Krähentanz

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»Siebenstreich!«, rief Kraeh voller Erstaunen.

Jetzt erkannte auch der Troll den Eindringling. »Bist du es, Kriegskrähe?«

»Aye, mein König. Ich bin es.«

Immer noch im Schreck, da er den Anblick der gewaltigen Gestalt nicht mehr gewohnt war, sah er dabei zu, wie Siebenstreich die Armbrust entspannte und neben sich an die Wand lehnte.

Gerade als Kraeh sich gänzlich gefasst hatte, fauchte das Schwanenweibchen erneut. Jemand musste ihm gefolgt sein. Kurz darauf trat Erkentrud ein. Sie grüßte den Troll und setzte sich ohne jede Furcht wie selbstverständlich an den Tisch zur Rechten des ehemaligen Königs, obwohl sie ihn keineswegs zu erkennen schien. Kraeh verharrte unsicher.

Siebenstreich bat ihn mit einem entschuldigenden Wink auf sein fehlendes Bein, ihm ein Döschen von einer Ablage zu reichen. Kraeh tat es. Der Troll öffnete das Döschen und entnahm ihm zwei Pfeifen, stopfte sie mit Tabak und bot die eine Kraeh an. Er nahm sie dankend entgegen und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Während sie pafften und Erkentrud etwas Unverständliches von riesenhaften Schweinen faselte, sahen sich die zwei alten Freunde unverblümt in die Augen. Beide erwogen sie Sinn und Zweck dieser Begegnung, die kein Zufall sein konnte.

Schließlich brach der Troll das Schweigen. »Eine Verrückte, ein Greis und ein Krüppel – ich habe es stets geliebt, die Prominenz der Welt unter meinem Dach zu versammeln.«

Kraeh lachte und war froh, dass Erkentrud einfiel, offensichtlich ungerührt von der Anrede Siebenstreichs, der ihren Geisteszustand erstaunlich schnell erraten hatte.

Der Scherz hatte die Verlegenheit nur kurz vertrieben. Sie hatten sich in Zeiten des Krieges kennengelernt, waren Schwertbrüder gewesen und erst jetzt fiel ihnen auf, dass die Umstände ihnen immer die Gesprächsthemen vorgegeben hatten. Nun, als ausrangierte Überreste längst vergangener Legenden, waren sie sprachlos in Ermangelung einer gemeinsamen Sache. Gerne hätten sie höfliche und banale Worte ausgetauscht, wie sie glaubten, dass andere Leute es taten, die sie sich nach langer Zeit wiedersahen. Aber sie waren keine einfachen Leute, sondern Regenten und Krieger. So berichtete Siebenstreich nüchtern, wie er Zeuge von Heikhes Entmachtung hatte werden müssen, wie er nach dem Zerfall der Rheinlande sich hierher zurückgezogen und einbeinig, wie er war, dem Stammeshäuptling dieses Gebietes im Zweikampf das Schwert aus der Hand geschlagen, dessen Leben aber verschont hatte. Nachdem dieses Ereignis sich herumgesprochen hatte, sei Frunda, der Kriegsherr der Gaesen hier erschienen und habe ihm versichert, keiner der ansässigen Stämme, die sämtlich unter seiner Schirmherrschaft stünden, würde ihn je wieder belästigen. »Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, ist er der Bruder deines Freundes Sedain. Wohl auch deshalb war er so großzügig, weil er von unserer beider Verstrickungen gehört hatte.«

Kraeh fuhr es unwillkürlich kalt den Rücken herab bei der Erwähnung des Namens.

»Hast du eine Ahnung, wo er steckt, wenn er nicht bei seinen Brüdern ist?«

Siebenstreich nahm einen tiefen Zug, der ihn zum Husten brachte. Ein Laut, wie aufeinanderreibende Felsen.

»Frunda wollte nicht über ihn reden.« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Ich glaube, wenn sie sich begegneten, würde einer den anderen töten. Die Fischer aber, die ich zuweilen für den Tabaknachschub aufsuche und die jede noch so unbedeutende Geschichte aufsaugen wie eine Wüste den Regen, munkeln, er sei in Dundolch und habe sich den Kruken angeschlossen.«

Endlich etwas, das Kraeh seit Langem beschäftigte und zu dem er sich nun eine eindeutige Erklärung erhoffen konnte. »Was genau hat es denn mit dieser Religion der Kruken oder Kruki auf sich? Ist es nicht der Eingottglaube, den wir schon vor so vielen Jahren bekämpft haben?«

Der Troll fuhr sich über die linke ergraute Augenbraue, so wie er es früher gern getan hatte, wenn eine Belehrung anstand. »Bei jeder Glaubensrichtung muss man die Unterscheidung treffen, an wen sie sich richtet. Die alten Vielgötterglauben zielten in der Hauptsache auf eine kleine Oberschicht ab, meist auf die Kriegerkasten.

Diese Zeit ist anders. Moneden wie die Sihhila und die Kruken haben es geschafft, ein System auszuarbeiten, dessen Wirkungsmacht sich durch alle Bevölkerungsschichten zieht. In ihrer Ausrichtung auf das Jenseits versprechen sie dem Bauer auf seinem Acker das Gleiche wie dem König auf seinem Thron. Der Grundtenor allerdings, zumindest bei den Kruken, ist dasselbe alte Lied, das wir schon damals zu verachteten pflegten. Sie beschwören, alles, was Freude bereitet, sei allein deshalb schon schlecht. Glaube mir«, Siebenstreich zwinkerte, »die können ihr Gemächt nicht anfassen, ohne Schuldgefühle zu bekommen.« Da beide sich beide gleichzeitig an den Eiern kratzten – eine Alltagsgeste damals in der bunten Halle –, lachten sie. Erkentrud lachte wieder schrill mit. Zuvor hatte sie die ganze Zeit über in die Flamme der Kerze gestarrt, als ob sie versuchte, sie mittels Gedanken- oder Zauberkraft zum Erlöschen zu bringen.

»Wie alt«, besann Kraeh sich, »ist dieses Lied eigentlich wirklich? Ich erinnere mich dunkel an eine wesentlich fernere Vorgeschichte.«

»Du hättest lesen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest«, wurde er streng zurechtgewiesen. »Jetzt ist es zu spät.« Ein resignierender Unterton lag auf einmal in der Stimme des Trolls, der Kraeh Angst machte.

»Ein Teil von Heilwigs Bibliothek wurde doch gerettet«, sagte der Greis schnell. Drei Rauchringe, die in ihrer perfekten Form für einige Übung sprachen, schwebten auf ihn zu.

»Verschone mich, Kraeh. Ich bin müde.«

»Ich dachte, Trolle werden alt«, versuchte er, den Freund zu entwaffnen, der tatsächlich sehr müde wirkte.

»Ich bin alt«, kam die schlichte Antwort und Kraeh wusste, dass er diesen Kampf verloren hatte.

Im Folgenden bot Siebenstreich, der nun nur noch bei seinem Geburtsnamen Fjönir angesprochen werden wollte, ihm umständlich, aber beharrlich an, sich mit ihm hier niederzulassen. »Die Welt braucht uns nicht mehr«, wiederholte er schwermütig. »Dieses Faktum musst du akzeptieren, sonst endest du mit dem Messer eines Strauchdiebes zwischen den Rippen.«

Erkentrud stieß unpassend ein frenetisches Gelächter aus. »Ich denke, sie wird bleiben«, sagte der weise Troll und streckte ihr dabei seine klauenartige Hand entgegen, die sie zaghaft annahm.

Kraeh sah dem Freund wie zum Eingang des Gesprächs tief in die trüben Augen. Erneut überkam ihn tiefe Traurigkeit. »Ich muss weiter. Zu viele Rätsel sind ungelöst.«

»Aye«, ahmte Siebenstreich ihn nach. »Aber die Welt wird immer nur aus Rätseln bestehen, wenn man es genau betrachtet. Allein, ich bin das Herumraten leid.«

Kraeh stand auf. Auch jetzt hätte er gerne wieder etwas gesagt, dass seine freundschaftlichen Gefühle ausdrückte, aber sie waren Krieger und Regenten. Er deutete erst vor Erkentrud, die ihn nicht einmal ansah, dann vor Siebenstreich eine Verbeugung an und überließ diese einstigen Größen ihrem Lebensabend.

Vor der Tür erwartete ihn, den Schwan mit Brotkrumen fütternd, schon der Wanderer. »Ich bin froh über deine Entscheidung. Gehen wir.«

* * *

Lange gehen sie zu zweit. Dem Plätschern eines Gebirgsbach folgen sie. Bald sind sie in einem Nadelwald, bald balancieren sie über granitene Klippenhänge. Es ist wie in einem Traum und tatsächlich spürt Kraeh seinen eigenen Kniff in den Oberarm nur sehr schwach. Sein Körper fühlt sich seltsam, fern und taub an. Auch ihre Gespräche sind vage und schmecken eher nach aufgewärmten Erinnerungen.

Was hatte der Wanderer gesagt? Die anderen seien schon vorgegangen? Ja, das war es.

»Wir treffen sie, wenn wir fertig sind.«

»Fertig mit was?«

»Mit unserem Tanz.«

Nun geht Kraeh auf, was ihm so fremd vorkommt: Er sieht nur zur Hälfte aus seinen eigenen Augen, der zweite Blick schwebt über ihnen. Er kann sich selbst dabei zuschauen, wie er ein angebotenes Wachtelei in der Hand wiegt, es schält, in den Mund schiebt, ohne zu kauen, schluckt und es die gefühllose Kehle hinuntergleitet.

Sie gelangen zuletzt auf eine weiß bedeckte Anhöhe. Schnee. Wie selbstverständlich entledigen sie sich ihrer Schuhe und dann ihrer Kleidung.

Beim Styx! Bin das wirklich ich?, fragt sich Kraeh, während er auf seine gebeugte, alte Gestalt herabblickt. Die Wirbelsäule gekrümmt, das Haar spärlich und strähnig wie auf einem Totenschädel, die Narben auf der fleckigen Haut werden von der Kälte an den Rändern rot hervorgehoben.

Indes der Alte bibbernd und doch nicht frierend dasteht, ritzt der Wanderer Zeichen in den Schnee. Als er einen Kreis direkt vor Kraehs Füßen schließt, richtet er sich zu voller Größe auf.

»Wir sind hier, einen Pakt zu schließen, einen alten Zauber zu wirken, die Macht der Erde zu beschwören. Und nach alter Manier fordere ich einen Schwur auf dein Blut.« Ein Dolch erscheint in seiner Hand. Er wirft ihn Kraeh zu.

Kraeh fischt ihn aus der Luft und bewegt Stimmbänder und Mund des Greises, der er ist. »Welchen Dienst lässt du mir angedeihen und was verlangst du?«

»Ich schenke dir, zu was du dich bereits entschieden hast. Ein zweites Leben, eine zweite Jugend und ich fordere dafür nicht mehr als Einlass zur rechten Zeit; Gastrecht, wenn du so willst.«

Es ist, als ob Forst, Stein und Tier den Atem anhalten. Alles harrt schweigend auf seine Erwiderung.

Er denkt an Heikhe, an den Kaiser, den er, als dieser noch ein kleiner Junge war, versagt hatte zu beschützen, an Sedain und den Spaß, den sie miteinander gehabt hatten, und schließlich an etwas, das er nicht zuordnen kann: eine Insel aus Fels und Stein. Nein, es ist nur anfangs eine Insel, doch das Eiland schwillt an, wächst immer mehr, bis es die Ausmaße eines ganzen Kontinents erreicht hat. Lachende Kinder wohnen dort, die sich in die Arme ihrer strahlenden Mütter fallen lassen. Eine freundliche Sonne umarmt sie liebevoll und beschützend. Es muss eine Ahnung sein, eine Vision dessen, was kommen würde, nähme er das Angebot an.

 

»Aye, das ist mein Wunsch«, sagt Kraeh schließlich und willigt in den Handel ein, indem er sich mit dem Dolch den Daumen ritzt.

Die Zeit steht still, der Tropfen Blut durchschneidet die kalte Luft. Beide sehen ihm nach, wie er fällt und schließlich zerplatzt und die winzige Stelle kristalliner Oberfläche sein Rot aufsaugt. Der gezogene Kreis beginnt zu knistern. Funken entstehen aus vermeintlichem Nichts. Aus den Funken werden Flammen und aus den Flammen eine Feuersbrunst, genährt von einem unsichtbaren Element. Überall um sie herum lodert es, die Flammen lecken nach ihren Körpern, doch ohne sie zu verletzen.

Das eine Auge des Wanderers neigt sich zum am Himmel prangenden Morgenstern, der in seinem Glanz, die anderen Sterne verblassen lässt. Er breitet die Arme aus und ruft etwas Unverständliches, führt sie über dem Kopf zusammen und dann herunter zur Brust. Kraeh sieht, wie er, flackernden Flammenschein im Gesicht, seine Flöte zückt und zu spielen beginnt.

Ein Donnerschlag untermalt den ersten Ton. Er spielt und singt. Kraeh fragt sich nicht, wie das gleichzeitig möglich ist.

Komm mit mir,

Tanz mit mir,

Dreh dich im Kreis,

Lache und springe,

Sei ein andermal leis’!

Jetzt fängt auch der Alte an, mit den Beinen zu scharren. Er hebt sie, wackelt mit dem Kopf, hüpft, wird mitgerissen von dem magischen Zwingtanz.

Komm und schrei,

Komm und tanz,

Hüpf auf einem Bein!

Immer zügelloser werden ihre Bewegungen. Sie drehen sich um die eigene Achse, entlang am Ring des Feuers, das um sie herum lodert. Schneeflocken fallen auf sie herab und wirbeln mit den Funken heiß und kalt an ihnen vorbei. Die Welt versinkt in tiefem Vergessen, engt sich ein auf den Schauplatz ihres Reigens. Der Nachthimmel wird zur Krone eines Baumes, dessen mächtiger Stamm in Feuer und Flamme wurzelt.

Komm mit mir,

Tanz mit mir,

Dreh dich im Kreis,

Lache und springe,

Sei ein andermal leis’!

Kraeh verliert sein Selbst, aber seine Glieder folgen weiter dem Takt, sausen und tosen rudernd durch die lodernde Luft. Bis er endlich strauchelt und lauthals lachend in den Schnee fällt.

Sei ein ander,

Sei ein ander,

Sei ein andrer!

* * *

Raum und Zeit hatten sie übertanzt, nun erinnerte die Sonne sie mit ihren ersten Strahlen wieder an ihren Rhythmus. Und zusammen mit der Ordnung der Dinge kehrte auch der Schmerz zurück in Kraehs Bewusstsein. Das Gefühl bahnte sich seinen Weg mit solcher Wucht zurück in seinen Körper, dass ihn beinahe ein zweiter Wahn übermannt hätte. Nur noch Pein, nur noch Qual, und er merkte, wie der Tod laut und deutlich an die Pforte seines Geistes klopfte.

Der Wanderer ließ sich auf die Knie neben ihm nieder, umfasste mit den beringten Fingern seine pochenden Schläfen und drückte fest die Daumen dagegen. Ohne den Druck zu verringern, ließ er sie kreisen.

»Was du spürst, ist nicht das Ende. Es ist der Anfang.«

»Jede Geburt bedeutet Schmerz.« Waren das seine Worte oder die seiner einäugigen Amme gewesen? Die Schwärze der Ohnmacht senkte sich über ihn und verschlang ihn gänzlich, ehe er diesen letzten Gedanken zu Ende verfolgen konnte.

* * *

Wieder war es die Sonne, die Kraeh aufweckte. Diesmal jedoch stand sie hoch und ihre wärmende Umarmung drang zu seinem Empfinden durch. Geblendet richtete er sich auf, was nicht leichtfiel, da er in eine schwere Decke gehüllt war, welche ihm nicht mehr Bewegungsfreiheit zugestand als die einengende Haut einer Raupe. Er befand sich am selben Platz, wo er zu Boden gegangen war, nur war das Feuer aus. Keine Asche oder sonstigen Verbrennungsreste zeugten von dem Stattgefundenen. Die Schneedecke hatte ihr Antlitz verändert. Nicht allein, dass sie in der Mittagssonne schmolz, sie erschien Kraeh generell wirklicher und nicht mehr beseelt und zauberhaft wie vor seinem Schlaf.

Von irgendeinem Unten vernahm er Stimmen. Dann sah er den Wanderer in Begleitung des Lockenkopfes einen schmalen Pfad zu seiner einsamen Höhe heraufflanieren. Beide grinsten, als er sich aus seinem Gefängnis wühlte.

»Können wir?«, fragte sein Tanzpartner leichthin.

Er antwortete nicht, wollte erst das Chaos in seinem Kopf sortieren, ehe er sich auf die Wirklichkeit einließ. Seinen Körper betastend stellte er fest, dass keine nennenswerte Veränderung mit ihm vonstattengegangen war. Obwohl … Sein Rücken fühlte sich ein wenig gerader an und das beständige Ziehen in seinem Schultergelenk, an das er sich mittlerweile so gewöhnt hatte, dass es ihm in den letzten Jahren kaum noch aufgefallen war, schien etwas besser.

»Schau nicht so ungläubig«, tadelte ihn der Wanderer. »Ich lüge nie. Alle Veränderung braucht ihre Zeit.« Er deutete auf ein Bündel an Kraehs Seite, das halb unter der Decke verborgen war. Schnell fuhr seine Hand an das Heft Lidunggrimms. Und da war es. Das alte Frohlocken, wenn seine Finger die Todesbringerin umschlossen. Er kam auf die Beine; der Schwindel verflog schnell. Instinkthaft zog er die Klinge aus ihrer Scheide. Licht spiegelte sich auf ihrem kalten Stahl und blendete seine Augen. Eine Träne rann seine linke Wange herab. Er fand keine angemessenen Worte des Dankes, so schwieg er die Männer vor sich an. Zu Leid aber sagte er stumm, auf die Weise, wie nur Krieger mit ihren Klingen sprechen: Wir sind wieder im Spiel.

3. Ein Sturm zieht auf

Sedain befand sich immer noch in einer Art Schockzustand, ob vor Entsetzen oder Freude, wusste er nicht zu bestimmen. Er starrte auf das Schriftstück auf seinem Schreibtisch. Um genau zu sein, war es nur ein Wort, ein Name, den er beharrlich anstarrte und dessen Klang auf sich wirken ließ: Kriegskrähe.

So hatte sich der alte Mann angeblich selbst bezeichnet, ehe er die fünf Gefährten des einzigen Überlebenden in die nächste Welt befördert hatte. Die Nachricht hatte Dundolch bereits vor einer Woche über eine Brieftaube erreicht, war aber erst jetzt, da es sich in den Augen seines Assistenten um einen nichtigen Vorfall an den weit entfernten Grenzen des Reiches gehandelt hatte, bei ihm angelangt. Er hätte überhaupt nicht davon erfahren, wenn er nicht zufällig einem Gespräch seiner letzten Jagdgesellschaft beigewohnt hätte, dessen Inhalt sich um ebendieses Schreiben gedreht hatte. Scherzend hatten sie das Ereignis als den erbärmlichen Versuch der Sihhila abgetan, eine alte Legende aufleben zu lassen. Ein Aufschneider, der kämpfen könne, nichts weiter. Sedain war sich da nicht so sicher, zumal er vorherige Nacht vom Kaiser zu einer Besprechung unter vier Augen beordert worden war, in der sich herausgestellt hatte, dass jenem merkwürdig viel an der Sache zu liegen schien. Der Kaiser hatte Andeutungen gemacht, die Sedain ganz und gar nicht behagten. Sie nährten sein Unwohlsein, das ihn in letzter Zeit oft quälte und im Eigentlichen seiner Furcht vor Veränderung entsprang. Auch wenn Kaiser Gunther ihm nicht den expliziten Auftrag gegeben hätte, wäre er darangegangen, die Sache einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. So tat er es allerdings in voller Autorität der Krone, was Dunjal bereits zu spüren bekommen hatte. Sedain war heute Morgen noch vor dem Frühstück fuchsteufelswild in dessen Kammer gestapft, wo er bisher nie aufgetaucht war, und hatte diesem eine Strafpredigt gehalten, die jener so schnell nicht vergessen würde. Sedains Zorn auf Dunjal wuchs mit jedem Augenblick, den er nicht mit dem verlangten Zeugen im Schlepptau anklopfte. Die Zwillinge hatten den Mann namens Bethlan hierher in die Hauptstadt eskortiert, wie so oft schneller, als jemand sich erklären konnte. Überflüssig zu erwähnen, dass Sedain diese finsteren Lakeien nicht mochte. Schließlich mochte er niemanden außer seinen Freunden, deren Zahl ohne Kraeh auf gerade einmal zwei geschrumpft war: seine Frau und Fordwin, wobei er Letzteren im Grunde eher als ihm Gleichgesinnten denn als wahren Freund betrachtete. Im Gegensatz zu den meisten am Hof fürchtete er die Zwillinge jedoch auch nicht. Sie waren ihm schlicht lästig wie alle Menschen, mit denen er zwangsläufig zu tun hatte. Allmählich allerdings ärgerte er sich über sich selbst, den Schwächling Dunjal zu ihnen geschickt zu haben. Gleich Katzen, die mit einer Maus spielen, würden sie ihm auf der Nase herumtanzen und damit letztlich seine Zeit stehlen.

Er stellte fest, wie ruhig er trotz der inneren Anspannung nach außen hin wirkte. Eine Selbstbeherrschung, die er bei den Gaesen gelernt hatte und deren Fehlen, er bei anderen zutiefst verachtete. Es gab wenig, was er mehr hasste als die offenkundige Nervosität von Angeklagten, die ihre Schuld schon durch die Frequenz ihres Blinzelns eingestanden, ihm damit zwar die Arbeit erleichterten, sie zugleich aber abwerteten.

Seine Miene war noch immer eine undurchschaubare Maske, als es endlich an der Tür pochte. Herein kamen Dunjal und ein verängstigt dreinblickender junger Mann.

»Gestatten, Bethlan«, stellte er sich vor. Unter seinem kurzen, braunen Haar glänzten trotz der Kühle im Raum Schweißperlen, seine Stimme jedoch war ein schwerer, fester Bariton. Sedain entschied sich spontan, ihn nicht leiden zu können, zugleich jedoch dazu, ihm mehr Respekt entgegenzubringen als dem Häuflein Elend neben ihm; immerhin war Bethlan Soldat.

Er bot ihm an, sich hinzusetzten. Über Dunjal machte er einen abwertenden Scherz, woraufhin sich dieser schmollend trollte. Hat er sich allen Ernstes und gegen alle Erfahrung der Hoffnung hingegeben, er würde eine Entschuldigung für den unangenehmen Morgen hören?, sann Sedain kurz, ehe er sich vollständig dem Verhör widmete. Wie sich herausstellte, waren es weniger die Zwillinge oder Sedains eigene Autorität, die dem Soldaten den Schweiß auf die Stirn trieben, als vielmehr die Erinnerungen an den über eine Woche zurückliegenden Vorfall, die er nun zum zweiten Mal an diesem Tag wachrufen musste. Sein Bericht nahm im Kopf des Halbelfen Gestalt an.

Es war der dreiundzwanzigste Noviembre. Die ersten Schneefälle hatten in den nördlichen Grenzgebieten des Reiches eingesetzt. Bethlan, der wegen einer Weibergeschichte strafversetzt worden war, langweilte sich mit seinen Kameraden wie jeden Tag an der Brücke, die sie zu bewachen hatten. Sein Vorgesetzter bemühte sich schon längst nicht mehr, die Moral der unterbezahlten Einheit aufrechtzuerhalten. Auch diesen Tag hatte er sein Kommando an einen unterbelichteten, aber ehrgeizigen Unteroffizier abgegeben, um sich die Zeit mit dem ansässigen Obmann beim Kartenspiel zu vertreiben. Rugan, wie der junge Unteroffizier hieß, wollte nichts von der Zwecklosigkeit ihres Wachdienstes hören, kontrollierte akribisch das Erscheinungsbild seiner Kameraden und zwang in rotierendem System immer einen zu Kundschaftsgängen. Als Bethlan von einem dieser Gänge mit einem weißhaarigen jungen Mann, an dessen Seite ein kostbares Schwert hing, schwatzend zurückkehrte, war er dennoch selbst überrascht gewesen, möglicherweise etwas zu tun zu bekommen. In harschem Ton unterband Rugan das Gespräch der beiden und befahl dem Fremden, sich auszuweisen. Dieser meinte, die geziemende Anrede aussparend, sein Name sei Henfir und er wolle sich die große weite Welt anschauen. Die ungenaue Angabe seines Begehrs und der Mangel an Respekt brachten Rugan dazu, ihn anzufahren. Die Welt sei in jede Richtung weit, und sofern er keinen Händlerschein habe, solle er entweder auf dem Absatz kehrtmachen oder seine Waffen abgeben, ein Pensionszimmer in der nächsten Stadt anmieten und dort auf die Ankunft des Bischopos warten, der vorhabe, im nächsten Mond durchzureisen. Bei ihm könne er einen Treueeid auf Gott und Krone ablegen, danach zurückkehren und, wenn er Glück habe, seine Waffen zurückbekommen.

»Was genau ist dann geschehen?«, drängte Sedain.

»Zuerst sagte er, er wolle keinen Streit. Da er den Kaiser jedoch kaum kenne, den Gott, von dem Rugan spreche, sogar noch weniger, werde er auf keinen der beiden einen Schwur ablegen. Sein Schwert könne er ihm auch nicht anvertrauen, weil er ihn sonst töten müsse. Als ich ihn im Wald getroffen habe, war er abgestiegen und hatte sein Pferd an den Zügeln genommen. So stand er nun am einen Ende der Brücke, während ich mich zu meinen Gefährten auf der anderen Seite gesellte, denen sichtlich unbehaglich zumute wurde. Andererseits ist für uns Soldaten an der Grenze der größte Feind die Langeweile. So waren meine Kameraden zwiegespalten, als Rugan den Fremden nach kurzer Fassungslosigkeit in allen Bildern, die ihm zur Verfügung standen, zu beleidigen begann. Rugan befand sich in einer verzwickten Lage. Solange dieser Verräter und Gotteslästerer keine Anstalten unternahm, die Grenze zu passieren, und keine Herausforderung aussprach, waren ihm per Gesetz die Hände gebunden. Also gab er sein Bestes, eine solche zu provozieren. Er nannte die Mutter des Mannes eine Hure, seinen Erzeuger ein von Sihhila abstammendes Schwein und erklärte die Klinge an seiner Seite zu einem nutzlosen Stück rostigen Metalls.«

 

Bethlan hielt inne. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich einen Schweißtropfen ab, der ihm die Wange herunterrann.

»Weiter«, forderte Sedain.

»Der Mann hörte sich das und noch mehr vollkommen ruhig an. Als Rugan schließlich die Worte ausgingen, war der Blick des Fremden … irgendwie … funkelnd geworden. Ich schwöre, noch nie habe ich so … so … wilde – das ist es! –, wilde Augen gesehen. Zuvor, mit mir allein, war er freundlich und offen gewesen. Wir haben über den späten Wintereinfall geredet …«

»Gefreiter Bethlan!«, ging Sedain ihn an, »Was passierte dann?«

»Uns ging auf, einen Fehler begangen zu haben. Mich überwältigte das Gefühl, auf der falschen Seite der Brücke zu stehen. Doch als er sagte, wir, und mit einer Geste schloss er Rugan aus diesem Wir aus, sollten den Weg freigeben oder sterben, rührte sich niemand. Wir waren schließlich Soldaten und hatten unsere Pflicht zu tun!«

»Gut, gut«, unterbrach er sich selbst, da er die Ungeduld seines Gegenübers bemerkte. »Trotz der Anspannung in der Luft war niemand auf die Schnelligkeit vorbereitet, in der jener Krieger sein Schwert in der Hand hatte, auf das Geländer der Brücke sprang, auf uns zustürmte und Rugan die Klinge durchs Gesicht zog, ehe er seine eigene auch nur halb aus der Scheide gezogen hatte. In dem Moment, da er auf dem Boden landete, war Ladrig unserem Befehlshaber bereits gefolgt. Blind rissen wir unsere Schwerter hoch … Ich glaube, es war nicht einmal der Fremde, der mich erwischte, sondern ein Kamerad, der sich zu verteidigen suchte. Mehr kann ich zu dem Kampf wirklich nicht sagen. Es geschah alles viel zu schnell. Als ich aufwachte, hatte mich der Mann verbunden – außer ihm war ja niemand mehr da –, sein Kopf beugte sich über mich und er flüsterte: ›Wer euch heute eine Lektion erteilte, war die Kriegskrähe. Aber verrate es niemandem.‹ Dann zwinkerte er mir zu und ließ mich liegen.«

Der Halbelf fuhr sich mit den Handflächen übers Gesicht und verschränkte dann die Arme.

»Ochsenpisse!«, fluchte er nach einer Weile des Schweigens. Unliebsamen Gedankengängen folgend hatte er vergessen, das arme Würstchen vor ihm zu entlassen, das ihn nun erschrocken anstarrte, wohl in der Befürchtung, etwas Falsches gesagt zu haben. Sedain sammelte sich, dankte für den detaillierten Bericht, womit er Bethlan offensichtlich zu viel Mut gemacht hatte, da dieser ihn nun darum bat, er möge doch ein gutes Wort beim Feldmarschall für ihn einlegen.

»Raus hier, Feigling!«, verlor Sedain ganz entgegen seiner sonstigen Art erneut die Beherrschung. Um ein Haar wäre der Soldat aus seinem Stuhl gekippt, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Rasch machte er sich auf zur Tür, ehe noch mehr Unheil über ihn hereinbrechen konnte. Im Heraushuschen murmelte er noch ein »Danke, Herr Nepdu«, dann war verschwunden. Gerade diese Formel jedoch hellte Sedains Gemüt wieder auf. Die Anrede hatte sich aufgrund eines Missverständnisses eingeschlichen, das er nie aufgeklärt hatte. Da ihm der Titel Reichsanwalt zuwider war, hatte er dem Assistenten, der ihm vor Dunjal gedient hatte, jovial angeboten, ihn bei seinem richtigen Namen zu rufen. Der war kein besonders kluger Bursche gewesen, weshalb seine Karriere auch buchstäblich im Sand – wie man munkelte, in dem der Sihhila-Wüsten – verlaufen war, hatte aber ein außerordentliches Gedächtnis besessen. So erinnerte er sich an einen Brief, den sein Vorgesetzter vor langer Zeit geschrieben und mit Sedain ap Nepdu unterzeichnet hatte. Aus Angst, respektlos zu sein, hatte er ihn fortan Herr Nepdu genannt, in der Annahme, es handle sich um einen Nachnamen, wie in vielen Ländern üblich. Ganz falsch lag er auch gar nicht, nur dass alle Gaesen, sobald sie die Kriegerprüfung hinter sich haben, ihrem Namen ap Nepdu, von niemandem, beigesellten, um auszudrücken, von niemandes Gnade, weder der eines Gottes noch eines Vaters, sondern aus freien Stücken und gänzlich allein zu dem geworden waren, was sie waren.

Wie er darüber nachdachte, weshalb ihm diese Anrede gefiel, wurde Sedain bewusst, den Grund hierfür eigentlich schon längst verloren zu haben. Nein. Er sah diese ganze Sache, sein Leben und Arbeiten am Hof, nicht mehr nur als Farce, die er so lange mitspielte, bis sie ihm nicht mehr gefiel oder sich etwas Besseres auftat. Er stand hinter dem, was er machte, war sogar stolz darauf. Und nun würde Kraeh kommen, sein alter Freund und Waffenbruder. Wer sonst hätte sich als Henfir ausgegeben? Der Nordmann war auch Sedains Freund gewesen. Er würde kommen, würde Tumult machen, dieser idealistische Kindskopf, sofern er sich nicht verändert hatte und – die Geschichte, die er gerade zu hören bekommen hatte, sprach schließlich eine deutliche Sprache – weiterhin keine Regeln und Gesetze befolgte. Eben jene Dinge, für die er einstand. Schon hatte er es geschafft, ihn zum Grübeln zu nötigen, und zu tiefe Gedanken bedeuten Zweifel, so wusste Sedain. Zweifel wiederum führten zu Chaos und Rebellion, und das, wo er die Ordnung so sehr zu schätzen gelernt hatte.

Er seufzte und beschloss, heute einmal früher Schluss zu machen, seine Frau zu überraschen und sich ein wenig Erholung mit ihr zu gönnen. Auch wenn er ihr nicht erzählen würde, was ihn beschäftigte, würde ihre Gesellschaft doch ausgleichend auf ihn wirken. Plötzlich musste er lächeln. Das Kind in ihm flüsterte leise von dem Spaß, den er und Kraeh früher miteinander gehabt hatten. Mein alter Freund … Bist du es wirklich?

* * *

Hier im Süden war der Winter milder. Kraeh genoss den trockenen, salzigen Zugwind, der Gesicht und Finger versteinerte und im Takt des Tieres zwischen seinen Schenkeln die Haare aufbauschte. Er hatte die wendige Stute samt einer Karte von einem fahrenden Händler erworben. Das Geld dafür hatte er den Leichen der Soldaten abgenommen, die er beim Grenzübergang hatte töten müssen. Im Nachhinein war ihm klar, unüberlegt gehandelt zu haben. Vor allem, seinen echten Namen preiszugeben, war eine kindische Dummheit gewesen. Zweifelsohne wäre es klüger gewesen, unerkannt an den Palas des Kaisers zu kommen. Eine wiederentdeckte Eitelkeit hatte ihn dazu getrieben, zudem das Gefühl, dass er sich lange genug versteckt hatte. Was soll’s?, sagte er sich. Sollen sie doch wissen, wer wieder da ist.

Am Abend nahm er die Karte zur Hand. Er befand sich noch immer parallel zu der Küstenstraße, die er nach Überquerung der Pyden, wo er sich von Arduhl, dem Wanderer und dessen Spielleuten getrennt hatte, und nach dem kurzen Intermezzo an der Brücke eingeschlagen hatte. Die auf einer Tierhaut gezeichnete Karte hatte er auf einem Felsen ausgebreitet, der in eine kleine Lagune ragte. Im letzten Licht der Sonne fuhr er, begleitet vom Rauschen der brechenden Wellen, mit dem Zeigefinger seinen bisherigen Weg nach. Die Karte zeigte einen Großteil Eureinjas, des sogenannten zivilisierten Erdteils. Flüsse, Gebirge, große Seen und Meeresküsten waren eingezeichnet, dennoch erschien Kraeh die Karte wenig detailgetreu. Brisak zum Beispiel war nicht eingetragen. Die einzige Festung, die er kannte, war Skaarbrok ganz im Norden und die war doch schon vor langer Zeit geschliffen worden. Er fuhr weiter mit dem Finger den Weg nach, den er zurückgelegt hatte. Hier irgendwo müsste ich sein …

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