Rabenflüstern

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Bran fröstelte. »Er ist wie ein Sohn für mich.«

Langsam kam sein Gesprächspartner auf ihn zu. Die Bewegungen wirkten bedrohlich. Kurz vor ihm blieb er stehen und warf seine Kapuze zurück. »Wir alle bringen Opfer, um das große Ziel zu erreichen.« Der Fürst wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: das reptilienhafte, gelb schimmernde rechte Auge oder die leere Höhle in der linken Gesichtshälfte.

»Kraeh wird schon bald zu uns stoßen. Er braucht Zeit, sein wahres Wesen zu entdecken. Sorgt Euch nicht um ihn, ich werde mich seiner annehmen, wenn es so weit ist. Doch zuerst wird er uns darin nützlich sein, den Stein der Macht zu beschaffen.« Wie bitterer Honig träufelten seine Worte in Brans Gewissen. »Ihr müsst jetzt stark sein, König Bran.«

Brans Gesichtsausdruck fand bei der bloßen Erwähnung des sagenumwobenen Relikts beinahe seine gewohnte Entschlossenheit wieder.

Es klopfte an der Tür. Als der Fürst sich nicht regte, rief der Seher ärgerlich: »Herein!«

Zwei wie Jäger gekleidete Männer betraten mit gesenktem Haupt den Raum.

Der jüngere von beiden ergriff das Wort: »In Triberkh ist niemand mehr am Leben außer …«

»Außer?«, hakte der Seher mit gefährlichem Unterton nach.

Dem Angesprochenen wurde zusehends unwohl. »Zwei Kinder«, stammelte er, »die jüngsten Gunthers, sie waren nicht dort.«

Jetzt nahm auch Bran Anteil an der Unterredung.

»Jemand muss sie gewarnt haben …«

Der Seher war neben die Kundschafter getreten. Etwas, das einer Hand nur entfernt ähnlich sah, huschte blitzschnell aus der Kutte hervor und rammte sich bis zum Gelenk in die Magengegend des bisher Schweigenden.

»Sprich weiter«, sagte er ruhig zu dem anderen, die Zuckungen des Körpers vor ihm musternd, während er tiefer in die Gedärme vorstieß.

»Ich … Ich … werde sie finden.«

Der Gepeinigte röchelte qualvoll, nur die Kraft des Armes, mit dem er auf groteske Weise verbunden war, hielt ihn aufrecht.

»Das wirst du«, lautete die gnädige Antwort. »Wähle dreißig Mann aus und reite sofort los.«

So schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Klaue wieder. Leblos sackte der Körper in sich zusammen.

Der junge Soldat erschrak vor dem grauenvollen Anblick, besann sich dann aber auf sein eigenes Wohl, beugte sein Haupt vor dem Fürsten und verließ überstürzt den Raum und die dahinterliegende Halle.

Bran zitterte ob des Gräuels, dessen Zeuge er eben geworden war, und ebenso wegen der überbrachten Nachricht.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er beklommen.

»Wir fahren fort wie geplant. Ich reise zu Theodosus, jetzt wird er mir Gehör schenken. Und Ihr habt besser Eure Sinne zusammen, wenn ich zurückkehre.«

Wie ein Schatten bewegte sich der Seher zum Gehen.

»Was ist mit deinem Auge geschehen?«, traute sich Bran doch noch zu fragen.

Das Wesen drehte sich um, seine kahlen Lippen nahmen einen beinahe schelmischen Ausdruck an. »Wie gesagt, wir alle bringen unsre Opfer.«

***

Kraeh ritt neben dem immer noch angeschlagenen Sedain an der Spitze des heimkehrenden Heereszuges. Über einen Mond hatten sie in der eroberten Burg verbracht, ihre Wunden geleckt und der neuen Besatzung Instruktionen erteilt.

Über feuchte Ebenen, begrenzt von Bäumen und Sträuchern, die sich an die harten Bedingungen gewöhnt hatten, führte sie ihr Weg. Es war still, bis auf ein gelegentliches Stöhnen am Ende des Zuges, wo die Gefangenen durch ein langes Seil aneinandergekettet hinter den Siegern hertrotteten.

Die Stimmung der beiden war wie immer gelassen.

»Vielleicht statte ich der kleinen Roten diesmal einen Besuch ab«, versuchte Sedain seinen Freund zu reizen.

Kraeh stieß einen Pfiff aus. »Du kannst es ja mal versuchen. Aber ich muss dich warnen: Sie ist wählerisch.«

»Ganz offensichtlich nicht … Könnte doch sein, dass sie die Nase voll hat von Nekrophilie.« Aufreizend strich er sein dichtes, schwarzes Haar aus der Stirn.

Kraeh lächelte. »Wenn du sie erst einmal von den Vorzügen deiner Ohren …« Er kam nicht dazu, seine Neckerei auszuführen, Berbast hatte zu ihnen aufgeschlossen. Sein Streitross warf den Kopf zurück, als er an seinen Zügeln zerrte.

»Ihr seid eine Schande«, sagte er barsch, da er das Ende des Gesprächs der beiden mitbekommen hatte, »in der nächsten Welt wartet ein Platz als Hofnarren auf euch. Dort werdet ihr eure Zeit damit verbringen, echten Kriegern ein Schmunzeln abzuringen. Und glaubt mir, die Pforten stehen bereits offen.«

Kraehs Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.

Üblicherweise fiel es Kraeh zu, das Temperament seines Freundes zu bändigen; in dieser Situation bemerkte Sedain jedoch, dass es diesmal an ihm war. Er legte eine Hand auf Kraehs Arm. »Siehst du den Angstschweiß auf meiner Stirn, Bärenmann?«, fragte er betont lässig an Berbast gewandt.

Der hünenhafte Krieger ignorierte ihn und ließ sich wieder zurückfallen.

»Was, meinst du, hält unsre Freundin wohl von Sodomie?«

Die Spannung fiel von Kraeh ab und beide lachten, laut genug, um sicherzugehen, auch in den Reihen hinter ihnen gehört zu werden.

Nicht weit entfernt hockte eine Familie von Gnomen beim Mittagstisch. Kaum mehr als einen halben Mann messende, bucklige Gestalten. Als Behausung dienten ihnen offensichtlich die weit ausladenden Wurzeln eines Baumes. In dem Moment, da sich einer der Soldaten aus dem Zug löste und sich ihnen näherte, nahmen sie Reißaus. Fremde Arten, Erwachte oder Mutanten, wie einige sie nannten – je nachdem, wie man zu ihnen stand –, wurden seit Langem weder von Gunther noch von Theodosus in ihren Reichen geduldet. Die einzige Ausnahme bildete Sedain, und das auch nur, weil Kraeh sich damals bereit erklärt hatte, für ihn zu bürgen.

Ähnlich unwillkommen im eigenen Land fühlte sich der weißhaarige Krieger zwei Tage später bei ihrer Rückkehr. Es erwarteten sie keine Festlichkeiten, wie es nach einem derart großen Sieg üblich war. In der ersten Nacht gab es zwar eine Zecherei der Soldaten in der großen Halle, aber niemand, weder vom Adel noch aus dem einfachen Volk, war anwesend. Bran bekamen sie nur einmal bei einer Ansprache kurz zu Gesicht, in der er halbherzig Floskeln über den Ruhm Brisaks und die Tüchtigkeit seiner Streitkräfte verlor.

Überhaupt schien es Kraeh, als läge ein dunkles Geheimnis über der Stadt. Eine böse Ahnung schien sich in den Gesichtern der Menschen eingenistet zu haben, eine Ahnung ohne greifbaren Grund, der die Abgeschlagenheit und die Verbitterung der Gemüter rechtfertigen würde.

Sedain und Kraeh saßen in einer Schenke, als sich eine offensichtlich bestürzende Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitete, es wurde getuschelt und gemunkelt. Sie bestellten den Wirt zu sich, der ihnen unter vorgehaltener Hand zuraunte, dass der König und mit ihm seine ganze Familie umgekommen sei. Die Stimmen wurden lauter. Verschwörungstheorien wurden geäußert und verworfen. Am Nachbartisch war man sich bald einig, es müsse Maet, der intrigante Fürst von Mont, gewesen sein, der die Krone für sich haben wolle.

»Aber«, warf ein Junge, dessen fliehendes Kinn stolz die ersten Barthaare zur Schau stellte, altklug ein, »wer sagt, dass nicht Bran den Mord befohlen hat?«

Die flache Hand Kraehs schlug auf den Tisch, bedrohlich langsam stand er auf. Im Wirtshaus herrschte plötzlich Ruhe. Alle kannten, mochten und respektierten ihn und seinen Begleiter, schon dafür, dass sie sich nicht, wie all die anderen Offiziere, zu fein waren, Luft und Ale mit ihnen zu teilen.

»Steh auf«, sagte er in einem Tonfall, den niemand der Anwesenden von ihm gewohnt war.

Der Junge tat wie ihm geheißen. Seine Tunika war ihm ebenso zu weit wie der bronzene Armring an seinem Handgelenk.

»Wie ist dein Name, Soldat?«

Der Stolz eines Heranwachsenden ließ ihn Haltung bewahren, doch er musste seine Hände im Rücken verschränken, um ihr Zittern zu verbergen.

»Frederik, Sohn von Friedmund.« Seine Augen suchten die seiner Kameraden, die ein Stück von ihm weggerückt waren.

Sedain gähnte.

»Ich kannte deinen Vater, Frederik. Er war ein guter Krieger, besser, als du je sein wirst. Und weißt du auch warum?«

Die Frage blieb einige Wimpernschläge lang im Raum stehen. Augenblicke, die dem jungen Mann wie Tage vorkommen mussten.

»Weil er wusste, wofür er kämpfte.« Er wendete sich an alle im Raum. »Bran ist unser Fürst. Er ist ein großer Feldherr und aufrechter Herrscher. Hat einer unter euch jemals Hunger gelitten? Wer sorgt sich um Heim und Kind und wessen Mauern schützen euch tagein, tagaus vor den Bestien, die auf der anderen Seite des Flusses lauern?« Wieder eine Kunstpause. »Jeder hier kennt die Antwort. Überlegt euch wohl, mit wem ihr trinkt.« Er strafte Frederik mit einem letzten Blick und ging durch die volle Gaststube, wobei Stühle und Beine eilig weggezogen wurden, um ihm Platz zu machen.

»Aber …«, setzte der Belehrte an, Verschämtheit und Trotz rangen in seinen Zügen um die Vorherrschaft, doch ein Kopfschütteln Sedains brachte ihn davon ab, Einspruch zu erheben. Er ließ einige Kupferstücke auf den Tisch fallen und folgte dann seinem Freund vor die Tür.

»Großartig, du Held. Hier brauchen wir nicht mehr herzukommen.«

Kraeh winkte ab. »Es gibt genug Kaschemmen in Brisak.«

»Was sollte das überhaupt und woher wusstest du, dass sein Vater tot ist?«

»Nur so eine Vermutung …«

Sie schlenderten gemächlich von dannen, bis Kraeh seinen Freund am Arm packte und in eine Seitenstraße zog. Zuerst verstand Sedain nicht, aber dann lugten sie beide um die Ecke auf die Tür des Wirtshauses. Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, da stahl sich eine vermummte Gestalt aus dem Eingang und entfernte sich raschen Schrittes.

 

»Irgendetwas ist hier faul. Und ich meine nicht nur das sonderbare Ableben unsres alten Königs.«

Sedain nickte zustimmend. »Glaubst du, der Junge hatte recht?«

»Nein, aber Bran verhält sich eindeutig merkwürdig.«

Kraeh lag auf dem Bett eines Gasthauszimmers, das sich in einem der äußeren Ringe der Stadt an einen Hügel schmiegte. Sedain und er hatten das Angebot Brans, in einem der Gemächer der Burg zu wohnen, vor einigen Jahren abgelehnt. Das Gasthaus war für beide ein Ort der Zuflucht und Ruhe vor dem politischen Treiben. Sie nutzten den Ort, um sich zu erholen. Meist sprachen sie Abende lang kein Wort. Die Schlichtheit der Stube, deren Einrichtung aus zwei Betten, einem Schrank und einem Schreibtisch mit einem darüber hängenden Spiegel bestand, ließ sie die Turbulenzen der Außenwelt vergessen. Zumindest normalerweise, in dieser Nacht jedoch fand Kraeh keine Ruhe. Ein Diener hatte ihn für den morgigen Tag zu Bran bestellt. Er starrte an die Decke und seine Gedanken drehten sich im Kreis, untermalt von dem altbekannten Ton, der in vollkommener Regelmäßigkeit entstand, wenn Sedain einen Schleifstein über die Klinge seiner Axt zog. Er beneidete den Freund um seine Gelassenheit; ihm war es einerlei, für wen und unter welchen Umständen er seinem blutigen Handwerk nachging.

»Ich gehe noch mal raus«, sagte er schließlich.

Sedain sah auf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

»Sag liebe Grüße.« Doch Kraeh hatte schon die Tür hinter sich geschlossen.

Er wanderte weniger ziellos, als er sich eingestehen wollte, durch die engen Gassen der Stadt. Passierte er ein Tor, grüßte er die vertrauten Wachen, die gelangweilt auf ihre Hellebarden gestützt ihren Dienst verrichteten.

Der Schein des Sichelmondes wurde ständig von Wolkenschwaden unterbrochen, weit entfernt grollte Donner, als er vor einem mehrstöckigen Gebäude, von dessen Giebeln dämonische Fratzen lachten und wo in schiefen roten Lettern Magdalena geschrieben stand, haltmachte. Erleichtert stellte er fest, dass in dem Eckfenster im zweiten Stock eine Kerze brannte; die kleine Rote hatte demnach keinen Kunden. Wie jedes Mal versuchte er, sich an ihren richtigen Namen zu erinnern, und wie jedes Mal gab er es nach kurzer Zeit auf. Bei ihrem ersten Treffen vor drei Jahren hatte sie sich vorgestellt, beim zweiten Mal war es ihm peinlich, sie erneut zu fragen, und mittlerweile war es ihm unmöglich, sein Unwissen einzugestehen und sie damit vor den Kopf zu stoßen. Er klopfte an und ein bulliger Glatzkopf öffnete.

»Du weißt ja, wo’s langgeht.«

Kraeh schob sich an ihm vorbei, stieg eine muffige Treppe hoch, klopfte erneut und betrat das vertraut schäbige Zimmer.

Die Hälfte des Raums nahm eine mit bunt gemischten Fellen hergerichtete Schlafstätte ein, auf der eine spärlich verhüllte Frau saß; sofort nahm sie eine aufreizende Pose ein.

»Welch hoher Besuch«, sagte sie in ihrer flötenden Stimme, reckte sich und löschte die Kerze am Fenster mit den Fingern.

Ein Kohlebecken verbreitete eine glimmende Wärme.

»Schön, dich zu sehen, du wirst von Mal zu Mal anmutiger«, gab er zurück, und zog die Tür hinter sich zu.

»Ach ja?« Eines ihrer langen, elfenbeinfarbenen Beine rekelte sich unter ihrem Kleid hervor, wodurch der Saum bis zum Schritt nach oben verrutschte. Langsam fuhren ihre Zehen seine Oberschenkel hinauf. Das Blut in seinem Körper verlagerte sich, doch er bemühte sich um Beherrschung.

»Warte«, bat er. Sie zog ihren Fuß zurück.

»Was denn«, fragte sie leicht spöttisch, »heute nicht in Stimmung?«

Er ging nicht darauf ein. »Sag, ist dir in letzter Zeit etwas Seltsames aufgefallen?«

Sie wirkte verwirrt. »Was meinst du?«

»Du hast doch sicherlich von dem Tod Gunthers gehört. Was erzählen deine Kunden?«

Sie musterte ihn abschätzend. »Um ehrlich zu sein, ich habe mich nie viel darum geschert, was die Männer alles reden, solange sie am Ende zwei Silberstücke hierlassen.« Sie erkannte die Enttäuschung in Kraehs Gesicht. »Was soll’s?«, sagte sie, rückte ein paar Felle zurecht, legte sich seitlich darauf und lud Kraeh mit einer Geste ein, sich neben sie niederzulassen. Eine Armeslänge lag zwischen ihren Köpfen. Noch ein kurzes Zögern, ein Lächeln des attraktiven Mannes, dann ließ sie sich zwinkernd auf das Spiel ein.

»Vermutlich darf ich gar nicht darüber sprechen; schwöre mir, niemandem davon zu erzählen.«

Der Krieger legte die Hand aufs Herz.

»Also, viele denken, Bran hat mit dem Mord zu tun.«

»Was?!«

Sie setzte sich halb auf und verschränkte die Arme auf einem angewinkelten Knie.

»Schon gut«, lenkte er ein.

Sie wartete einen strafenden Moment, bevor sie fortfuhr.

»Man sagt, er habe große Pläne. Außerdem geht das Gerücht über einen unheimlichen Fremden in der Stadt um.«

Kraeh war hellwach, etwas regte sich in seiner Erinnerung.

»Das Sonderbare ist, dass niemand ihn bisher beschreiben konnte. Als handle es sich um einen Geist«, fügte sie flüsternd hinzu, kicherte dann aber über die eigenen Worte. »Auch munkelt man, es verschwänden Kinder aus den Dörfern. Aber du weißt ja, wie das einfache Volk so ist. Eine Kuh gibt saure Milch und eine Woche später ist sich jeder sicher, eine Drude mit zwei Köpfen gesehen zu haben.« Erneutes Kichern.

Sie ging auf die Knie, streckte den Oberkörper, fuhr mit der Linken hinter den Nacken und streifte gekonnt das Kleid über den Kopf. Nackt saß sie nun vor ihm und lächelte ihm erwartungsvoll entgegen.

»War’s das, du wissbegierige Krähe?«

Er versuchte nachzudenken, doch ihre steifen Brustwarzen ließen seine Erregung anschwellen und seine Gedanken zerfaserten irgendwo zwischen Bauchnabel und rot gelockter Scham.

Er setzte sich auf und nahm ihren Kopf in beide Hände. »Nicht ganz. Lass es uns endlich tun.«

Am Mittag des nächsten Tages betrat Kraeh übernächtigt die Audienzhalle seines Fürsten.

Bran wirkte einsam und müde, wie er da allein an der großen Tafel seiner Vorfahren saß. Aber seine Stimme war fest und bestimmt, als er seinen zweiten Krieger ansprach.

»Ich bin froh, dich zu sehen, Kraeh. Ich bin mir im Klaren darüber, dass böse Zungen dieser Tage schlecht über mich reden. Umso wichtiger sind in solchen Zeiten loyale Männer wie du.«

Der Auftritt in der Schenke hatte allem Anschein nach Wirkung gezeigt. Bran erhob sich und legte väterlich einen Arm um Kraehs Schultern. Er hatte sein glattes, braunes Haar zu einem Zopf gebunden. Gemächlichen Schrittes führte er ihn an den Gemälden der Altvorderen vorbei, deren Augen Ehrfurcht gebietend von beiden Seiten der Halle durch die Zeiten hindurch auf sie hinabblickten.

»Wir sind in einem Zustand der Schwäche, mein junger Freund. Ohne Einigung, ohne Hochkönig sind wir gefundenes Fressen für all die Wilden und Ruchlosen, die mit Neid auf unsre Ländereien schielen. Spione berichten, unter den Orks habe sich ein Kriegsherr hervorgetan, stark genug, die Stämme unter seinem Banner zu einen.«

Bran hielt vor dem ältesten der Bilder inne. Kraeh war das Abbild vertraut. Es war das unbeugsame Antlitz Hildebrands des Eroberers, das selbst vergilbt noch immer Stärke und Lebendigkeit ausstrahlte.

»Was weißt du von dem Lia Fail?«, fragte Bran eindringlich.

Ohne nachzudenken, antwortete der Krieger, er kenne die alten Geschichten. »Der Stein der Könige. Man sagt, durch seine Kraft sei das Reich der Rheinherren errichtet worden. Hildebrand habe, so sagt man, ihn von den Nornen selbst erhalten, die Orks auf die andere Seite des Flusses getrieben und die Grenzen gesteckt, wie sie heute noch sind. Wie er den Nornen versprochen hatte, behielt er den Stein nicht für sich, sondern schenkte ihn dem, den er für den Würdigsten hielt, die Bürde des Königtums zu tragen – König Giselmund.« Kraeh fiel auf, dass dessen Abbild fehlte. Er mutmaßte es in Triberkh, dem Sitz der Könige.

»Und weiter?«, forderte der Fürst ihn auf.

»Die Nornen, betrügerisch und rachsüchtig, entsagten den Menschen. Und der Stein der Macht verschwand in den dunklen Fluten des Rheins. Seither ward er nie mehr gesehen«, zitierte er die letzten Zeilen eines beinahe in Vergessenheit geratenen Volksliedes, das sein Ziehvater ihm beim Fischen oft vorgesungen hatte.

Bran lächelte. »Aber er ist wieder aus den Fluten aufgetaucht. Weit im Norden, wo die Dänen herrschen, sitzt eine Bestie auf ihm, man nennt sie Siebenstreich und sie versklavt die umliegenden Völker.« Langsam begann Kraeh zu verstehen, während Bran fortfuhr: »Seine Macht würde uns Frieden bringen. Was meinst du? Bezwingt die Krähe Fluss, Meer und Bestie und schenkt ihrem Land Einigkeit?«

Stille folgte, das Schweigen füllte die kühle Halle mit Schicksalsschwere. Selbst die Kerzen schienen den Atem anzuhalten.

Inse, Brans Frau, betrat die Halle und reichte den Männern wortlos mit Met gefüllte Hörner. Kraeh bedankte sich, während Bran die füllige Frau, deren einzige Bestimmung er darin sah, ihm gesunde Nachfahren zu gebären, wie meist ignorierte. Trotz ihrer emsigen Versuche, dieser Erwartung nachzukommen, hatten all ihre Schwangerschaften in Totgeburten geendet. Dennoch ließ Bran keinen Zweifel daran, dass ihre Stellung an seinem Hof sicher war. Für einen Fürsten gab es genug andere Möglichkeiten, sich um Nachkommenschaft zu kümmern. Sie konnte also durchaus zufrieden sein mit ihrer Lage. Nur gelegentlich, wie jetzt gerade, schien sie unter der geringen Zuwendung ihres Ehemannes zu leiden. So unscheinbar, wie sie gekommen war, huschte sie wieder von dannen und ließ die Männer allein. Kraeh nahm einen tiefen Schluck.

»Ich diene dir, mein Fürst«, brach der Krieger die Stille, »doch sage mir, wem wird der Stein zum Ruhm verhelfen, falls ich ihn dir bringe?«

Bran winkte ab, als ob Kraeh nicht richtig verstanden hätte. »Theodosus, Maet, mir – es spielt keine Rolle. Wir müssen die alten Zwistigkeiten beilegen, wenn wir überleben wollen.«

Nachdenklich nickte der Krieger. »Ich beschaffe dir den Stein. Wann soll die Reise beginnen?«

Bran klopfte ihm auf den Rücken. »Das ist mein Mann! So schnell wie möglich. Zwei Schiffe werden bereits beladen. Berbast bringt dich bis zur See, danach bist du auf dich allein gestellt.«

»Berbast …«

Bran ließ ihn nicht aussprechen.

»Keine Widerrede. Du wirst ihn brauchen. Orks lauern an den Ufern, der Drudenzirkel hat seine Ohren und wie wir erleben mussten, auch seine Dolche überall; und die wilden Stämme lechzen nach allem, was ihre Grenzen passiert, um Beute zu machen.«

Kraehs Missfallen war nicht zu übersehen. Orks und Wilde kümmerten ihn nicht. Ebenso wenig der Spionagearm der Hexenkönigin, dem Bran wohl die Ermordung Gunthers zuschrieb. Die Aussicht hingegen, den gehassten General wieder einmal an seiner Seite zu haben, machte ihn innerlich rasend. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, Bran von seinem Entschluss abzubringen.

»Und was ist mit dir? Wer schützt die Mauern Brisaks?«

Bran wurde ungehalten. »Ich bin nicht nur Fürst dieses Landes, weil ich gut reden und trinken kann. Ich weiß noch immer ein Schwert zu schwingen.«

»Natürlich, verzeiht«, lenkte Kraeh schnell ein. »In der Nacht von Ostera setzen wir Segel. Selbst wenn die Druden und der Zirkel wissen, was wir vorhaben, werden sie nicht erwarten, dass wir in jener Nacht aufbrechen.«

»So soll es geschehen«, stimmte Bran zu und versank in dem Abbild seines Urahns.

Die Festlichkeiten zur Sonnwende würden in zwei Tagen stattfinden; Zeit genug, ausreichende Vorbereitungen zu treffen.

Kraeh wandte sich zum Gehen.

»Eins noch.«

»Ja?«

»Pass auf dich auf. Mögen die Götter ihre schützenden Hände über dich halten.«

Kraeh beugte sein Haupt in Andeutung einer Verbeugung und verließ die Halle.

***

Zuerst hatte sich Rhoderik mit den Kindern querfeldein durch dichte Tannenwälder nach Westen bewegt. Nach mehreren Tagen hatte er jedoch beschlossen, das Wagnis einzugehen, einem Bergpfad zu folgen, der sie seiner Erinnerung nach auf die dem Rhein vorgelagerten Ebenen führen würde. In den Tagen, da er als junger Krieger diese Gebirge durchwandert hatte, war es Brauch gewesen, die in regelmäßigen Abständen unweit der Wege gelegenen Zufluchtsstätten, meist Blockhütten oder windgeschützte Verschläge, für den nächsten Reisenden mit Nahrungsmitteln und Feuerholz zurückzulassen. Er hoffte inständig, dass sich diese Sitte erhalten hatte. Ihr Proviant wurde knapp und die Kinder froren nachts, doch er wagte es nicht, jagen zu gehen, und nur selten ein Feuer zu entzünden. Es war hart für sie, tagein, tagaus zu laufen, und zehrte an den Kräften ihrer jungen Körper, die den wenig anstrengenden Alltag des Hoflebens gewöhnt waren. Obgleich sie ihn für die aufgezwungenen Strapazen hassten und ihn ihre Ablehnung bei jeder Gelegenheit spüren ließen, erfüllte es sein Herz mit Stolz, mit welcher Ausdauer sie mit ihm Schritt hielten. Gunther zählte sieben Sommer, Heikhe elf, doch sie marschierten wie junge Krieger auf dem Weg zur ersten Schlacht. Vielleicht, dachte er, lag es auch an ihm. Abends schmerzten seine Waden und am Morgen spürte er jeden Stein und jede Wurzel, auf der er gelegen hatte. Er verbot sich derlei Gedanken. Erst wenn die Kleinen in Sicherheit waren, würde er sich erlauben, die Schwächen seines Alters einzugestehen.

 

In der Dämmerung fanden sie eine spärlich getarnte Höhle. Es war Balsam für die Seele des Älteren, als sie dort einen Stapel Holz vor der Feuerstelle sowie gepökeltes Fleisch und sogar ein paar Kartoffeln in einer Grube unter einem markierten Stein vorfanden.

Sogleich entfachte Heikhe unter der Anleitung Rhoderiks ein Feuer, dessen Flammen bald gierig an dem trockenen Holz leckten und eine wohltuende Wärme ausstrahlten, das aufgrund der spitzen Bauart aber kaum Rauch aufsteigen ließ. Vor ihrem Unterschlupf wuchsen Brennnesseln, die sie schnitten, stampften und in einen kleinen Topf mit Wasser gaben. Die Kartoffeln stellten sich bei näherer Betrachtung als verfault heraus, so kauten sie auf dem trockenen Fleisch und spülten es mit dem bitteren Brennnesseltee hinunter.

»Ich möchte auch mal Feuer machen«, beschwerte sich Gunther, die winzigen Hände reibend.

»Das nächste Mal«, versprach Rhoderik.

Seine Miene war finster, was Heikhe, die für ihr Alter eine ausgeprägte Sensibilität an den Tag legte, sogleich bemerkte.

Den Tonfall einer ihrer älteren Schwestern nachahmend, fragte sie: »Was bekümmert dich?«

»Dir entgeht nichts, kleine Prinzessin, wie?«

»Nein«, sagte sie altklug.

Umständlich legte er einen Scheit Holz nach.

»Wenn wir die Berge hinter uns lassen, laufen wir Gefahr, direkt ins Netz unsrer Verfolger zu geraten. Ich weiß nicht, wem wir trauen können.«

Gunther stand der Mund offen, wie immer wenn er versuchte, einem ihrer Gespräche zu folgen. Die hohle Faust Heikhes verursachte ein klatschendes Geräusch an ihrer Stirn. »Wir müssen doch nur unsren Vater finden. Er ist zwar schon alt, noch älter als du, aber er ist immerhin der König. Der stärkste Mann auf der Welt.«

Rhoderik rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Du hast recht, das ist er.«

Die Kinder sollten nichts von seinen wenig trostreichen Ahnungen erfahren, bevor sie nicht bewiesen waren.

»Dummer, alter Mann«, setzte sie boshaft hinzu, worauf Gunther amüsiert kicherte. Heikhe äffte ihn nach und ein Gerangel entstand. Rhoderik ließ sie gewähren und dachte über ihre Möglichkeiten nach. Die Stimme in seinem Traum hatte sich vage ausgedrückt und einiges von dem, was sie gesagt hatte, befürchtete er, vergessen zu haben. Der Fluss war lang. Wo würden sie jenen Krieger mit den weißen Haaren treffen? Und sollten sie es überhaupt schaffen, wie würde er wohl reagieren? Wusste er überhaupt von seiner Bestimmung? War die Stimme auch ihm im Traum begegnet?

Winselnd bettelte der kleine Gunther im Schwitzkasten gefangen um Gnade, doch seine Schwester verstärkte den Druck noch.

»Gebt Ruhe und spart euch eure Kräfte«, mahnte er. Erst als er die Hand hob, gehorchten sie.

Es gab eigentlich nur drei Optionen. Erstens: irgendwo an den Ufern warten. Das würde immerhin zu der Ungenauigkeit jener Prophezeiung passen. Und dann die beiden Höhlen des Löwen: der Hafen von Mont, doch jeder wusste um die Korruptheit des Fürsten Maet. Und als letzte Möglichkeit: der Hafen von Brisak. Bran war seit jeher ein Unterstützer des Königs und der alten Gesetze gewesen. Aber sollte er an der Verschwörung nicht beteiligt gewesen sein, war nicht einmal sicher, ob er noch lebte. Es gab zu viele Ungewissheiten, außerdem waren sie abgeschnitten von allen Neuigkeiten.

Er bettete den Kopf auf den harten, felsigen Boden und verschob die Entscheidung auf später.

Seine Hand umschloss den Griff von Orgflaed, die Berührung der kühlen Klinge wirkte beruhigend auf seine angespannten Nerven und so sank der alte Krieger in einen leichten Schlaf.

Der nächste Morgen war frisch. Das Feuer war über Nacht ausgegangen. Heikhe räkelte sich auf ihrem Fellumhang, der ihr als Schlafstätte gedient hatte. Sie sah zu ihrem noch schlafenden Bruder hinüber, fand aber den Platz Rhoderiks verlassen vor.

Verträumt trat sie aus ihrem Unterschlupf. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie den alten Krieger wenige Schritte, das Schwert in der Hand, vor der Hütte stehen sah.

Zwei in helles Leder gekleidete Männer – einer von ungewöhnlich großer Statur, selbst im Vergleich zu dem an sich schon bärigen Rhoderik – hatten ebenfalls ihre Langschwerter und Dolche in den Händen. Sie versuchten, den Älteren zu umzingeln. Lauernd suchten sie nach einer Gelegenheit, ihn zu überrumpeln. Das Mädchen wunderte sich, keine Angst zu haben. Die bösen Männer schienen ihr fast lächerlich, wie sie ihre Klingen verlagerten, von links nach rechts tänzelten, während Rhoderik einfach nur dastand. Die Spitze der Klinge in seiner Rechten zeigte auf den Boden. Regungslos wartete er ab.

Auch als Heikhe ihn ansprach, ging nicht das leiseste Zucken über seinen zur Kalksäule erstarrten Körper.

»Wirst du sie töten? «, fragte sie keck.

»Geh zu deinem Bruder«, antwortete er.

Doch diese Situation war viel zu interessant, um den Schauplatz zu verlassen. Bisher hatte sie nur langweilige Turnierkämpfe gesehen, bei denen fast nie Blut floss. Nein, sie würde bleiben und lernen. Sie schätzte die Chancen ihres Entführers eher gering ein, waren seine Gegner doch zu zweit und der eine ein Riese. Etwas aber an der Gelassenheit von Rhoderik brachte sie zum Zweifeln.

»Der ist doch ein Kopf größer als du«, kommentierte sie das Vor- und Zurücktrippeln der beiden.

In kaum wahrnehmbarer Langsamkeit bewegte sich die Spitze von Orgflaed nach oben.

»Nicht mehr lange«, gab er über den Rücken an sie zurück.

Die runenverzierte Klinge glitzerte in den frühen Strahlen der Morgensonne. In dem Moment, da sie das reflektierte Licht in das Gesicht des Riesen zu Rhoderiks Rechten warf, sprang der alte Krieger in einer Drehung nach vorne. Mit einer Schnelligkeit, die ihm niemand der drei anderen Anwesenden zugetraut hätte, führte er einen Streich durch die Deckung des linken Mannes, der ihn diesen von der Schulter bis zur Hüfte in zwei Hälften teilte. In einem Schwall von Blut vollendete er die Drehung und hieb immer noch im gleichen Schwung das Schwert des anderen beiseite, dass es ihn durch den Aufprall zurücktaumeln ließ.

Der Riese sah das Blut seines Freundes im bärtigen Gesicht des Feindes, das ihn grimmig angrinste. Rhoderik wartete wieder, Augenblicke, die sein Feind nutzte, den Schrecken in Wut umzuwandeln.

»Zeit für die andere Seite«, grollte Rhoderik; Heikhe klatschte in die Hände.

Einen Kriegsschrei ausstoßend drang sein Gegner auf ihn ein.

Eine Finte mit dem Schwert sollte die Deckung des Alten öffnen, um den Dolch ins Ziel zu bringen. Doch Rhoderik erkannte das Vorhaben, ignorierte den Stoß und parierte den eigentlichen Angriff am Handgelenk seines Gegners. Wieder spritze Blut und der Dolch fiel samt der Faust, die ihn umklammerte, zu Boden. Rhoderik machte einen Schritt zurück und beantwortete den Angriff mit einem geraden Stoß. Orgflaed grub sich tief in die Magengegend seines Opfers. Er drehte die Klinge und riss sie heraus. Der Riese sank auf die Knie, die unversehrte Hand auf die klaffende Wunde pressend. »Siehst du, Kleine«, wendete er sich dem Mädchen zu, »so fällt man einen Riesen.« Mit einem einzigen Schlag hieb er dem Mann den Kopf von den Schultern.

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