Rabenflüstern

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Vom Tanzen nass geschwitzt, ließ sich Heikhe neben ihren Bruder auf eine Felldecke fallen. Sie zwinkerte ihrem entrückt lächelnden Bruder zu und fragte Lothar, der gerade eine Pause einlegte: »Wieso gibt es hier eigentlich keine Frauen?« Sedain hörte es und erwachte aus seinen Träumen. Wo war das Kindermädchen? Der Schnurrbärtige deutete auf zwei alte Weiber, um die sich trotz ihres mütterlichen Äußeren einige Soldaten geschart hatten. »Und Kinder?«, stimmte Gunther zu, als misstraute er der stummen Antwort, wobei er ebenfalls von der Trommel abließ.

Sedain schwante Übles. Wie konnten sie so blind gewesen sein? Er begab sich neben dem Caerführer in die Hocke. »Welchem Herrn ist dieses Dorf verpflichtet?«, fragte er unverblümt. Ein Mann, der schon gut über den Durst getrunken hatte, kicherte blöde. »Welchem Herrn?« Er nahm einen tiefen Schluck, dass ihm der Met klebrig über die stoppeligen Mundwinkel lief. »Seid ihr von vorgestern? Das Reich der hohen Königin wächst. Ihr befindet euch im Drudenland!«

Kraeh hatte den Waldrand erreicht und guter Laune betrat er den lichten Forst. Von den ehrwürdigen Eschen und Eichen ging die Ruhe aus, nach der er wohl eigentlich gesucht hatte. Die Stimme, die er zu hören geglaubt hatte, musste schlicht seinem inneren Bedürfnis entsprungen sein. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, tief in den Wald vorzudringen, doch ohne darüber nachzudenken, setzte er immerfort einen Fuß vor den anderen und vergaß allmählich die Zeit. Durch die Kronen der Bäume waren die Sterne zu sehen. Vögel zwitscherten und seine Fantasie beteiligte sich an ihren Gesprächen. »Sieh nur, es ist Kraeh«, pfiff eine Amsel. »Lauf, lauf«, mischte sich ein Rabe heiser dazu.

Ohne Hast ging er dem Abendstern entgegen, eingehüllt von den Geräuschen der einsetzenden Nacht. Alles lebte, huschte, hielt Ausschau, schlich durch das Laub, und Kraeh erfreute sich, ein Teil davon zu sein. Er fühlte sich nicht als Eindringling, vielmehr als willkommener Gast.

Auf einer von Birken umsäumten Lichtung verlangsamte er seinen Gang. Ihre grauen Rinden reflektierten das Licht der Sterne. Es war ihm, als hielten sie Wache. Ja, sie bewachten einen Stein, der in ihrer Mitte lag. Es war ein gewöhnlicher Felsbrocken, etwa von der Größe und Höhe eines zusammenkauernden Menschen; nichts deutete auf eine Besonderheit hin. Und doch ging von ihm eine gewisse Anziehungskraft aus.

Kraeh lehnte sich mit dem Rücken an ihn und streckte die Beine aus. Müdigkeit umfing ihn angenehm wie ein weiter warmer Mantel, und für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen. Zumindest glaubte er das.

Aber als er sie öffnet, ist es stockfinster um ihn herum. Die Sterne sind wie ausgelöscht und eine unglaubliche Schwere lastet auf seinen Gliedern. Er versucht aufzustehen, kann sich aber nicht dazu überwinden. In die Schwärze dringt ein diesiger Hauch, der nach frisch gemähtem Gras schmeckt, hüllt ihn ein und vernebelt seine Sinne.

Zwei Gestalten kommen aus grünlichem Dunst auf ihn zu.

Bald zeichnet sich ab, dass es sich um zwei merkwürdige Wesenheiten handelt. Die Linke ist breitschultrig, gehörnt und hat einen vorsichtigen, aber irgendwie ungelenken Gang. Es sind Bocksbeine, wird dem Krieger klar. Die andere ist von schlankerer Form. Sie wirkt geschlechtslos, ihre Haut ist weiß wie junger Schnee im Morgenlicht. Ein beinahe grelles Leuchten geht von ihr aus, scheint aber von der augenscheinlich älteren Kreatur absorbiert zu werden. Ein rätselhafter Flötenton begleitet ihre Schritte. Als würden Licht und Schatten im selben Moment existieren, denkt Kraeh. Er muss sich hüten, ihre Gegenwart wirkt paralysierend. Mit einer matten Armbewegung vergewissert er sich des Schwertes, dessen Griff über seine Schulter ragt.

Der Gehörnte bleibt zwei Ausfallschritte vor Kraeh stehen, auf dem Rücken trägt er ein unförmiges Bündel, das andere Wesen macht es ihm gleich. Er erkennt jetzt, dass die halb menschlich, halb tierische Kreatur getanzt hatte, denn auch jetzt lupft sie gelegentlich einen Huf.

Sie setzt eine dünne Flöte ab und schüttelt den Kopf, dass die gebogenen Hörner die Luft zerschneiden. Dabei stößt sie ein grotesk klingendes Wiehern aus. »Der furchtlose Kraeh«, sagt sie. Ihre Stimme erinnert an das Aneinanderreiben von Tannenzapfen. »Am Anfang seiner langen Reise besucht er uns. Schön, schön«, fährt sie fort. Dann tippt sie sich mit dem Zeigefinger auf die borkige Nase.

»Wer seid ihr?«, fragt Kraeh und merkt, wie schwer ihm das Sprechen fällt.

Der Bocksbeinige bleckt die Zähne und lässt sie knirschend aufeinanderreiben. »Ja, das Wort. Es wäre besser, die Menschen hätten nie sprechen gelernt. Buchstaben – und daraus bestehen Wörter und Sätze – begrenzen die Gedanken«, wies er den Krieger zurecht.

»Ich bin das, was Gläubige einen Engel nennen würden. Ein Gesandter des wahren Gottes, der neben sich keine anderen Namen zulässt«, lenkt nun das andere Wesen versöhnlich ein. Beim Sprechen bewegt es kaum die Lippen. Wie eine Klinge durch Wasser schneidet, fegt sein Diktum durch den Geist des Kriegers.

»Wir sind ein Pan«, wirft der Bocksbeinige schnell mit einem strengen Seitenblick auf seinen Gefährten ein.

»Seid ihr beide Diener jenes Gottes?«, will Kraeh wissen.

Die Flöte nervös zwischen den Fingern wirbelnd, spricht der Pan ungehalten: »Wir dienen niemandem.«

»Man dient uns«, fügt der Engel hinzu. »Doch unsre Zeit ist knapp.«

»Stimmt, stimmt«, fällt der Pan ihm ins Wort. »Wir müssen fertig sein, ehe ER kommt. Außerdem«, er zeigt so etwas wie ein Lächeln, »haben wir Geschenke.«

Die Lichtgestalt erhebt die rechte Hand – eine Gebärde voll Anmut und Macht –, beugt den Oberkörper ein wenig nach vorne und flüstert in ihrem hellen, schneidenden Ton. Instinktiv weiß Kraeh, dass das, was sie sagt, nur von ihm gehört werden kann.

»Wenn du das Auge hast, bringst du es mir. Meine Natur ist der Lüge nicht fähig. Ich verspreche dir, damit rettest du dich, jene, die dir teuer sind, und die ganze Welt vor großem Unheil, einer Ära der Finsternis. Bedenke wohl, für welche Seite du dich entscheidest.«

Kraehs Kopf fühlt sich an, als müsse er zerbersten; er nickt in der Hoffnung, der Engel möge seinen Geist in Frieden lassen.

»Fertig?«, heischt der Pan, teils gelangweilt, teils ungeduldig.

Ohne eine Antwort abzuwarten, lädt er das Bündel von seinem Rücken. Fürsorglich legt er die Frau, die Gorkas Gefangene war, vor seinen Hufen ab. »In Zukunft solltest du sie besser behandeln«, wispert er. »Was hast du nur gemacht, dass dir die liebe Lou nach dem Leben trachtet?« Die Frau ist offensichtlich bewusstlos, einem schlafenden Kind gleich liegt sie zusammengerollt da. Um ihren linken Arm windet sich eine Kreuzotter. »Husch!«, macht der Pan und die Schlange stellt den Kopf auf, zischelt einmal mit ihrer gespaltenen Zunge und kriecht dann in Wellenbewegungen ins Unterholz.

»Sie ist eine Tochter Erkentruds, von der auch das andere Geschenk stammt.«

Der Krieger wird trotz seiner misslichen Lage ärgerlich. »Noch so ein tolles Geschenk, das schon mir gehört und zu nichts nütze ist, außer mir in den Rücken zu fallen? Und wer ist überhaupt diese Erken…«

»Genug!«, fährt der Pan ihm über den Mund. Er ballt die Faust, öffnet sie aber gleich wieder, als würde er sich auf das enge Zeitfenster besinnen. Alle Hast und Spielerei fällt von ihm ab. In stolzer Erhabenheit greift er noch einmal hinter sich und befördert eine lange, ebenhölzerne Schatulle hervor. Eine Scheide, wie Kraeh sie noch nie gesehen hat. Aus ihr ragen die Griffe zweier Schwerter. Einer am oberen, einer am unteren Ende. Matt schimmert Elfenbein unter den kreisrunden Parierstangen. Sich vorbeugend, reicht der Pan sie dem Krieger. Mit letzter Kraft schließen sich seine Hände um das edle Holz und fallen, von dem Gewicht nach unten gezogen, herab. »Pian Anam und Lidunggrimm. Schmerz und Leid. Geschmiedet zu Anbeginn der Zeit, da Götter und Dämonen die Erde besiedelten«, erinnert der Überbringer sich ehrfürchtig.

Bestürzt starrt der Engel auf die schreckliche Gabe.

Ein Luftzug bringt den Dunst zum Wabern. Ein Summen, als würde eine Heerschar von Fliegen nahen, rauscht in Kraehs Ohren. Sich geschmeidig drehend, sucht der Engel die Umgebung ab, in seinen Augen zeigt sich Bedrängnis.

Das Summen wächst an, steigert sich zu einem Getöse gleich dem eines brausenden Wasserfalls. »Eile, junger Krieger«, ruft der Pan noch, »ER ist schon hier. Finde den Styx.«

Dann wird es schwarz.

Als Kraeh die Augen wieder öffnete, wusste er nicht, wo er sich befand. Die Frau, deren Namen er nun kannte, ruhte in zusammengekauerter Haltung vor ihm und langsam schien sie zu erwachen. Sie stöhnte, als sie sich mit den Händen auf dem Waldboden aufsetzte..

In seinem Schoß lag die hölzerne Scheide, doch die Lichtung und der Stein, an dem er eben noch gelehnt hatte, waren verschwunden. Hilferufe waren zu hören. Seine Gelenke knackten, während er sich hochkämpfte. Er zog eine der Klingen eine Handbreit heraus. Der Griff fühlte sich sonderbar vertraut an, so als hätten seine Finger ihn schon einmal umschlossen. Er schob den Gedanken beiseite. Es war ausgeschlossen, dass er solch eine außergewöhnliche Schmiedearbeit vergessen hatte. Ein einziges eingraviertes Schriftzeichen flammte wie schwarzes Feuer auf, züngelte und leckte am kalten Stahl.

***

»Lou, also«, sagte Kraeh missmutig, während er schleunigst versuchte, sich die Knochen einzurenken. Er fühlte sich wie gerädert.

Sie antwortete nicht, sondern legte einen dünnen Zeigefinger an die Lippen und spitzte die Ohren. Jetzt hörte auch der Krieger ein fernes Rufen. Lou sprang auf, Kraeh folgte. Ein tierisches Kreischen erhob sich. Im Laufschritt hasteten sie nebeneinander durch lichten Wald.

 

»Gib mir eines deiner Schwerter«, forderte sie. Der Krieger stieß einen Laut aus, der ein Lachen sein sollte. Er trug gerade drei Klingen und sie keine; das schien ihm in Anbetracht der Umstände nur zu fair. »Damit du damit auf mich losgehen kannst?« Erst als er seine Atmung wieder unter Kontrolle hatte, fragte er: »Du wolltest mich töten? Wie hattest du das eigentlich vor? Mit einer Schlange? Das ist doch wohl ein Witz!«

Lou hatte nicht die geringste Ahnung, wie er sie durchschaut hatte, aber das war gerade auch nicht wichtig. »Ihr Biss hätte dich kaum sterben lassen.« Katzenhaft balancierte sie über einen umgefallenen Baumstamm. »Ich hätte mich an dich rangemacht. Ihr Männer seid doch alle gleich; wenn sich die Gelegenheit ergibt, rutscht euer Verstand in die Lenden.« Sie musste laut sprechen, da Kraeh die Wasserlache umging, über die der Stamm führte. Wieder nebeneinander, gab er gereizt zurück: »Und du glaubst, ich würde mit einer dahergelaufenen …« Er stockte. Sie hatten den Waldrand erreicht und sahen auf das Feld neben der ausrangierten Mühle. Keuchend blieben sie stehen. Es dauerte einen Moment, bis sie das Geschehen, das sich vor ihren Augen auftat, richtig zu erfassen vermochten.

Sedain und Rhoderik hatten sich vor den Kindern aufgebaut, hieben abwechselnd mit Schwert und Axt auf eine riesenhafte Schreckenskreatur ein. Die Höllenbrut kreischte und schrie auf, wann immer der Stahl sie traf, wich aber nicht zurück. Sie hackte und schnappte mit ihrem deformierten Kiefer nach den beiden Kriegern. Zwei dieser Bestien kreisten, mit dunklen Schwingen Luft schlagend, am Nachthimmel. Eine saß auf der alten Mühle und suchte durch boshafte Augen nach einem Opfer. Sie war noch größer als die anderen. Kraeh vermutete in ihr den Anführer. Zwei andere befanden sich ebenfalls im Nahkampf. Eine Handvoll Soldaten hielt sie in Schach. Mindestens fünf der Männer aus Brisak waren schon gefallen. Ein Dorfbewohner rannte über das Feld, ein Bündel Waffen unter den Armen, und versuchte, diejenigen zu erreichen, die sich mit Dolchen oder bloßen Fäusten den vielbeinigen Bestien todesmutig entgegenstellten. Jene auf der Mühle schoss herab und trennte ihm im Sturzflug mit einer Klaue den Kopf von den Schultern. Blut spritzte.

Ohne ein Wort riss Kraeh die Zwillingsklingen heraus und warf eine Lou hinüber. Sie fing sie, stieß einen Schlachtruf aus und rannte in Richtung der bedrängten Kinder. Auch Kraeh rannte los, allerdings in der Absicht, dem Biest in den Rücken zu fallen.

Sedain erholte sich von einem Flügelschlag, der ihn am Kopf getroffen hatte, und betrachtete das ungeordnete Szenario. Rhoderik gab ihm mit schnellen Stichen die Zeit dazu.

Überall um sie herum wurde gekämpft. Zwei aus Thorwiks Mannschaft hatten sich an den Waffen bedient, die der unglückliche Dorfbewohner getragen hatte und die nun verstreut neben ihm lagen. Mit Pfeil und Bogen attackierten sie die kreisenden Ungeheuer. Ein Pfeil fand sein Ziel. Und kurz setzte der Flügelschlag aus, doch dann fing das Untier sich wieder und stürzte nun seinerseits auf den Schützen hinab. Es hatte den Anschein, dass die Klingen und Pfeile zwar Schmerzen verursachten, die Kreaturen aber nicht zu töten vermochten. Der alte Krieger wurde zu Boden geworfen. Schützend hob er das Schwert über sich, um dessen Klinge sich die Lefzen der Bestie schlossen, gegen die er und Sedain schon eine Weile gekämpft hatten. Sie schüttelte den Kopf und das Schwert flog in hohem Bogen durch die Luft. Sedain, dem immer noch schwindelte, stürmte vor und hieb ihr mit aller Kraft die Axt in die Seite. Sie geiferte Blut und wand sich, drehte sich dann aber umständlich staksend zu dem Halbelfen um. Seine Axt steckte tief in der schuppigen Haut; sosehr er auch zerrte, er bekam das Blatt nicht frei. Er konnte hören, wie Gunther hinter ihm weinte. Heikhe hatte die ganze Zeit über ängstlich ihren Dolch vor sich gehalten. Mit Schrecken erkannte er, dass die Bestie nicht dumm war. Sie erinnerte sich plötzlich an den Wehrlosen, der zu ihren Füßen lag, hielt ihn mit einem seiner Beine an der Stelle gefangen und öffnete ihren Rachen, um ihm den Kopf abzubeißen. Halb benommen blickte Rhoderik in den sich auftuenden Schlund. Der Fäulnisgeruch ließ ihn würgen. Dem Tod ins Gesicht schauend bedauerte er lediglich, kein Schwert in der Hand zu halten. Trotzdem hoffte er auf einen Platz an der hohen Kriegertafel im Jenseits.

Ein leuchtendes Zucken fuhr von unten durch den Hals der Bestie, durchschnitt Muskeln, Sehnen und Knochen. Die Klinge Leid hatte ihrem Namen Ehre gemacht. Sedain sah Kraeh an, der gerade die Bestie enthauptete hatte; ein entrücktes Frohlocken lag auf den Zügen seines Freundes, dass er ihn kaum wiedererkannte. Die entlaufene Frau hatte mit ihrem Schwert die Läufe der Bestie abgehackt. Sie war von oben bis unten mit dunklem Blut verschmiert, und auch in ihrem Gesicht fand sich Verzücken über die gräuliche Tat.

In jeder Schlacht gibt es einen Augenblick der Stille, immer dann, wenn sich das Blatt wendet. Dieser Augenblick war jetzt. Die Kreaturen mussten entsetzt gewesen sein, wie sie den Ersten der Ihren sterben sahen. Jeder dachte, die Entscheidung sei gefallen, da passierte etwas, mit dem keiner gerechnet hatte. Anstatt zu fliehen, ließ eine jede von ihrem Tun ab und wie auf Befehl stürzten sie gemeinsam auf Lou und Kraeh zu. Das Sichtfeld des Kriegers verdunkelte sich vor lauter Leibern, Schnauzen und Beinen, die auf ihn zurasten. Die mystische Klinge beschrieb einen grässlichen Halbkreis, dass abgeschlagene Gliedmaßen nur so umherstoben, dann warf er sich im letzten Moment auf den Boden und entging damit den Krallen der Angreifer. Lou tat es ähnlich. Synchron sprangen sie auf die Beine und warteten Rücken an Rücken auf die nächste Attacke.

Doch sie blieb aus. Die übrigen fünf Bestien breiteten urplötzlich die Schwingen aus und hoben ab. Mindestens drei von ihnen waren verstümmelt, aber dennoch entfernten sie sich rasch in die Lüfte. Es war noch zu erkennen, wie eine, mit einer Last beladen, sich vom Rest absonderte und nach Westen hielt.

Der Kampfesrausch fiel von Kraeh ab, ließ ihn dumpf und erschüttert zurück. Kaum wagte er es, nach den Kindern zu sehen.

Sedains Rücken war zerschunden. Aus tiefen Wunden floss Blut. Er hatte sich auf Heikhe geworfen, die am ganzen Leib bebte und schluchzend nach ihrem Bruder rief.

Der Seher hatte sein Ziel zur Hälfte erreicht.

Wenig später traf Thorwik mit den Männern ein, die auf dem Schiff zurückgeblieben waren. Ihre Schwertarme kamen zu spät, doch sie bauten behelfsmäßige Tragen, kümmerten sich um die Verwundeten und brachten sie zum Schiff.

Lothar kam herbeigerannt und lud sie ein zu bleiben. Rhoderik und Kraeh wahrten Höflichkeit, dankten ihm für Speise und Trank und schlugen das Angebot aus. Auch wenn ihm und seinem Dorf keine Schuld an den Ereignissen zuzuschreiben war, so waren sie doch misstrauisch geworden. Sie schüttelten Lothars Hand und er wünschte eine gute Weiterfahrt und den Schutz seiner Göttin.

Nachdem die Fraja in tieferes Wasser gestakt worden war, gab Thorwik den Befehl, die Segel zu hissen. Obwohl kaum Wind wehte und das Hauptsegel sich nur leicht füllte, blieben die Ruder eingezogen. Einige übergaben sich, den letzten Rausch aus ihren Leibern würgend, über die Reling. Auf dem Achterdeck hatte man ein Tuch gespannt, unter dem ihr Feldscher, der glücklicherweise auf dem Schiff zurückgeblieben war, die Verletzten versorgte. In erster Linie war er Soldat, hatte aber einiges von dem Feldarzt des brisakschen Heeres, mit dem er befreundet war, abgeguckt. Von ihm hatte er auch eine lederne Tasche für die Reise mitbekommen, aus der er Kräuter, Verbände, eine Säge und zwei kleinere Messer herausgekramt und vor sich ausgebreitet hatte. Im Schein mehrerer Öllampen lag Sedain mit bandagiertem Rücken neben zweien, die es wesentlich schlimmer erwischt hatte. Als Brandolf, wie der Feldscher hieß, die Knochensäge ansetzte, um einen leblosen Haufen zerfetzten Fleisches, der einmal das rechte Bein des Mannes neben ihm dargestellt hatte, vom Rest des Körpers abzuschneiden, drehte er den Kopf zur anderen Seite.

Nicht weit von ihm saß Kraeh, abwechselnd auf die mit Schnörkeln verzierte Scheide seiner neuen Schwerter und in die Stille der Nacht blickend. Er hatte sich geschworen, die Kinder zu beschützen, und hatte versagt. Bisher hatte er das Gefühl von Schuld nicht gekannt, jetzt lastete es schwer auf seiner Seele und sogleich entschied er sich, dieser neuen Regung keinen Platz einzuräumen. Er hatte keinen Bedarf, dieses widerliche Gefühl zur Gewohnheit werden zu lassen.

Rhoderik, dem sein Alter zum ersten Mal deutlich anzusehen war, setzte sich müde neben ihn. In seinen Armen hielt er Heikhe fest um sich geschlungen. Der Feldscher hatte ihr, da sie nicht aufgehört hatte zu weinen, ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie schlief einen unruhigen Schlaf, immer wenn ihre Augen im Traum zu flimmern begannen und ihr Körper zitterte, streichelte Rhoderik müde ihren Kopf. An seinem Arm pulsierte Blut aus einer Schnittwunde, doch er hatte sich vorgenommen, es zu ignorieren, bis Brandolf die ernsthaften Wunden versorgt hatte.

Ein knackendes Geräusch entstand, als die Säge auf Knochen traf.

»Denkst du, er ist tot?«, fragte der alte Krieger.

Es dauerte einen Moment, bevor Kraeh antwortete. »Ich hoffe es«, sagte er heiser, »für ihn.«

Beide starrten in die kaum auszumachende Uferböschung, die langsam an ihnen vorübertrieb, begleitet von den winselnden Lauten des dritten Verletzten, der im Fieber fantasierte. Eines der Biester hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt. Ohne große Hoffnung und auch ratlos ob einer so grässlichen Wunde, hatte der Feldscher ihm die herausgequollenen Gedärme zurück in den Leib geschoben und mit Klammern die Bauchdecke wieder verschlossen.

»Er sollte ihm den Gnadenstoß geben«, sagte Kraeh, unfähig, die bemitleidenswerten Klagelaute weiter zu überhören, erwartete aber keinen Zuspruch.

Eine Träne rann Rhoderik über die wettergegerbte Wange. Er hatte den Jungen lieb gewonnen. Nun war er tot oder ihm widerfuhr Schlimmeres.

Kraeh fühlte mit dem Alten und richtete seinen Blick auf das Mädchen. »Wir werden sie mit unsrem Leben verteidigen und sie auf den Thron setzen, der ihr zusteht. Das schwöre ich!«

»Aye«, knurrte Rhoderik, »und wer auch immer diese Kreaturen ausgesandt hat, wird um ein schnelles Ende betteln.«

»Das ihm nicht vergönnt sein wird«, ergänzte der Jüngere hasserfüllt.

Sie schwiegen.

»Ich hatte eine Begegnung …«, sagte Kraeh nach einer Weile. Er unterbrach sich jedoch selbst und wechselte das Thema, als er merkte, dass ihm die Worte zur Beschreibung der Ereignisse fehlten. »Du hast ein Recht zu erfahren, wohin uns diese Reise führt. Wir suchen einen Stein. Den Lia Fail«, fuhr er stattdessen fort.

Rhoderik nickte. »Auch ich hatte eine Begegnung. Eine Stimme sprach zu mir im Traum. Ihretwegen kreuzten sich unsre Wege.« In Kraehs Kopf arbeitete es. »War es eine helle, schmerzhafte oder eine tiefe und wohlklingende Stimme?«

»Weder noch.« Er strengte sich an, die Erinnerung wachzurufen. »Es war eindeutig eine Frau, die zu mir sprach. Sie hatte mich mit den Kindern ausgeschickt, dich zu finden. Von einem Stein hat sie nichts gesagt. Aber ich kenne natürlich die Legenden.«

»Ja«, fluchte der Krieger, »Legenden. Diese ganze stinkende Magie ist so unnötig wie ein Eimer voll Kuhmist.« Dabei glitten seine Finger über das elfenbeinerne Heft von Schmerz.

Rhoderik tätschelte Heikhes Nacken, der sich infolge eines Anfalls verkrampfte. »Ein Skalde hat mir einst erzählt, die Rede von Magie bedeute Ignoranz. Einem Regenwurm sei der Schnabel eines Vogels, der ihn pickt, magisch, da er ihn nicht versteht. Einem Eber der Pfeil des Jägers, einem Menschen der Zauberspruch des Zauberers, dem Zauberer das Treiben von Göttern und Dämonen. Wir würden nur das als magisch bezeichnen, was wir aus unsrer Natur heraus nicht verstehen können.«

Kraeh dachte nach, dann sagte er: »Ein kluger Mann, dieser Skalde.« Fügte aber nach kurzem Nachsinnen hinzu: »Auch Göttern und Dämonen werde ich das Bluten lehren, sollten sie mir oder der Kleinen in die Quere kommen.«

Fast hätte Rhoderik gelacht über die aufmunternde jugendliche Arroganz, brachte es aber nur zu einem angedeuteten Lächeln.

Beide hingen wieder ihren eigenen Gedanken nach, überschattet vom Klagen des Sterbenden und dem leisen Ächzen des Schiffes, das sie auf dem ruhigen Fluss einem dunklen Schicksal entgegentrug.

***

Die nächsten Tage war ein jeder bemüht, Alltag einkehren zu lassen. Der Kapitän wusste, dass der Alltag seine Mannschaft die Furcht vergessen ließ.

 

Sie wurden gejagt, das war jetzt gewiss. Rhoderik, Kraeh, er und auch Lou hatten einen Rat auf dem Heck des Schiffes abgehalten, während die Fraja ruderschlagend durch eine ungefährliche Stromschnelle auf Kurs gehalten wurde. Die fremd anmutende Frau hatte zugegeben, von der Drudenkönigin ausgesandt worden zu sein, im gleichen Atemzug aber versichert, nur den Auftrag zu haben, für das Wohl der Kinder zu sorgen. Als sie vorschlug, Heikhe mit sich zu nehmen und in Sicherheit zu bringen, war Kraeh sie erbost angegangen und hatte damit gedroht, sie über die Planken zu schmeißen, wenn sie es wagen sollte, dem Kind zu nahe zu kommen.

Nach einer kurzen Auseinandersetzung hatte sie sich für den Mummenschanz entschuldigt, was ihr sichtlich schwergefallen aber auch die einzige Möglichkeit war, den weißhaarigen Krieger zu besänftigen.

Sie hatte davon berichtet, ihre ihre Herrin schon lange das Aufkommen einer fremden Macht weissagte. Ein in die Zwischenwelten verbannter Gott trachte nach dem Leben der Königskinder und es sei von außerordentlicher Wichtigkeit, dass ihm nicht auch noch das Mädchen in die Hände fiel.

Auf ihre Frage bezüglich dem Ziel ihrer Fahrt hatte Kraeh nicht mehr preisgegeben, als dass sie zu den Dänen unterwegs seien, eine Reliquie zu bergen, deren Macht bestimmt auch gegen jenen Gott eingesetzt werden könne. Keiner der Anwesenden traute der Frau, trotz ihres Einsatzes gegen die Bestien. Zu viele Geschichten über die Gräueltaten der Druden spukten in ihren Köpfen, doch es war sicherlich besser, einen möglichen Feind dort zu haben, wo man ihn im Blick hatte. Sie hatten sich darauf geeinigt, bis zur See zusammenzubleiben und dann weiterzusehen, was sich ergebe.

Sicherheitshalber und aus Gründen der Abschreckung wurde die Speerschleuder auf dem Achterdeck festgemacht. Insgesamt waren sechs Mann über die Schwertbrücke gegangen. In der zweiten Nacht nachdem sie ablegt waren, hatte sich auch jener mit der Bauchwunde zu ihnen gesellt. Für die Moral an Bord war das von Vorteil. Die Arbeiten an Bord gingen leichter von der Hand ohne die Schmerzensschreie eines Sterbenden.

Kraeh verbrachte die meiste Zeit des Tages neben Sedains Krankenbett, der sich nur langsam erholte. Sie scherzten über seinen Heldenmut und kommentierten die Landschaft.

Während die eine Seite von morastigen Tümpeln und Sumpfgras dominierte wurde, zeigten sich auf der anderen gut bebaute Roggen- und Weizenäcker. Ein Gebiet, das vor langer Zeit mühsam, in trotzigem Kampf gegen den Fluss, der wilden Natur abgerungen worden war. Zuweilen sah man Bauern, die mit ihren Söhnen Feldarbeiten verrichteten, Ochsenkarren beluden, kurz: ein gewöhnliches und friedfertiges Leben führten. In größeren Abständen standen landeinwärts Wehrtürme, hin und wieder auch größere Befestigungsanlagen, von aufgeschütteten Erdwällen umgeben. An ihren Fahnenmasten flatterte die Lilie von Mont.

»Was meinst du, Sedain, ein Gehöft, ein schönes Weib und Kinder? Nach dieser Reise könnten wir uns niederlassen – ein normales Leben führen«, dachte Kraeh laut nach.

Der Halbelf lag auf der Seite und hörte belustigt seinem Freund zu, während der Feldscher die Verbände wechselte.

»Na klar«, entgegnete er ironisch, »und dann leben wir glücklich und in Eintracht bis zum Ende unsrer Tage.«

Sein Körper bäumte sich auf, als sein Rücken mit Alkohol desinfiziert wurde.

Der Schmerz ebbte langsam ab und er revidierte seine Meinung. »Mal ehrlich«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »im Moment klingt das gar nicht so schlecht.« Kraeh lächelte.

Lou, die das Gebiet gut kannte, stand häufig mit Thorwik am Steuerrad und wies ihn auf eventuelle Gefahren und Umgehungen von Stromschnellen hin. Ihre Ratschläge erwiesen sich als hilfreich und bald plauderten die beiden auch über andere Dinge. Unter anderem beschrieb sie ihm, bis an welche Grenzmarken sich das Gebiet ihrer Herrin in den letzten Jahren erweitert hatte.

Über Heikhes Wesen hatte sich Schwermut wie ein Schatten gebreitet. Mit ernstem Gesichtsausdruck lauschte sie Rhoderiks Ausführungen. Er klärte sie über die komplizierten Herrschaftsstrukturen der verschiedenen Fürstentümer auf, ihre Fehden und deren weit zurückreichenden Ursprünge. Sie bestand darauf, kämpfen zu lernen. Und so brach Rhoderik, als sie einmal zum Jagen und Früchtesammeln für einen halben Tag vor einer weiten Flur ankerten, vier junge Weidenruten, aus denen er Übungsschwerter bastelte. Die kürzeren Stücke verknotete er mit den längeren, um Parierstangen anzudeuten.

Wieder auf dem Strom, begann er mit einfachen Lektionen.

Sie lernte schnell und konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Übungen.

Es war eine gute Ablenkung für das gerade mal elf Sommer alte Mädchen, dachte Rhoderik. Nach zehn Tagen beherrschte Heikhe Paraden und Finten, sie focht ebenso gut wie ein Jüngling, der in seine erste Schlacht zieht; einzig ihrer Beinarbeit war noch verbesserungswürdig. Wenn sich einmal keiner der Soldaten, die das kriegerische Mädchen lieb gewonnen hatten, für einen Übungskampf hergeben wollte, vollführte sie Hiebe und Stiche gegen imaginäre Gegner und tänzelte dabei über das ganze Deck.

Sedain war mittlerweile wieder auf den Beinen, schonte sich aber auf Anweisung des Feldschers, so gut es ihm gelang. Sie hatten das Reich Mont und die letzten Ausläufer der Drudenlande unbehelligt hinter sich gelassen und steuerten geradewegs auf das Meer zu. Manchmal war im Wind schon Salz zu schmecken, Möwen legten dreist auf den Takelagen eine Pause ein, von wo aus sie das Achterdeck verdreckten.

Thorwik ließ die Ruderer den ganzen Tag und einen Großteil der Nacht durchs Wasser schlagen. Sie befanden sich nun in den wilden Landen. Urwüchsige Wälder erstreckten sich zu beiden Seiten des Flusses. In ihnen hausten sich befehdende Stämme, über die so gut wie nichts bekannt war, außer dass sie gelegentlich Raubzüge gegen das wohlhabende Mont führten. Lou charakterisierte sie als brutal, aber so schlecht organisiert, dass sie bei wachsamen Verhalten keine Gefahr darstellen dürften. An einer Engstelle erwartete sie einmal ein waffenstarrender, grölender Verband zotteliger Krieger. Als Kraeh die gut gerüsteten Soldaten antreten ließ und die Speerschleuder gespannt wurde, zogen sie Verwünschungen rufend ab.

Von den Harpyien, wie Thorwik die Kreaturen nannte, die den Jungen geraubt hatten, war nichts zu sehen gewesen. Des Nachts waren aber gelegentlich markerschütternde Schreie aus der Ferne zu vernehmen. Deshalb wurde die Fraja in der Abenddämmerung so gut beleuchtet, wie es eben ging. Zum einen hoffte man so, das Licht würde die dämonischen Kreaturen schrecken, zum anderen gaben sie etwaigen Räuberbanden zu verstehen, dass sie furchtlos waren und keine leichte Beute abgeben würden. Einmal liefen sie ein Fischerdorf an, kauften Lampenöl und stockten die Vorräte an Salz, Hafer und Pökelfleisch auf. Leute scharten sich um die kleine Anlegestelle, gafften und versuchten, sie durch Rufe zum Nächtigen zu überreden. Eine wohlgenährte Frau lupfte gar ihre Bluse und bot den Blick auf ihre prallen Brüste feil. Als der Matrose im Ausguck, mit dem Thorwik die ganze Zeit über Blickkontakt hielt, mit einem Zeichen zu verstehen gab, dass sich Reiter näherten, wurde der Handel schnellstmöglich abgeschlossen und der Anker gelichtet.

Sie hatten die Fahrt gerade wieder aufgenommen, als eine Schar Reiter auszumachen war, die das Banner Theodosus’, besser gesagt, seines Gottes mit sich führte. Sie waren zu weit entfernt, um Gesichter ausmachen zu können; das mächtige goldene Kreuz, in dessen Schnittpunkt eine rote Sichel eingelassen war, schimmerte jedoch deutlich im Sonnenlicht.

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