge 2008 über 200 Kilometer nonstop habe ich mal zwei Stunden den Weg nicht gefunden, weil das GPS nicht mitgespielt hat.

An der Stelle stand ich – glaube ich – im Jahr darauf auch. Aber doppelt so lang. Irgendwann bin ich die Felswand vor mir einfach hochgeklettert. Irgendwo sollte dort ein kleiner Tunnel durch dieses Felsmassiv sein. Der war aber im Dunkeln für mich damals nicht zu finden.

(Er lacht und scheint sich auch daran zu erinnern.)

In deinem Film Il Corridore erzählst du von dir, dass du dich als Loser, als Verlierer siehst. Warum?

Ich bin aus den Bergen. Dort bin ich großgeworden. Aber um Geld zu verdienen und mein eigenes Leben leben zu können, musste ich runter. Ich wurde Lkw-Fahrer und habe mit Dreißig angefangen, im Betonwerk in Robilante zu arbeiten. Dort war ich dann 23 Jahre, bevor ich in Rente ging. Durch das Verlassen der Berge habe ich meine Wurzeln verloren. Es gab die Notwendigkeit. Es ist schwer zu erklären, und das können vielleicht nur Menschen verstehen, die auch in den Bergen geboren sind. Das Zitat mit dem »Loser« ist aus dem Film von 2010. Vielleicht bin ich bei diesem Thema heute etwas entspannter.

Aber du bekommst soviel Anerkennung heutzutage für dein Laufen, für dich als Person …

Das ist richtig. Es freut mich auch, dass dieser Zuspruch über alle Generationen geht. Es gibt ganz viele junge Menschen, die mir schreiben, die zu meinen Vorträgen kommen, auch viele aus meiner Altersklasse.

Kannst du mit diesem Zuspruch gut umgehen?

Eine gute Frage. Viele Menschen denken, es ist leicht im Mittelpunkt zu stehen und gelobt zu werden. Das ist es nicht. Ich kann heute besser damit umgehen als vor 20 Jahren. Damals war ich viel unsicherer, ich war schnell nervös und habe die Welt in Gut und Böse eingeteilt, meist aber sehr schnell viele Feinde gesehen. Das ist heute anders.

Welche Rolle spielt deine Frau Renata?

Sie ist die große Stütze. Wir haben uns kennengelernt, als ich 24 war, und mit 30 haben wir geheiratet. Sie ist meine bessere Hälfte. Somit gebührt ihr auch mit Recht die Hälfte der Anerkennung für meine Erfolge beim Laufen. Sie betreut mich bei den Wettkämpfen. Sie fährt zu den diversen Checkpoints. Sie gibt mir Essen und Informationen über den Stand im Rennen. Welche Läufer direkt vor oder hinter mir sind. Wichtig ist sie natürlich auch als Stütze, wenn es nicht läuft, dann baut sie mich auf. Sie steckt dann voller Energie und gibt alles. So manches Mal ist sie dabei aufgeregter als ich und am Ende des Rennens oft vollkommen erschöpft.


Die Beine eines 68-jährigen Champions.


Mailand: Zum ersten Mal treffe ich Marco.

Hast du Laster?

Nein! Aber ich liebe Desserts nach dem Essen und Schokolade überhaupt. Das könnte meine Schwäche sein.

Andere Dinge, die dich faszinieren?

Außer Laufen? Ich mag Maschinen, und da ich zehn Jahre als Lkw-Fahrer und danach 23 Jahre im Betonwerk gearbeitet habe, saß ich viel auf dem Bagger. Ich mag gern zügig Auto fahren – auch heute noch. Vor ungefähr zehn Jahren hatte ich einen Lancia Delta Integrale. Lancia hatte mit dem Wagen viele Jahre fast alle Rallyes auf der Welt gewonnen. Ein vierradgetriebenes kleines Ding mit knapp 200 PS. Das brachte viel Spaß beim Fahren in den Alpen. (Marco und Paolo grinsen sich an.) Ich bastele gern an meinem Equipment herum und mache mir Rucksäcke und Schuhe passend nach meinen Vorstellungen. Gerade früher gab es wenig gutes Equipment für Ultraläufe. Die Trailschuhe waren schwer wie Wanderstiefel, und Rucksäcke zum schnellen Laufen gab es kaum.

Ich habe Bilder gesehen, wo du mit scharfen Messern den Schaft der Schuhe kürzt. Geht es dir dabei um das Gewicht der Schuhe? Leichte Schuhe – schnelles Laufen?

So entscheidend sind ein paar Gramm mehr oder weniger nicht – entscheidend ist die Passform und der Halt im Schuh. Das ist meist der Grund für mich, am Schuh zu optimieren.

Stimmt die Geschichte, dass du oft irgendeinen Berg hochgelaufen bist, während deine Kollegen auf der Arbeit vom Betonwerk mit dem Bus dort hochgefahren sind? Es gibt Interviews im Film, in dem die Kollegen erzählen, dass du »etwas anders« warst.

Für viele war es unverständlich, was ich gemacht habe. Morgens vor der Arbeit erstmal zwei Stunden Laufen gehen, das kam ihnen verdächtig vor. Ich war auch nicht so der Gruppenmensch. Ich war ganz gern allein und habe z. B. mittags auch oft allein gegessen. Das war mir ganz recht so.

Du bist mit 53 Jahren in Rente gegangen.

Ja. Ich hatte schon lange genug gearbeitet, und es gab in Italien die Möglichkeit, zu diesem Zeitpunkt in Rente zu gehen. Eine sehr richtige Entscheidung für mich.

Glückwunsch! Nenn mir doch bitte mal eine Entscheidung, die du bereut hast.

Dass ich nicht früher zum Vegetarier wurde. Heute bedauere ich das ein wenig.

Wie kam es zu der Entscheidung, Vegetarier zu werden?

Ich war 37 Jahre alt, und es ging mit gesundheitlich nicht so gut. Ich suchte einen Homöopathen hier in unserer Region auf, und der empfahl mir, die Ernährung umzustellen und gänzlich auf Fleisch zu verzichten. Seitdem bin ich Vegetarier. Das »Kein-Fleisch-Essen« wurde über die Jahre zu einer Einstellungsfrage für mich und ist mir ein wichtiges Anliegen. Ich missioniere nicht, aber für mich persönlich ist es ein wichtiges Thema, auf das ich in meinem Buch Il miglior tempo ausführlich eingehe. Neben dem Nutzen für meine Gesundheit und Fitness geht es mir auch um das Leben und Wohlergehen der Tiere.

Du bist seit 20 Jahren ein äußerst erfolgreicher Läufer. Lass uns doch mal über dein Training sprechen. Wie sieht das aus?

Da gibt es keine großen Weisheiten. Alle guten Läufer auf der Welt sind immer sehr viel gelaufen. Ich mache nichts anderes als Laufen. Ich gehe jeden Morgen für 70 bis 90 Minuten raus. Es gibt für mich keine Alternative. Ich fahre nicht mit dem Rad, um zu trainieren. Ich schwimme nicht. Ich bin Läufer – ich laufe.

 

Jeden Tag?

Du fragst wegen des Alters? Ja, jeden Tag – und am Wochenende einen langen Lauf zwischen fünf bis sieben Stunden. Wenn ich fit bin, mache ich alles in den Bergen. Das gilt auch für meine Lieblingsrunde am Wochenende: Die hat 53 Kilometer, und mit Rucksack und den vielen Höhenmetern bin ich dann knapp sieben Stunden unterwegs.

Wann ist Regeneration? Was machst du nach einem großen Rennen?

Laufen – jeden Tag.

Paolo klinkt sich kurz ein, um Marco ein wenig zu unterstützen – er erklärt mir das Ganze so: Marco laufe immer! So wie »immer« immer bedeutet. Selbst beim Marathon des Sables im Ziel nach 250 Kilometern sei das so. Am nächsten Morgen sieht man Marco vor dem Frühstück seine Laufrunde durch Zagora ziehen. Er reduziere sein Training geringfügig für die ersten vier Wochen nach dem Rennen – laufe aber weiter jeden Tag. Allerdings trainiere er insgesamt etwas weniger als vor zehn Jahren.

Ich denke spontan: Na Gott sei Dank!

Wenn du in ein Rennen gehst – läufst du nach einem Plan oder eher intuitiv?

Ich bin am Start nicht sonderlich schnell, sondern liege meist ein gutes Stück hinter den Spitzenläufern. Das ist kein System, das hat was mit meiner etwas geringeren Grundschnelligkeit zu tun. Allerdings kann ich durch die vielen Jahre an Wettkampferfahrung und Training diese Geschwindigkeit über sehr lange Phasen des Rennens halten. Meist ist es so, dass ich ab der Hälfte der Strecke beginne, Läufer einzusammeln. Ich kann durchaus sagen, dass mir das auch Motivation unterwegs gibt. Vor allem, wenn man vorher einige ziehen lassen musste. Wenn es ein gutes Rennen für mich wird, kann ich mich gerade bei Läufen in den Bergen somit auf dem letzten Drittel noch mal gut nach vorn arbeiten. Ansonsten habe ich außer meinem Tempo keinen Plan. Ich reagiere aber auf Einflüsse von außen wie Wetter und das Streckenprofil. Ich versuche, an den Steigungen nicht zu viel Kraft zu lassen und gehe (!) es entspannt an. Grundsätzlich ist mein Bestreben von Anfang an, ausreichend zu essen. Das kann ich bei sehr langen Läufen auch nur allen raten. Wenn du wartest, bis der Hunger kommt, ist das nicht mehr aufzuholen.

Wenn du die Laufveranstaltungen heute siehst und zehn oder 20 Jahre zurückdenkst – was fällt dir auf?

Es ist ein großes Geschäft geworden. Es ist schön, dass es viel mehr Rennen in der Welt gibt, und es ist gut, dass mehr Menschen laufen als früher. Aber der Kommerz steht leider bei vielen Veranstaltern im Vordergrund. Früher entstanden Rennen, weil Läufer den Mut und die Energie hatten, erste große Rennen zu konzipieren und durchzuführen. Alles war viel persönlicher. Die Freunde und Familien halfen mit, und vieles war auch nicht so perfekt wie heute. Was aber interessant ist und den Läufer fordert. Die Startgebühren sind auch enorm gestiegen – auf der anderen Seite hat der Spirit bei vielen Veranstaltungen gelitten. Aber wer nicht nur auf die bekannten Rennen schaut, findet kleine, feine Rennen. Man muss ein wenig suchen. Ein gutes Beispiel dafür ist vielleicht das Rennen in Bolivien.

Wenn du die Chance hättest, dich mit einem Menschen der Zeitgeschichte zu treffen und mit ihm zu sprechen – wer wäre das?

Eindeutig mit Nicola Tesla. Er war ein großartiger Erfinder und Vordenker aus Kroatien, der bis 1943 in New York lebte. Er war der Erfinder der ersten Wechselstromgeneratoren. Seine Lebensgeschichte war ein ständiges Auf und Ab. Er setzte sich mit seinem Wechselstrom gegen Thomas Alva Edison durch, der die ersten Elektrizitätswerke in Amerika mit Gleichstrom gebaut hatte. Er verzichtete auf Lizenzzahlungen in Milliardenhöhe aus bestehenden Verträge zu seinen vielen Patenten im Bereich Wechselstrom, die ihn zu einem der reichsten Männer seiner Zeit gemacht hätten. Er wurde betrogen, aber er war mit ganzer Seele ein Erfinder und kein Geschäftsmann. Außerdem hatte er sich bereits mit neuen Themen beschäftigt: Tesla hatte die Vision einer Welt, in der alle Menschen unbegrenzt und kostenlos mit Energie versorgt werden. Stromnetze begriff er nur als Zwischenstufe auf dem Weg zu einem kabellosen System, das Informationen und Energie über den ganzen Erdball senden sollte. Ohne seine Erfindungen wäre die Industriealisierung nicht möglich gewesen.

Wie beendet man so ein Gespräch? Am besten gar nicht. Aber wir müssen uns mal bewegen. Wir gehen raus auf die Straße, um uns die Beine ein wenig zu vertreten. So lang sitzen ist für uns alle nix. Auf die Schnelle werden ein paar gestellte Fotos geschossen – als Modells taugen wir nicht – und genehmigen uns noch einen Espresso und einen Schokokuchen im nächsten Café. Es gibt eine sehr herzliche Verabschiedung – passend zu dem sehr herzlichen Nachmittag. Auf dem Heimflug fange ich direkt an, das Interview niederzuschreiben. Es ist mein erstes Interview überhaupt – und ich stelle fest, dass es nicht einfach ist. Viele Antworten oder weitere Informationen zu meinen Fragen waren gar nicht im gesprochenen Wort, sondern kamen oft per Blick oder einer Handbewegung. Manchmal ein Schulterzucken. So nach dem Motto: Bist doch selbst Läufer und weißt, wie das ist.

Tage später merke ich, wie dieses Gespräch mit Marco in mir immer noch massiv nachhallt. Dachte ich anfangs, ich fliege nach Mailand, um ein Interview für das Buch zu machen, stelle ich jetzt fest, dass nicht ich einen der größten Läufer aller Zeiten interviewt habe, sondern Marco mich an die Hand und ein Stück weit mitgenommen hat. Nicht mich als Autor, sondern den Menschen und den Läufer. Es ist diese totale Klarheit, die er dem Laufen gibt. Oftmals ist der Anfang einer Sache geprägt von Naivität – und somit Klarheit. Das ist bei Kindern im Spiel zu beobachten, und so ist es auch im Leben. Meiner Meinung nach ist das ebenso in den Anfangswerken von jungen Musikern zu finden. Beim Laufen funktioniert dieser Weg nicht, da Laufen zu Beginn anstrengend ist. Erst über die Jahre verliert sich diese Anstrengung, und es folgt die Zeit, in der man eine Art »Selbstläufer« wird. Es gibt die Themen der Rennen und Platzierungen, wenn man bei diesem Spiel mitmacht, aber wenn man Glück hat, gibt es auch die große Leidenschaft und Liebe für das Laufen. Über Liebe, Leidenschaft und das Laufen kann man endlos philosophieren und komplexe Systeme für viele Themenbereiche entwickeln. Aber es ist wie mit dem Leben: Man kann es auch in aller Klarheit einfach nur machen und genießen. Nicht, dass ich das schon beherrsche, aber für diese gelebte Klarheit zum Thema Laufen bedanke ich mich bei Marco Olmo.

Grazie!