Dem Leben vertrauen

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Ein ganz gewöhnlicher Held

Mein Onkel war ein Held. Wie alle Männer in der Familie meiner Mutter war er Arzt, zunächst Allgemeinmediziner und später Pathologe. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er an einem Gefecht teilgenommen und einen Orden bekommen.

Es hatte sich folgende Geschichte abgespielt: Mein Onkel gehörte einer Gruppe von Ärzten an, die die Kampftruppe begleitete. Einer falschen Meldung gehorchend, rückten die Soldaten zu einem Hügel vor, den sie unbesetzt wähnten. Als sie ihre Deckung verließen, eröffneten die gegnerischen Soldaten aus ihrem Versteck das Feuer, und innerhalb kürzester Zeit waren zahlreiche Männer verwundet oder lagen im Sterben. Die feindliche Truppe nahm das Gebiet weiterhin unter Dauerbeschuss. Niemand konnte gefahrlos aufrecht stehen. Erst zwölf Stunden später wurden die gegnerischen Soldaten durch einen Luftangriff kampfunfähig gemacht. Bereits lange vorher kroch mein Onkel mit auf den Rücken gebundenem Verbandsmaterial auf dem Bauch über das Schlachtfeld, setzte Aderpressen an, stillte Blutungen, nahm Botschaften entgegen, manchmal auf die Rückseite eines zerknautschten Fotos geschrieben, und spendete einen letzten Trost.

Als die Verstärkung eintraf und nachdem sich der Feind schließlich zurückgezogen hatte, wurde ersichtlich, dass mein Onkel Dutzenden Menschen das Leben gerettet hatte.

Er wurde für diese Tat ausgezeichnet und sein Bild auf der Titelseite unserer Zeitung, dem New York Daily Mirror, abgedruckt. Ich war damals etwa sieben Jahre alt und bekam, da ich zur Familie des Helden gehörte, alles brandaktuell mit. Am besten gefiel mir, dass er Urlaub bekommen hatte und uns besuchen wollte. Ich war ganz verrückt vor Aufregung.

Insgeheim wunderte mich seine Heldentat ein wenig. Mein Onkel war untersetzt, glatzköpfig und trug eine Brille. Er hatte sogar einen kleinen Schmerbauch. Sollte er sich verändert haben? Er hatte sich nicht verändert. Seit jeher ein schüchterner Mensch schien ihm all der Rummel unangenehm zu sein, genauso wie ihn der Besuch von Nachbarn, die einer nach dem anderen kamen und ihm die Hand schüttelten, eher belastete. Schließlich erwischte ich einen günstigen Augenblick. Ich setzte mich auf seinen Schoß und erzählte ihm, dass ich ihn für sehr tapfer halte und davon überzeugt sei, dass er nie vor etwas Angst habe. Lächelnd erklärte er mir, dass das keineswegs der Fall sei und er sich mehr gefürchtet habe als je in seinem Leben. Schwer enttäuscht, platzte ich heraus: „Aber warum haben sie dir dann einen Orden verliehen?“

Ruhig erklärte er mir, dass jeder, der in einer ähnlichen Situation keine Angst habe, ein Narr sei, und man vergebe keine Orden dafür, dass jemand sich wie ein Narr benehme. Tapfer zu sein bedeute nicht, keine Angst zu haben. Ein tapferer Mensch habe oft Angst und handle trotzdem.

Das war die erste von vielen Lehren über den Mut, die ich im Laufe meines bisherigen Lebens erhalten habe, und sie bedeutet mir viel. Als Kind hatte ich Angst vor der Dunkelheit und schämte mich deshalb. Aber wenn mein Onkel, der ein Held war, ebenfalls Angst hatte, gab es vielleicht auch für mich noch Hoffnung. Meine Furcht hemmte mich, ich fühlte mich gedemütigt, und mein Selbstbewusstsein war angeschlagen. Indem mir mein Onkel von seiner Furcht erzählte, befreite er mich. Sein Heldentum wurde zu einem Teil meiner Geschichte, genauso wie es Bestandteil seines Lebens geworden war.

Ärzte weinen nicht

Wer in einem medizinischen Beruf arbeitet, wird häufig mit Verlusterfahrungen und Enttäuschungen konfrontiert – zum Beispiel mit dem Labortest, der offenbart, dass eine medikamentöse Behandlung nicht angeschlagen hat, oder mit dem Tod eines Patienten – für jeden Arzt ein schwerer Schlag. Niemand, der professionell Kranke betreut, wird leicht damit fertig. Doch die meisten Verluste dieser Art werden weder zugegeben noch betrauert.

Ich halte inzwischen für die Medizinstudenten aus den Anfangssemestern an unserem Institut einen Kurs ab. In einem Abendseminar beschäftigen wir uns damit, wie wir mit Verlusten umgehen, arbeiten heraus, welche Einstellungen wir dazu aus unserem Elternhaus übernommen haben, legen unsere Bewältigungsstrategien bloß und prüfen, was wir tun, anstatt zu trauern. Diese Übung ist oft sehr aufschlussreich und fruchtbringend für die Studenten, die sich selbst und ihre Kommilitonen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln kennenlernen können.

Am Ende eines dieser Seminare stand eine Studentin auf und teile mir mit, dass ihre Klasse im Fach Psychiatrie bereits zwei Vorlesungen über die Trauer gehört habe. Ich hatte davon keine Ahnung, entschuldigte mich und schlug vor, für die Abenddiskussion ein anderes Thema zu wählen. „O nein“, sagte sie, „in der Vorlesung läuft alles ganz anders als hier. Wir werden mit theoretischem Wissen über das Trauern bombardiert, und uns wird beigebracht, wie man erkennt, wann unsere Patienten wegen eines Verlustes trauern und wie man sich in diesem Fall richtig verhält. Dass auch wir über etwas zu trauern hätten, darüber wird kein Wort verloren.“ Die Erwartung, dass es möglich sei, tagtäglich hautnah mit Leid und Verlust zu tun zu haben, ohne davon berührt zu werden, ist ebenso unrealistisch wie die Hoffnung, durchs Wasser zu schreiten, ohne nass zu werden. Sich auf diese Art zu verweigern ist keine Kleinigkeit. Die Art und Weise, wie wir mit Verlust umgehen, wirkt sich auf unsere Fähigkeit, uns dem Leben zu stellen, mehr als alles andere aus. So, wie wir uns vor den mit Verlust verbundenen Gefühlen schützen, distanzieren wir uns wahrscheinlich auch vom Leben.

Dass wir uns lieber abschotten als zu trauern und unsere Verletzungen auszukurieren, ist einer der Hauptgründe für das Burn-out-Syndrom, das Phänomen völligen Ausgebranntseins. Nur wenige meiner Patienten, die selbst im medizinischen Bereich tätig sind oder waren, haben Ausgebranntsein als Grund für ihre Konsultation genannt. Ich glaube, die meisten wussten nicht einmal, dass sie daran litten. Gewöhnlich bekomme ich zu hören: „Mit mir stimmt irgendetwas nicht. Ich sorge mich nicht mehr um meine Patienten. Vor meinen Augen können die schlimmsten Dinge passieren, und ich empfinde nichts.“

Doch Menschen, die sich wirklich nicht um andere sorgen, sind selten so verletzlich, dass sie ausbrennen. Psychopathen brennen nicht aus. Es gibt auch keine ausgebrannten Despoten oder Diktatoren. Nur Menschen, die zur Sorge fähig sind, können diesen Betäubungszustand erreichen. Wir brennen nicht deshalb aus, weil wir uns um nichts mehr sorgen, sondern weil wir nicht trauern. Wir brennen aus, weil wir so randvoll mit Verlusterfahrungen und Enttäuschungen sind, dass für die Sorge um andere kein Platz mehr bleibt.

In der Literatur über das Burn-out-Syndrom wird oft dazu geraten, auszuspannen, sich zu bewegen, zu spielen und sich von unrealistischen Erwartungen zu verabschieden, um zu genesen. Meiner Erfahrung nach ist das Burn-out-Syndrom jedoch nur dann tatsächlich heilbar, wenn die Leute lernen zu trauern. Die Fähigkeit, zu trauern, zeugt von dem Vermögen zur Selbstheilung, ist quasi das Gegengift zu übertriebener Professionalität. „Gesundheitsprofis“ weinen nicht. Leider.

Am zweiten Tag meines Praktikums in der Kinderklinik musste ich zusammen mit dem Assistenzarzt einem jungen Elternpaar den Tod ihres einzigen Kindes mitteilen. Es war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, den die Eltern unverletzt überstanden hatten. Unerfahren, wie ich war, weinte ich mit ihnen, als sie in Tränen ausbrachen. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, nahm mich mein Assistenzarzt beiseite und erklärte mir, dass ich mich unprofessionell verhalten habe. „Diese Leute haben erwartet, dass wir Stärke zeigen“, sagte er. Mein Verhalten hingegen habe sie deprimiert. Ich nahm mir seine Kritik sehr zu Herzen. Als ich später selbst Assistenzärztin war, habe ich über Jahre hinweg nicht geweint.

Zu dieser Zeit ertrank ein Baby in der Badewanne, das nur einen Moment lang unbeaufsichtigt gewesen war. Wir kämpften verzweifelt darum, es wiederzubeleben, mussten aber nach einer Stunde unsere Niederlage eingestehen. Zusammen mit einem jungen Praktikanten ging ich zu den Eltern, um ihnen zu sagen, dass wir ihr Kind nicht hatten retten können. Vom Leid überwältigt, begannen sie zu schluchzen. Nach einer Weile schaute mich der Vater an. Stark und schweigend stand ich da in meinem weißen Kittel, mit dem erschütterten Praktikanten neben mir. „Tut mir leid, Frau Doktor“, sagte der Vater. „Ich habe für kurze Zeit die Fassung verloren.“ Ich sehe diesen Mann mit seinem tränenüberströmten Gesicht noch vor mir, und ich denke beschämt an seine Entschuldigung zurück. Weil ich damals davon überzeugt war, dass Trauer zwecklos ist und Schwäche nur Zeitverschwendung, hatte ich mich so verhärtet, dass andere mich um Entschuldigung baten, wenn der Schmerz sie überwältigte.

Ich erinnere mich daran, wie wir während einer Schicht auf der Kinderstation des Memorial-Sloan-Kettering-Krebszentrums in New York feststellten, dass pro Tag ein Kind starb. Wir begannen unseren täglichen Rundgang in der Pathologie, wo wir den Todesfall des vorigen Tages oder der vergangenen Nacht erörterten, und jeden Morgen verließ ich die Pathologie mit dem Gedanken: „Also gut, auf zum nächsten Patienten.“

Diese Haltung einzunehmen hatte ich bereits zu Hause gelernt. An dem Nachmittag, als mein zehn Wochen altes Kätzchen überfahren wurde, ging meine Mutter mit mir in eine Tierhandlung und kaufte mir ein neues. Man brachte mir schon im Kindesalter bei, dass es am besten war, nicht darüber nachzudenken, wenn etwas Schlimmes passiert war, und sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Leider bestand das „andere“, mit dem ich mich als Ärztin zu beschäftigen hatte, meist aus einem weiteren Unglücksfall.

Als Quintessenz lässt sich daraus Folgendes ableiten: Der Sinn des Trauerns besteht nicht darin, irgendeinem Patienten zu helfen. Indem man trauert, hilft man sich selbst, wird fähig, nach einem Verlust weiterzumachen. Trauern heilt, ermöglicht einem, wieder zu lieben. Wenn man sich jedes Mal sofort dem nächsten „Fall“ zuwendet, büßt man allmählich seine Menschlichkeit ein, lernt den Tod anderer Menschen zu ertragen, ohne davon berührt zu werden. Man negiert die eigene Ganzheit und damit eine fundamentale Bedingung menschlichen Miteinanders.

 

Wer ist dieser Mann

hinter dem Mundschutz?

Einmal hatte ich gleichzeitig zwei Chirurgen als Patienten. Beide gehörten zum Lehrkörper der medizinischen Fakultät und wurden von ihren Kollegen sehr geschätzt. Sie suchten mich wegen Einsamkeit, Depressionen und Ausgebranntsein auf. Keiner der beiden wusste von den Problemen des anderen.

Nach und nach erzählten mir beide Männer, wie tief sie am Geschehen um sie herum Anteil nahmen, ohne es den Patienten zeigen oder mit Kollegen darüber sprechen zu können – obwohl sie manchmal das Bedürfnis dazu hatten, zum Beispiel, wenn im OP etwas schiefging oder ein Patient starb. Genau wie mir war diesen beiden Männern in ihrer Ausbildung eingetrichtert worden, dass Gefühlsäußerungen als unprofessionell, ja sogar unmännlich einzuschätzen waren. Infolgedessen fühlten sie sich allein gelassen und isoliert.

Auf dem sicheren Terrain, das meine Praxis bot, konnten sie sich indessen erlauben, sich laut über Fakten zu wundern, die nicht bewiesen werden konnten. Gab es eine Erklärung für die mysteriöse Tatsache, dass manche Chirurgen besser operierten als andere? Existierten unbekannte Faktoren, die das Überleben begünstigten? Die beiden Ärzte rätselten über das Phänomen des Lebenswillens und ärgerten sich darüber, dass Menschen operiert wurden, die glaubten, bereits im Sterben zu liegen. Sie erzählten mir Geschichten über ihre Patienten, staunten über die Stärke mancher Menschen, die trotz schrecklicher Leiden wieder auf die Beine kamen oder neu zu leben lernten.

Diese beiden Männer waren seit zwanzig Jahren Arbeitskollegen. Sie hatten eine gemeinsame Sprechstundenhilfe, gemeinsames Pflegepersonal, ein gemeinsames Büro, aber sie kannten einander nicht. Nun hatten sie auch eine gemeinsame Therapeutin, doch mein Berufsethos verbot mir, darüber auch nur die geringste Bemerkung fallen zu lassen. Ich habe beide ermutigt, mit Kollegen über die Therapie zu sprechen, erhielt aber immer nur dieselbe Antwort: „Mit ihm? Um Himmels willen! Er würde nur lachen.“

Wie Krebskranke fühlen sich Ärzte häufig durch die Art ihrer Erfahrungen und darüber hinaus wegen eines berufsbedingten Verhaltenskodex von anderen isoliert. In den von mir geleiteten Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte zeigte sich die Einsamkeit dieser Menschen auf viele verschiedene Weisen. In einer der Sitzungen berichtete ein Gastroenterologe von dem unerwarteten Tod eines seiner Patienten. Obwohl schon Jahre vergangen waren, begann jener Arzt im Kreis seiner Kollegen zu weinen und erzählte uns dann, dass er das noch nie getan habe und sich nun wesentlich besser fühle. Die anderen waren sehr bewegt. Einer fragte ihn, warum er damals nicht geweint habe. Der Gastroenterologe antwortete, dass nur ein anderer Arzt seine Gefühle hätte nachvollziehen können. „Doch wer würde schon vor einem Kollegen weinen?“ Wir verstanden alle sofort.

Einsamkeit wurde in diesen Seminaren oft auch auf symbolische Weise deutlich. Als Jon, ein auf die Entfernung von Tumoren spezialisierter Chirurg, gebeten wurde, seine Rolle als Arzt in einem Sandkastenmodell darzustellen, baute er folgende Szene auf: In größtmöglicher Entfernung von sich selbst platzierte er den offenen Rachen eines Hais. Zwischen diesen und sich stellte er eine Gruppe von Tonfiguren in einem Kreis auf. Unter den Figuren befanden sich ein von Hoffnungslosigkeit niedergedrückter Mann, eine Frau, die nur eine Brust besaß und kniend die Arme zum Gebet erhoben hatte, eine andere Frau, die versuchte, das Loch, an dessen Stelle sich ihr Herz hätte befinden sollen, zuzuhalten, sowie ein Mann, der die Arme ausstreckte, als wolle er unsichtbares Unheil abwehren. In die Mitte des Kreises legte Jon ein Stückchen brennenden Weihrauch und erklärte, der Rauch symbolisiere den Heilungsprozess dieser verwundeten Menschen, die nur deshalb genesen könnten, weil sie füreinander da seien.

Gleich neben sich platzierte Jon eine Katchina-Puppe. Katchinas gelten bei den Hopi-Indianern als Verkörperungen eines heilenden Geistes. Interessanterweise hatten in verschiedenen anderen Seminaren mehrere Ärzte diese Puppe ausgewählt, um sich selbst darzustellen. Hunderte von Krebspatienten hatten sie dazu benutzt, ihre eigene Heilung darzustellen. Die Tatsache, dass Ärzte diese Figur wählen, ist besonders aufschlussreich, denn sie hatte Risse und Sprünge und war beschädigt.

Jon legte einen Mundschutz zwischen die Katchina und die kreisförmig aufgestellten Figuren, um die Puppe vor deren Blicken zu verbergen. Hinter der Maske stehend, konnte die Puppe ungehindert lediglich den Hai betrachten. Ich fragte mich, ob Jon damit seine Position als Arzt symbolisieren wollte. Wenn er Krebspatienten behandelte, war sein verwundetes Selbst isoliert und unsichtbar; die Menschen, denen er half, sahen nur seinen Mundschutz. Er richtete seinen Blick allein auf die Krankheit. Die Szene im Sandkasten war ein treffendes Modell dafür.

Als Jon gebeten wurde, sein Modell zu erläutern, bot er folgende Interpretation an: „Da ist eine Bedrohung“, sagte er und deutete auf den Hai. „Diese Figuren stellen verwundete Menschen dar, meine Patienten. In ihrer Mitte befindet sich eine Heilstätte. Und hier stehe ich. Trotz meines Mundschutzes bin ich ebenfalls verwundet. Ich verliere mein linkes Ohr und verstecke mich hinter meinen Fähigkeiten und meinem Wissen. Nur der Hai kann mich sehen; er weiß, dass ich hier bin.“ Als Jon gebeten wurde, die Szene in einen Begriff zu fassen, sagte er: „Allein.“

Nach dieser Übung hatten die Seminarteilnehmer die Möglichkeit, ihr eigenes Modell nach Belieben zu verändern. Jon nahm die zerbrochene Katchina-Puppe hinter dem Mundschutz hervor und legte sie in den Kreis der verwundeten Figuren. Seine Augen röteten sich, aber er weinte nicht.

Die anderen Ärzte, die ihm zugeschaut hatten, waren von Jons Beitrag zum Sandkastenspiel sichtlich betroffen. Danach diskutierten sie noch stundenlang. Viele von ihnen hatten sich einsam gefühlt, waren aber bisher nicht dazu fähig gewesen, darüber zu sprechen.

Das Wehwehchen küssen

Von Kindesbeinen an wird uns gewöhnlich beigebracht, dass die Äußerung von Schmerzempfindungen auf mangelnde Selbstbeherrschung hindeute. Schmerz zu zeigen erscheint uns daher oft wie ein Verstoß gegen die guten Manieren. In anderen Kulturen bleibt man mit seinem Schmerz oder einem Verlusterlebnis nicht so allein wie bei uns. Wir jedoch leiden an unserer Einsamkeit zusätzlich und werden dadurch noch verwundbarer.

Eines Tages erklärte mir eine neue Klientin, die einen Termin verpasst hatte, dass sie in der Zeit, die sie hier bei mir hätte verbringen sollen, in der Notaufnahme gelegen habe. Ich hatte nichts davon gewusst und fragte sie, was geschehen sei. Sie erzählte mir, dass sie zeitweise an Verstopfung leide. Diese sei auf Bestrahlungen zurückzuführen, die nach einer bereits mehrere Jahre zurückliegenden Krebsoperation notwenig geworden waren. Die Schmerzen, die sie vor einer Woche empfunden habe, seien schlimm gewesen und hätten einen ganzen Tag lang angehalten, aber jetzt seien sie vorbei. Sie habe sofort gewusst, dass sie ernst zu nehmen seien, und habe eine kleine Tasche mit Make-up, Nachtzeug und einem bis zur Hälfte gelesenen Krimi gepackt. Dann sei sie allein zu dem vierzig Kilometer weit entfernten Krankenhaus gefahren.

Als gebranntes Kind wusste ich, wie unerträglich solche Schmerzen werden konnten. Ich fragte meine Klientin, wie sie damit habe Auto fahren können. Sie erwiderte, dass sie jeweils so lange gefahren sei, bis der Schmerz sie überwältigt habe. Dann habe sie angehalten und gewartet, bis er wieder vergangen sei. Sie habe sich vorsichtshalber eine Schüssel und ein Handtuch mitgenommen und sich ein- oder zweimal erbrochen. Sie habe sich sehr krank gefühlt, habe es aber, wenn auch im Schneckentempo, bis zum Krankenhaus geschafft. Erstaunt fragte ich sie, warum sie keine Freundin angerufen habe. Sie erklärte mir, es sei Mittagszeit gewesen und alle hätten gearbeitet.

Den nächsten Tag hatte sie allein im Krankenhaus verbracht. Ich fragte sie, warum sie nicht spätestens dann jemanden angerufen habe. „Warum hätte ich jemanden anrufen sollen?“, fragte sie irritiert. „Keiner von meinen Bekannten versteht etwas von Verstopfung.“

„Warum haben Sie dann nicht mich angerufen?“

„Nun, es ist ja auch nicht Ihr Fachgebiet“, erwiderte sie.

„Jessie“, sagte ich, „sogar Kinder suchen instinktiv die Nähe eines anderen Menschen, wenn sie hingefallen sind.“ Ziemlich aufgeregt meinte sie: „Ja, und das habe ich nie verstanden. Es ist doch dumm. Das Wehwehchen zu küssen hilft doch nicht gegen den Schmerz.“ Ich war verblüfft. „Jessie“, sagte ich, „es hilft zwar nicht gegen den Schmerz, aber es hilft gegen die Einsamkeit.“

Viele Menschen gehen mit dem Schmerz um wie Jessie. Wenn Jessie Schmerzen hatte, war das einzig Wertvolle, was ihr ein anderer bieten konnte, fachmännisches Wissen. Sie hatte ihre Mutter verloren, als sie noch ein Kind war. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass man gegen Einsamkeit etwas tun konnte.

Die Babyküsserin

Als Assistenzärztin in der Pädiatrie war ich eine heimliche Babyküsserin. Das war so eklatant „unprofessionell“, dass ich darauf achtete, nicht erwischt zu werden. Spätabends machte ich unter dem Vorwand, einen Verband oder eine Infusion zu überprüfen, oft allein die Runde auf der Station und gab den Babys einen Gutenachtkuss. Hatten sie ein Lieblingsspielzeug oder ein Schmusetuch, achtete ich darauf, dass es in ihrer Nähe lag, und wenn eines der Kinder weinte, sang ich ihm manchmal sogar eine Weile vor. Über diesen Aspekt meiner Pflegetätigkeit verlor ich nie ein Wort. Ich hatte die Befürchtung, dass mich die anderen Assistenzärzte, vorwiegend Männer, dafür verachten würden.

Eines Abends, als ich auf dem Korridor mit dem Vater eines Patienten sprach, sah ich, wie Stan, mein Chef, über das Bettchen eines kleinen leukämiekranken Mädchens gebeugt stand und es auf die Stirn küsste. In dem Moment wurde mir klar, dass auch andere sich bemühten, mehr als nur professionell zu sein und Mitgefühl zu zeigen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, darüber zu sprechen, um einander zu stärken.

Eines Nachts, kurz bevor man uns in den OP zu einem Kaiserschnitt rief, erzählte ich Stan, was ich gesehen hatte und dass es von großer Bedeutung für mich gewesen sei. Obwohl wir im Bereitschaftszimmer allein waren, leugnete Stan das Ganze.

Verlegen ließen wir das Thema fallen. Den Rest des Jahres arbeiteten wir zusammen, immer im Turnus von sechsunddreißig Stunden Bereitschaftsdienst und zwölf Stunden frei. Wir lernten uns gut kennen, tranken sogar gelegentlich freundschaftlich ein Gläschen zusammen, erwähnten jedoch diesen Vorfall nie mehr.

Stans Integrität war nahezu legendär. Er hätte niemals einen Laborwert gefälscht oder behauptet, einen Artikel gelesen zu haben, den er gar nicht kannte. Aber zuzugeben, wie er sich dem kleinen Mädchen gegenüber verhalten hatte, hätte für ihn einen gewaltigen Imageverlust bedeutet. Mitgefühl zu zeigen war damals unmöglich und ist auch heute nicht opportun, denn es verstößt gegen einen starren Berufskodex und widerspricht ganz einfach professionellem Verhalten. Sechsunddreißig Stunden am Stück zu arbeiten oder noch spätabends medizinische Fachliteratur zu lesen und sich über neue Behandlungsmethoden Gedanken zu machen wurde hingegen von uns erwartet. Ich habe schließlich aufgehört, Babys zu küssen. Es stand einfach zu viel für mich auf dem Spiel.

In gewisser Weise ist das Medizinstudium selbst eine Art Krankheit. Es dauerte Jahre, bis ich mich völlig davon erholt hatte.

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