Das polnische Haus

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Am Gedenktag war die Versammlung auf dem Schulhof größer als üblich. An der Fassade des Schulgebäudes prangte die Parole: »Er lebt weiter in unseren Herzen.« Alle trugen Uniform und Halstuch – jede Klasse hatte ihre eigenen Farben. Unter den Gästen waren einige hochgestellte Persönlichkeiten: der Ortskommandant der Polizei, die Witwe unseres Helden und seine Tochter, ein Sekretär des örtlichen Parteikomitees, der Bezirksleiter des Bildungsressorts, der Vorsitzende des Veteranenverbandes der Kommunisten und die komplette Lokalprominenz. Die Milizkapelle spielte die Internationale, und wir leisteten den feierlichen Eid, in Leutnant Wizors heroische Fußstapfen zu treten.

Während die Lehrer sich auf das andächtige Geschehen konzentrierten, waren wir heimlich damit beschäftigt, Münzen in einen Spalt zu werfen, der sich im Pflaster aufgetan hatte. Man mußte versuchen, seine Münze zunächst mit einem Wurf so nah wie möglich an den Spalt heran zu bekommen und dann mit dem Daumen immer näher und schließlich hinein zu schnippen. Wer dazu die wenigsten »Würfe« benötigte, hatte gewonnen und durfte die Münzen der anderen einsacken.

Noch befinden sich die Fotos von der damaligen Zeremonie in der Schulchronik, und die Gedenktafel hängt nach wie vor an derselben Stelle. Doch bald wird die Schule ein weiteres Mal umgetauft, und die Tafel soll entfernt werden. Es hat sich mittlerweile herausgestellt, daß Leutnant Wizors heroischer Lebenslauf zu großen Teilen gefälscht war. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal einen Schulabschluß, und – wichtiger noch – langsam kommen Zweifel an seiner revolutionären Gesinnung auf. Es hat sich herumgesprochen, daß sein Eifer vielleicht weniger mit seinen kommunistischen Überzeugungen zu tun hatte, sondern vielmehr dazu dienen sollte, von seiner Kollaboration mit den Nazis zu Kriegszeiten abzulenken. Davon hat uns 1974 natürlich niemand etwas erzählt.

Was die Indoktrinationsversuche anbelangt, war die »Freiwilligenarbeit« wohl die entlarvendste Aktivität, die uns die Schule zumutete. Freiwillig war die Teilnahme daran natürlich keineswegs. Normalerweise wurden wir für die Kartoffelernte zu landwirtschaftlichen Genossenschaften abgeordnet. Die Ausflüge wurden von der Schule organisiert und sollten uns, der zukünftigen Intelligenzija, Respekt vor der Mühsal unserer Genossen Arbeiter und Bauern einflößen. Tatsächlich hat man uns die sozialistische Arbeitsmoral beibringen können. Wir mußten hinter einer Maschine herlaufen, die die Kartoffeln aus dem Boden hob; unsere Aufgabe bestand darin, sie in Körben aufzusammeln, die auf die Ladefläche eines Lastwagens auszuschütten waren. Nach ein paar Stunden, als wir schon Kreuzschmerzen vom Bükken und Heben bekamen, drückten wir jedoch jede zweite Kartoffel mit einem ordentlichen Tritt zurück in den Boden. Am Ende unserer Schicht war zwar das Feld leer, aber der Laster erst halb voll. Die Bauern wußten natürlich, was los war, und ließen dasselbe Feld durch verschiedene Schulklassen wieder und wieder abernten. Ich zweifle sehr daran, ob unser Beitrag das Benzin wert war, das für unsere Busfahrt aufs Land aufgewendet wurde.

In den Fabriken stahlen wir alles, was nicht niet- und nagelfest war. Einmal wurden wir in einen Tochterbetrieb von Romet, Polens größtem Fahrradhersteller, entsandt. Nachdem wir uns einen Tag lang um die Arbeit herumgedrückt hatten, verließ jeder die Fabrik mit einem Haufen Ersatzteile für sein Fahrrad, die man in den Läden oft nicht bekommen konnte.

Als wir schon etwas älter waren, wurde die Gehirnwäsche unter dem Titel »Staatsbürgerliche Erziehung« in einem speziellen Kurs durchgeführt. Dort wurden wir über die sozialistische Verfassung, das Einmaleins des Klassenkampfs und das Übel des Kapitalismus informiert. Ein Jahr lang hatten wir in diesem Kurs eine Lehrerin, die ungewöhnlich groß war und ständig rosa, orange und violette Klamotten trug. Sie glaubte wirklich an die Dinge, die sie uns lehrte. Wir nannten sie Skarpeta, auf deutsch »Socke«, weil sie einmal eine Socke aus ihrer Tasche nahm, um sich damit die Nase zu putzen. In ihrem Unterricht setzten wir uns nie in die vorderen Bänke, denn ihr fehlte ein Zahn, und wenn sie sich aufregte, was häufig vorkam, spuckte sie die armen Schüler in der ersten Reihe an. Wenn man sich mit ihr anlegte, egal, um welches politische Thema es ging, wurde sie wütend. »Wie kannst du das sagen? Meine Eltern waren Bauern, ich bin Lehrerin. Sieh doch, was wir alle dem Sozialismus verdanken!«

Mein Gymnasium befand sich im Zentrum von Bydgoszcz und war ebenfalls nach einem Kommunisten benannt worden, einem Aktivisten aus dem 19. Jahrhundert namens Ludwik Waryński. Dort schrieb ich auch die Prüfung in Geschichte, die meine Mutter im Schrank versteckt und für die Nachwelt aufgehoben hat:

1 Erörtere das Problem des privaten Landeigentums von 1947 bis 1956; nach 1956; heute.

2 Erörtere die sozialpolitischen Neuerungen für die Landbevölkerung in den Jahren 1971 bis 1980.

3 Durch welche Regierungsmaßnahmen können die Situation der Landwirtschaft und die nationale Nahrungsversorgung verbessert werden?

4 Erörtere die Organisationsformen der landwirtschaftlichen Selbstverwaltung.

Meine Antwort auf die erste Frage begann folgendermaßen: »Nachdem die Exilregierung in London am 1. August 1944 eine Bodenreform beschlossen hatte, sah sich die kommunistische Regierung aus politischen Gründen gezwungen, ihrerseits eine Bodenreform anzukündigen ...«

Der Hinweis auf die Londoner Regierung, die absolut tabu war, ist mit dickem Rotstift angestrichen; darunter steht der Kommentar: »Dies ist eine absolut lächerliche Bemerkung!«**

Rückblickend wunderte ich mich, wie ich überhaupt zu meinem Wissen über die polnische Exilregierung kam, die im Unterricht als ein belangloses Intermezzo abgetan wurde. Denn was wußte man schon? Als ich 1990 einige Kolchosen in der Sowjetunion besuchte, fragten mich die Leute allen Ernstes, wo das Leben besser sei: dort oder im Westen. Doch als ich mich an meine Jugend erinnerte, wurde mir bewußt, daß die offizielle Erziehung nur einen Teil – und zwar den kleineren Teil – meiner Entwicklung ausmachte.

Anders als mein erstes politisches Erlebnis der Maidemonstration, das ich zeitlich nicht genau einzuordnen vermag, kann ich das zweite Erlebnis, das im Gedächtnis haftengeblieben ist, genauer datieren, und zwar auf den Dezember des Jahres 1970. Ich war damals siebeneinhalb Jahre alt. Eines Tages kam mein Vater mit ein paar Zeitungen nach Hause, die dicker als üblich waren. Sie enthielten lange Listen mit neuen Preisen, die die Regierung für alles mögliche – von Zahncreme über Kartoffeln und Klopapier bis hin zu Traktoren – festgelegt hatte. »Das wird Ärger geben«, sagte mein Vater. »In den fünfziger Jahren hätten sie es anders gemacht. Da hätten sie die Preise für Verbrauchsgüter angehoben und die für Lokomotiven und Panzer gesenkt, so daß sie sagen konnten, unterm Strich sei alles beim alten geblieben.«

Damals lebten wir in einer Zweizimmerwohnung. Ich schlief mit meiner Mutter in einem Zimmer, mein Vater schlief fast jeden Abend im anderen Zimmer ein, während er Radio Free Europe hörte. Von meinem Kinderbett aus konnte ich die Stimmen hören, die hin und wieder durch das pochende, pulsierende Geräusch des Störsenders drangen, um bald wieder abzuflauen. Zwar sprach sich herum, daß immer eine Frequenz des Senders nicht gestört wurde, damit für die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei eine Transkription hergestellt werden konnte, aber diese Frequenz war nur schwer zu empfangen, und unser primitives Hörfunkgerät war nicht viel mehr als eine große Holzkiste, ein Produkt aus den Tagen vor der Erfindung des Transistors.

Kurze Zeit, nachdem die Zeitung die Preiserhöhungen veröffentlicht hatte, bekam ich mit, daß Radio Free Europe schlechte Nachrichten zu verkünden hatte. Mein Vater bemühte sich noch eifriger als sonst um die richtige Abstimmung der Frequenz. Als wir den Sender endlich hören konnten, meldeten die polnischen Nachrichtensprecher in München, daß in mehreren Städten Polens Arbeiteraufstände ausgebrochen waren, wobei es auf der Werft von Gdańsk sogar Tote gegeben hatte. Tagelang schwiegen sich die offiziellen Medien über die Zwischenfälle aus, bis plötzlich das Fernsehen über die Ereignisse berichtete: Schwarzweißaufnahmen von Krawallen und von Menschen, die Geschäfte plünderten. Die örtliche Parteizentrale stand in Flammen, Soldaten gaben Schüsse ab. Als wir den Bruder meines Vaters in Gdańsk anrufen wollten, stellten wir fest, daß die Leitungen abgestellt worden waren.

Die Krise dauerte an. Władysław Gomułka, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, trat »aus gesundheitlichen Gründen« zurück. Nach Weihnachten hielt Edward Gierek, der neue Parteiführer, eine Rede an das Volk. Ich sagte meinem Vater, daß jetzt die Fotografen bestimmt viel zu tun hätten. Denn Porträts des Parteiführers hingen in Schulräumen, Büros, einfach überall, und jetzt mußten alle ausgetauscht werden. Mein Vater lachte, als ich ihn fragte, wie lange das wohl dauern würde.

Radio Free Europe war aber nur eine unter vielen Informationsquellen, die dem widersprachen, was man in meiner Schule und in den offiziellen Medien verbreitete. Im privaten Umfeld hat niemand versucht, meine politischen Ansichten zu beeinflussen, noch hat jemand mich dazu ermutigt, mich der Untergrundbewegung anzuschließen, illegale Zeitungen zu drucken oder gegen die Regierung zu agitieren. Doch auf vielerlei Weise habe ich durch verschiedene Familienmitglieder und durch ihre Erzählungen schon im jungen Alter erfahren, daß das Leben mehr zu bieten hatte als Staat, Schullehrer und Zeitungen.

Der liebste unter den Verwandten war und ist mir Onkel Klemens, der ältere Bruder meines Vaters, der als Büchsenmacher in Gdańsk lebt. Wir sahen ihn höchstens ein paarmal im Jahr, aber jeder Besuch war ein Fest. Er hatte eine Werkstatt an der Mariackastraße, Gdańsks Prachtstraße in unmittelbarer Nähe der gotischen Kathedrale und des mittelalterlichen Rathauses. Häuser, die mit ihren gemeißelten und vergoldeten Fassaden an Amsterdam erinnern, zeugen immer noch davon, daß die Stadt einst so reich war wie Venedig. Die Werkstatt meines Onkels befand sich im Erdgeschoß eines solchen Patrizierhauses, das über einen Vorhof und eine steinerne Treppe verfügte. Den Vorhof bewachten zwei Geschütze, zwei Hellebarden umrahmten den Eingang. Drinnen waren die Wände von oben bis unten vollgehängt mit Jagdmessern, Pistolen, Schwertern und Rapieren, Pulverbehältern, Signalhörnern, Geweihen und Gewehren. Es roch nach Leder, Öl, Metallspänen und Poliermittel. Nach langem Streit mit der Stadtverwaltung hatte Onkel Klemens einen tiefen Keller unter dem Haus gegraben, um dort einen kleinen Schießstand einzurichten. Eine schmale Treppe mit einem Geländer aus Geweihstangen führte hinunter in die Höhle, wo meine Neffen und ich mit den Luftgewehren meines Onkels wahre Schützenfeste veranstalteten.

 

Zu Zeiten, als man es für schick hielt, alte Holzmöbel durch Einrichtungsgegenstände aus Resopal zu ersetzen, sammelte mein Onkel haufenweise altmodischen Trödel. Nach traditioneller Gdańsker Art dunkelgebeizte Eichenkommoden und -tische füllten jede Ecke seiner Wohnung. An den Wänden hingen gekreuzte Schwerter auf Orientteppichen, von Hand gehämmerte Zinnteller und -kannen standen reihenweise in den Regalen. In den Kellerräumen bewahrte er allerlei Gerümpel auf: Säbel, Trommeln, kaputte Statuen, Stierhörner, Mühlensteine. Er war kurz nach dem Krieg nach Gdańsk gezogen, als die Stadt noch in Trümmern lag. Wie ihre Schwesterhafenstadt Königsberg war auch Gdansk im Frühling des Jahres 1945 von der Roten Armee unnötigerweise unter Beschuß genommen und gestürmt worden, als die Schlacht um Berlin längst entbrannt war. Anders als Königsberg wurde Gdańsk jedoch nicht dem Erdboden gleichgemacht, sondern wiederaufgebaut. Einen Großteil seiner Sammlung fand mein Onkel auf Spaziergängen durch die Altstadt. Die Kanäle wurden nach und nach ausgebaggert, und die Arbeiter stießen dabei hin und wieder auf Dinge wie einen mittelalterlichen Taufteller, einen Silberlöffel oder Münzen, die mein Onkel meist im Tausch gegen eine Flasche Wodka ergattern konnte. Die Arbeiter wußten freilich nicht, daß die Deutschen, als die Stadt schon in Flammen stand und die letzten Schiffe den Hafen verließen, ihre Wertgegenstände aus den Fenstern in die Kanäle geworfen hatten, in der Hoffnung, sie nach ihrer Rückkehr wiederzubekommen.

In den Händen meines Onkels wurden die Gegenstände zum Leben erweckt. An kleinsten Kennzeichen und Merkmalen konnte er ablesen, aus welcher Gdańsker Werkstatt oder manchmal sogar von welchem Meister der Zunft sie jeweils stammten. Aus einer einzigen Schramme konnte er ihre komplette Geschichte ableiten oder wenigstens erdichten. »Die Handwerkskunst!« schwärmte er dann. »Früher hat sie dieser Stadt einmal zu Reichtum verholfen, aber heutzutage können die Leute nichts anderes als quatschen.« Onkel Klemens muß allerdings etwas von seinem Handwerk verstanden haben, denn aus dem ganzen Land strömten die Kunden in seine Werkstatt. Mit seinen Jagdgeschichten vermochte er Kunden und Freunde zu fesseln, auch wenn wir wußten, daß sie stark übertrieben waren.

Onkel Klemens’ politisches Interesse galt einzig und allein der Altstadt von Gdańsk. Statt der Schaufenster mit Bernsteinnippes für Touristen sollten seiner Meinung nach hämmernde und schnitzende Handwerker den Ton angeben. Er setzte sich für die Wiederbelebung eines alten Schützenvereins ein, suchte die Lokalbehörden zu bewegen, das Zeughaus wiederzueröffnen, und war immer bereit, während des historischen Handwerksmarkts im Sommer in einem traditionellen kontusz herumzulaufen. Nur wenn man ihn ausdrücklich danach fragte, erzählte er, wie die große Politik sein Leben beeinflußt hatte. Er hatte zwanzig Jahre lang in der Armee gedient, wo er Kurse veranstaltete und Büchsenmacher ausbildete. Die meisten Offiziere waren Parteimitglieder, aber er gehörte zu einer kleinen Minderheit ohne Parteibuch. Zunächst entstanden ihm daraus keine Nachteile, denn Fachkräfte waren rar. Im Jahre 1968 kam es aber zu Säuberungen und einer Welle antisemitischer Hysterie, die von der Partei angefacht wurde, um Gegner in den eigenen Reihen loszuwerden. Gleichzeitig wurden jedoch auch andere Unerwünschte unter Beschuß genommen. Onkel Klemens wurde vor die Wahl gestellt, entweder Parteimitglied zu werden oder zu kündigen – er verließ die Armee ein Jahr vor seiner Pensionsberechtigung. Seine Verwandten mahnten ihn, seinen Mund zu halten und realistischer zu werden. Ohne Erfolg. Einige Jahre später, nachdem er es gewagt hatte, sich über Parteiführer zu beschweren, die in seinem Revier von Hubschraubern aus auf Rehe schossen, wurde er als Jagdführer abgesetzt. Aber trotz dieses Unrechts wurde mein Onkel noch nicht zum Dissidenten. Er kehrte der kommunistischen Gesellschaft einfach den Rücken und beschränkte seine Bestrebungen auf die Werkstatt und die Antiquitätensammlung. Er ist das beste Beispiel dafür, daß man unter einem kommunistischen Regime leben und trotzdem eine reine Weste behalten konnte.

Ein anderer Onkel, mein Großonkel Stefan, hat 1920 noch im glorreichen Krieg gegen die Bolschewiken gekämpft. Zunächst diente er unter dem großen polnischen Feldherr Józef Piłsudski, der mit seinem Gefolge bis nach Kiew vorstieß. Als später die Rote Armee Polen überfiel und der UdSSR einverleiben wollte, kämpfte Onkel Stefan in der Nähe von Warschau. Über seine Erlebnisse hat er nie besonders viel erzählt, doch die bloße Tatsache, daß er an einem Krieg gegen die Rote Armee teilgenommen hatte, machte es mir schwer zu glauben, was man mir in der Schule beibringen wollte: daß die Rote Armee der beste Freund der polnischen Kinder sei.

Meine Kindheit fiel in eine Periode ungewöhnlichen Wohlstandes. Politische Zugeständnisse wie die Genehmigung von Westreisen für Millionen polnischer Bürger dienten als Sicherheitsventil, um Frustrationen abzubauen. Edward Gierek, Parteichef während der siebziger Jahre, sah sich allerdings in der Erwartung getäuscht, daß die Bürger sich für das Entgegenkommen mit sozialem Frieden und politischer Anerkennung revanchieren würden. Auf den künstlich herbeigeführten Aufschwung folgte schließlich Ende der siebziger Jahre die Pleite, und Gierek wurde durch eine Welle gewalttätiger Proteste aus dem Amt gezwungen. Heute muß Polen immer noch die damals großzügig gewährten Milliardenkredite abstottern; gewiefte Banker aus dem Westen gingen davon aus, daß die sozialistische Wirtschaft nicht weniger kreditwürdig sei als die kapitalistische, da es den Planökonomen freistand, beliebige Ressourcen per Dekret für die Schuldentilgung aufzuwenden.

Durch Edward Giereks Leichtsinn kam meine Generation jedoch in den Genuß von Dingen, die zuvor der westlichen Jugend vorbehalten waren. So galt der Jazz nicht länger als zersetzende bürgerliche Musikform, und in den Läden tauchten Marlboro-Zigaretten und Coca-Cola auf. Wer Devisen hatte, konnte sich sogar den Traum der Träume verwirklichen und Original-Bluejeans kaufen. Meine Eltern arbeiteten beide bei staatlichen Baufirmen und verdienten überdurchschnittlich gut, doch nach dem Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt belief sich ihr Monatseinkommen trotzdem nur auf eine Handvoll Dollar. So erlangte jedwede Westware den Status einer Reliquie, ähnlich wie bei den Angehörigen gewisser Cargo-Kulte Gegenstände angebetet werden, die von irgendwelchen Schiffsmannschaften achtlos über Bord geworfen und an Land geschwemmt wurden. Alle träumten davon, zu Weihnachten ein paar Jeans geschenkt zu bekommen. Einige Monate lang beneidete mich die ganze Schule, weil ich als erster eine elektronische Armbanduhr besaß – ein klobiges, primitives Teil, das nur nach festem Drücken der Tasten die Zeit anzeigte. Bis auf den heutigen Tag kann ich mich für unnütze technische Kinkerlitzchen begeistern, jederzeit bereit, mein Geld für Gummilatschen mit Lämpchen oder eine sprechende Zahnbürste auszugeben.

Wir veranstalteten Partys, auf denen es cool war, richtigen Wermut zu trinken. Jedes neue Album von Pink Floyd – mit einem Beschaffungswert von mehreren Monatseinkommen – wurde begrüßt, als handelte es sich dabei um einen authentischen Überrest des Heiligen Kreuzes. Wir lernten Englisch, indem wir die Texte auf der Plattenhülle übersetzten, und glaubten, dasselbe Unbehagen zu empfinden, das unsere Popidole umtrieb. Erst später verstand ich, daß unsere westlichen Zeitgenossen dabei etwas ganz anderes im Sinn hatten: Sie hatten die Schnauze voll von der Konsumgesellschaft, während wir sehnsüchtigst dessen banalste Manifestationen vergötterten. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an meinen sechzehnten Geburtstag; meine Eltern verschwanden netterweise fürs Wochenende und überließen mir die Hausschlüssel; ein Raum war abgedunkelt, im Kerzenlicht tanzten Pärchen engumschlungen zu den Klängen von »Dark Side of the Moon«; ich saß auf dem Sofa, legte zaghaft einen Arm um Beata, eine Blondine, auf die ich schon seit Monaten scharf war, hielt ein Glas Wermut in der freien Hand und dachte zufrieden: »Superschick. Das ist ja wie im Westen!«

Noch subversiver als Wermut und Pink Floyd war, daß die Polen als einzige Ostblockstaatler in den Westen reisen durften. Die Schwierigkeit war nur, die nötigen Devisen zu beschaffen. Jede polnische Familie konnte einmal jährlich eine Dollarzuweisung beantragen, zu einem Wechselkurs, der zwar über dem rein fiktiven offiziellen Wert, aber immerhin unter dem Schwarzmarktpreis lag. Jeden Frühling aufs neue warteten wir gespannt, was uns die Sommerferien bringen würden: einen Monat entweder in sonniger Ferne oder im durchnäßten Zelt an irgendeinem pommerschen See. Es war immer wieder eine Zeit des Bangens. Hatte vielleicht jemand meinen Vater angeschwärzt, weil er politische Witze erzählt hatte? Vielleicht gingen »ihnen« die Dollars aus und würden die Zuweisungen drastisch gekürzt? Oder vielleicht wollten »sie« meine Eltern bestrafen, weil sie an den letzten Wahlen nicht teilgenommen hatten? Die Behörden verbreiteten mit Absicht das Gerücht, Willfährigkeit in politischen Dingen stehe in engem Zusammenhang mit der Zuteilung von Devisen, und dies war wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, daß die meisten gebildeten Familien bei den offiziellen Parteiritualen mitmachten.

Die Tage im Frühling, an denen jeweils die briefliche Bestätigung der Zuweisung eintraf, waren die glücklichsten meiner Kindheit. Meine Eltern und ich holten dann den Atlas und die Landkarten hervor, um jeden einzelnen Tag der Sommerferien aufs genaueste zu planen. Zu jener Zeit galt jedes beliebige Land der nichtkommunistischen Welt für uns schon als »der Westen«. Wir entschieden uns in der Regel für die Türkei oder Griechenland. Diese Reiseziele waren nicht ohne Hintergedanken gewählt, denn wir konnten sie leicht mit dem Auto erreichen, indem wir durch die Sowjetunion, Rumänien und Bulgarien fuhren und billiges sozialistisches Benzin tankten. Noch wichtiger war jedoch, daß wir in beiden Ländern nicht nur mit unseren Devisen auskommen, sondern auch ein bißchen Handel treiben konnten, um am Ende mit einem Teil der kostbaren Dollars zurückzukehren.

Vor der Abreise bemühte sich die ganze Familie, ausstehende Gegenleistungen für frühere Gefälligkeiten einzutreiben und so geeignete Handelsware zu sammeln. Meinen Eltern war das peinlich, aber in mir erwachte der wahre Handelsinstinkt. Wenn der Urlaub nahte, häuften sich in unserer Küche die verschiedensten Güter an. Es hatte sich herumgesprochen, daß in der Türkei rege Nachfrage nach polnischen Elektrogeräten wie Mixern, Bügeleisen und Staubsaugern bestand. Außerdem kaufte ich einige Sachen aus geschliffenem Kristall: Aschenbecher, Vasen, Zuckerdosen. Dem Zoll machte man weis, daß die ersteren zu unserer Campingausrüstung gehörten, die letzteren wurden als Geschenke für alte türkische Freunde deklariert. (Wie bei so vielen Dingen wurden unter dem Sozialismus die normalen Zollbestimmungen in ihr Gegenteil verkehrt: Die Zöllner versuchten zu verhindern, daß etwas aus dem Land geschmuggelt wurde.) Noch gewinnbringender waren Güter, die man in der Sowjetunion absetzen konnte: Kaugummi, Nagellack, Parfüm, Jeans, Bettwäsche und, aus unerfindlichen Gründen, Perücken. Ebenso wie wir waren die Sowjets ganz erpicht auf alles, was nach Luxus roch, nur stand Giereks Polen aus ihrer Sicht schon mit einem Bein im Paradies. Andererseits lagerten in den sowjetischen Geschäften Bedarfsartikel, die in der Türkei gefragt waren oder auch bei uns Polen fehlten: Kameras, Autozubehör und vor allem ganz schlichte Heimwerkerutensilien. Man konnte zudem versuchen, Rubel aus der Sowjetunion zu schmuggeln (ein heimtückisches Verbrechen, das mit der Beschlagnahmung der involvierten Summe sowie des benutzten Vehikels – des Familienwagens – geahndet wurde), um sie später gegen bulgarische Lewa zu tauschen, die bei den Schaffellhändlern in der Türkei hoch im Kurs standen. Um unsere Reisekosten möglichst gering zu halten, nahmen wir auch kiloweise Wurst, Packungen mit passierten Tomaten, Suppendosen und Gemüse mit; dazu die Grundausstattung: Zelte, Matratzen, Gaskocher und Ersatzteile für den Wagen. Mein Vater hatte meist schon an mehreren Wochenenden geprobt, um schließlich alles im Kofferraum, auf dem Dach und auf dem Rücksitz unseres Polski Fiat 125 verstauen zu können. Ich durfte es mir jedesmal zwischen den Zeltstangen und Reservestoßdämpfern auf dem Rücksitz gemütlich machen.

 

Der Geselligkeit halber, aber auch wegen der gegenseitigen Hilfe bei den unvermeidlichen Pannen, reisten wir immer zusammen mit zwei oder drei anderen Familien, deren Autos ebenfalls durch eine schwere Last tief in die Federung gedrückt wurden. Unangenehm wurde es gleich an der polnisch-sowjetischen Grenze bei Medyka. Nach einer kursorischen Kontrolle durch die polnischen Zöllner – die höchstens mal eine Kristallschale oder einen Staubsauger für den Eigengebrauch konfiszierten – landeten die Wagen in einem von Wachtürmen und Stacheldraht umgrenzten Niemandsland. Es war nicht ganz die »vereinigende Grenze«, über die ich in Schulbüchern und Zeitungen so viel gelesen hatte. Die Wartezeit betrug jedesmal mehrere Stunden, wenn nicht gar Tage. Häufig wurde der Grenzübergang ohne Vorwarnung geschlossen; dann ging gar nichts mehr, außer Fluchen und Abwarten. Es gab keine Läden, keine Cafés, keine Toiletten – nur eine Einöde mit hier und da ein paar Gräben und Büschen. Wir schliefen im Wagen und ließen wegen der Heizung den Motor laufen.

Endlich auf der sowjetischen Seite angekommen, begann der Zirkus erst recht. Offiziell waren wir zwar internationalistische Brüder und Schwestern, doch der sowjetische Zoll und die Einwanderungsbehörde behandelten uns mit größtem Mißtrauen. Das Verfahren war immer das gleiche. Zuerst wurden uns die Pässe abgenommen, die dann für mehrere Stunden im Büro der Einwanderungsbehörde verschwanden. Anschließend mußte jedes Fahrzeug auf einer Hebebühne untersucht werden; jemand klopfte dazu mit einem Hammer den Wagenboden ab. Ein anderer Grenzsoldat prüfte mit einem langen Stab den Benzintank. Wir mußten unser gesamtes Gepäck ausladen, damit die Zöllner feststellen konnten, ob wir im Wageninnern nicht einen Spion versteckt hielten. Oft verlangten sie irgendwelche kleinen Geschenke: die gelbgetönte Sonnenbrille meines Vaters oder eine Packung Rasierklingen. Wenn man es sich mit ihnen verscherzte, folgte unausweichlich eine Sonderkontrolle, bei der das Auto nahezu komplett auseinandergenommen wurde – zusammenbauen mußte man es hinterher selbst. Also hatten wir uns daran gewöhnt, einige der mitgeführten Handelsartikel einladend auf dem Armaturenbrett liegenzulassen. Am Ende der Kontrollen waren sie immer verschwunden.

Manchmal gab es heikle Situationen. Als wir eines Tages zur Reise aufbrachen, klebte hinter der Windschutzscheibe ein Farbporträt vom neuen Papst – aus patriotischem Wagemut hatte mein Vater es dort hingesteckt.

»Wer soll das sein?« schnauzte ein Zöllner und deutete auf die in Weiß gekleidete Figur, die segnend die Hand hob.

»Das?« Meinem Vater fiel jetzt plötzlich ein, daß die Zollbestimmungen die Einfuhr von religiösen Objekten in die Sowjetunion ausdrücklich untersagten. »Das ist einer unserer Generäle«, erwiderte er mit einem matten Lächeln.

»Ein General?« Der Grenzer starrte meinen Vater durchdringend an.

»Eigentlich ein Admiral. Er ist Kommandeur unserer Ostseeflotte«, sagte mein Vater, ohne eine Miene zu verziehen.

»Verstehe. Tolle Uniform!«

Die Strecke durch die Sowjetunion war von hohen Bäumen gesäumt – wahrscheinlich als Schutz gegen Schneestürme, obwohl alle munkelten, daß die Sowjets den Blick der Durchreisenden auf ihre brachliegenden Felder verstellen wollten. Wir durften nur der vorgeschriebenen Route folgen, die an jeder größeren Kreuzung von düsteren Wachtürmen aus Beton gesichert war. Wir bemerkten, daß die Wachmannschaften die Nummernschilder aller ausländischen Wagen registrierten. Die Straße zu verlassen, war nicht ratsam: Bald würde man von einer Streife gestoppt und in ärgerliche Dispute verwickelt werden.

Die Strecke führte uns durch die Stadt Lwów (Lemberg), die einst der östlichste Vorposten Österreich-Ungarns gewesen war und davor (bis 1772) sowie zwischen den Weltkriegen zu Polen gehört hatte. Die Geschichtslehrer in unserer Schule versuchten, die Annexion Lwóws durch die Sowjetunion im Jahre 1939 zu rechtfertigen: Der Osten Polens sei von jeher ein russischer Landstrich (von der Ukraine war erst gar nicht die Rede), in den jetzt die Sowjets nur einrückten, um die Bevölkerung vor den Deutschen zu schützen. Doch wie immer bei solchen Grenzstreitigkeiten in ethnisch vielfältigen Gegenden war auch dieser Fall äußerst kompliziert. Während die Landbevölkerung mehrheitlich aus Ukrainern bestand, wurde in Lwów selbst seit Jahrhunderten hauptsächlich Polnisch gesprochen. Jedes polnische Kind wußte, daß unser glückloser König Kasimir in der Kathedrale von Lwów geschworen hatte, das Schicksal der Bauern zu verbessern, nachdem sie ihm wieder zum Thron verholfen und die 1655 eingefallenen Schweden vertrieben hatten. Und auch jetzt, nach mehreren Jahrzehnten sowjetischer Verwaltung, machte die Stadt kaum einen russischen Eindruck. Die beiden Löwenstatuen, die in polnischen Liedern besungen werden, standen immer noch vor dem klassizistischen Rathaus. Der Rathausplatz stammte aus der Renaissance, ein angrenzendes Haus gehörte einst Johann III., der 1683 Wien von den Türken befreite. Der Markuslöwe bewachte den Eingang eines weiteren Hauses, in dem wahrscheinlich das venezianische Konsulat einmal untergebracht gewesen war, und zeugte von Lwóws herausragender Bedeutung und strategischer Position an einer der wichtigen Handelsstraßen nach Asien. Auf den Stufen des Denkmals zu Ehren des Dichters Adam Mickiewicz legten wir Blumen nieder. Damals fand ich es nicht weiter komisch, daß hier für einen Mann, der im heutigen Weißrußland geboren wurde und der Encyclopedia Judaica zufolge ein Jude war, der in Paris in polnischer Sprache sein bekanntestes Gedicht verfaßte, dessen Anfangszeile lautet: »Litauen, du meine Heimat, du bist wie die Gesundheit«, daß hier für diesen Mann ein Denkmal errichtet wurde, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die heute ukrainische Stadt zu Österreich-Ungarn gehörte.

Wir schauten uns auch das Lenin-Standbild auf der gegenüberliegenden Seite desselben Platzes an. Es hieß, das Monument sei aus den Trümmern einer Marienstatue errichtet worden, und man könne noch erkennen, wie unter Lenins Mantel die Lilien auf dem Kleid der Jungfrau Maria hervorlugten. Ich habe angestrengt hingesehen, aber nichts davon entdecken können. (Jahre später, es war 1991, erlebte ich mit Genugtuung, daß Lenin vom Platz entfernt wurde, und die Mär bewahrheitete sich irgendwie doch, wenn auch auf unerwartete Weise. Es stellte sich heraus, daß für den Sockel des Standbilds Grabsteine vom jüdischen Friedhof verwendet worden waren.)