The Racing Flower Pilgrim

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Nach dem Körper- und Wäscheprogramm gehen wir nebenan einkaufen. Heute wollen wir kein Pilgermenü. Definitiv nicht. Der kleine Supermarkt mit integrierter Bar hat alles, was wir wollen und brauchen. Wir decken uns mit Chorizo, Schinken, Oliven, Tomaten, Käse, Brot und Bier ein. Natürlich trinken wir vor Ort auch erstmal ein Bierchen und den Wein, den mir der Wirt schenkte, nachdem ich ihm 20 Cent Trinkgeld gegeben hatte. Ich fühle mich wie Krösus. Ein toller Pilgertag nimmt langsam ein noch tolleres Ende.

Zurück in der Herberge wird mir klar, wie wichtig ein von Opa empfohlenes Utensil ist: Meine Wäscheklammern. Gut, dass ich sie habe. Man kann zwar überall Wäsche aufhängen, Ständer oder andere Möglichkeiten sind immer vorhanden, aber selbst bei dem leichtesten Wind bringt das ohne Wäscheklammern alles überhaupt nichts. Demzufolge ist der ganze Hof übersät mit einem bunten Potpourri aus umherfliegenden Wäscheteilen. Meine Wäsche flattert dagegen einsam, aber majestätisch im Wind. Das ist sehr, sehr schön.

Zufrieden sitzen wir im Hof der Herberge und verspeisen unsere spanischen Köstlichkeiten. Ohne Karin, die sich entschied, am Pilgermenü teilzunehmen. Nebenan am Tisch sitzen Claudia und Steffi, auch zwei Damen, die mit uns am ersten Abend im Refuge Orisson übernachteten. Bei ihnen sitzt Diederik aus Dänemark. Er scheint Schwierigkeiten zu haben, sich für eine der beiden Damen zu entscheiden. Der Blick sagt eindeutig: Mmhh, ist die hübscher? Oder doch die? Aber er scheint ein sehr lustiger Typ zu sein.

Eigentlich wollen wir heute früh ins Bett, aber daraus wird nichts. Die Stimmung ist einfach zu gut. Da ich heute nicht nur mein Hemd, sondern mein komplettes Johnny-Depp-Fear-and-Loathing-Feierabend-Outfit trage, inklusive Hose, Mütze und Nachtfahrbrille kommt Däne Diederik irgendwann zu uns an den Tisch und fragt mich, warum ich ein Hip-Hop-Outfit anhabe.

Hä?

Warum ich denn nicht mal ein paar tighte rhymes droppe?

Hä?

„Falsche Assoziation Diederik“, sage ich, schweige und Alex spielt auf seinem Handy ganz lässig „Magic Moments“ von Perry Como ab.

Heute habe ich 23 Kilometer hinter mir und Inga sagte: „Schön, dass wir dich getroffen haben!“

30.08.2019 07:15 Uhr

Aufbruch. Das frühe Aufstehen hat sich nach diesen ersten wenigen Tagen schon komplett ins biologische Gedächtnis und den Rhythmus eingebrannt. Das nenne ich mal gelungene Integration.

Im Vorhof der Herberge machen wir uns fertig und starten in die morgendliche Stille Larrasoañas. Karin, Hanne, Alex, Inga und ich sind gut gelaunt, mit schnellem Schritt unterwegs, und legen die ersten Kilometer gemeinsam zurück. Der Camino hat heute vorerst etwas von einem Dschungel. Er führt uns neben einem kleinen Fluss entlang, auf einem sehr schmalen Pfad. Wir müssen uns unter Blättern und herabhängenden Ästen hindurchschlängeln. Wenig Licht scheint durch die ausufernde Vegetation. Von der Flussseite aus erwarte ich ständig den Angriff eines Krokodils. Von der anderen Seite den Angriff eines Ureinwohners. Mit Giftpfeilen. Von oben eine Schlange oder eine Liane, die mich nach oben zieht. Ich sollte mir dringend eine Machete besorgen.

Im Dorf Zuriain machen wir direkt am Fluss unsere erste Pause. Eine tolle Bar, überfüllt mit frühstückswilligen Pilgern, lädt zum Verweilen ein. Mit Café con leche und einem Stück Tortilla lassen wir uns neben einem großen Feigenbaum am Flussufer nieder. Dort treffen wir erneut auf Lucy. Sie schwärmt von ihrer Herberge der letzten Nacht. Sie hatte ein Einzelbett, einen Pool und natürlich ihren geliebten Wein. „I was relaxing and swimming and of course drinking wine." Lucy. Genau. Auch Steffi und Claudia von gestern Abend setzen sich zu uns. Da sie nur bis Pamplona gehen und von dort wieder abreisen, werden wir sie wohl nicht wieder antreffen. Unter großer Freude erreicht auch Anna von Sylt, die wir am ersten Abend im Orisson kennenlernten, unseren Pausenbereich. Sie hatten wir nun gar nicht mehr erwartet. Sie geht sehr gemächlich, aber gleichmäßig und trägt 17 Kilo im Rucksack mit sich herum. Ernsthaft. 17 Kilo. Keine Ahnung, wie sie das macht. Oder warum.

Wir wollen so langsam weiter, die Pause zieht sich schon viel länger als gedacht. Einige Verabschiedungen folgen. Auch Karin bleibt zurück. Der Schritt, den wir vorlegen, ist ihr zu schnell. Mit besten Wünschen geht es weiter. Ringo, George, John und ich ziehen los. Abbey Road. Dieses Bild verfolgt mich seit den Postkarten am Beginn meiner Tour in Saint-Jean. Mittlerweile passt es. Hanne, Inga, Alex und ich. Die Vier glorreichen Sieben. Oder so ähnlich. Four on the road. Santiago Road. Es sollte wohl so kommen.

Da wir eine Weile direkt an der Straße entlanglaufen, winkt uns das erste große Zwischen-Ziel am Camino von den Schildern am Straßenrand schon auffällig zu. Pamplona. Wir kommen. Es ist erst kurz nach 09:00 Uhr, aber die Sonne beweist schon jetzt ihr Potenzial. Daher ist die Freude groß, als der Weg von der Straße in ein kleines Waldstück abzweigt. Davon haben wir leider nicht lange etwas, gleich darauf geht es steinig bergauf und neben einer Schlucht entlang. Extrem eng, staubig, geröllig und trocken. Obacht ist geboten. Besoffen sollte man hier jedenfalls nicht sein.

An einer Brücke über den Rio Arga treffen wir auf einen Mann, der gegen Spende selbst hergestellte Stempel in die Pilgerpässe vergibt. Da machen wir natürlich mit. Man kann sich ein Motiv des Stempels auswählen, bekommt ihn mit heißem Flüssigwachs in den Ausweis gegossen und darf sich sogar Anhänger aussuchen, die der nette Herr in den Stempel gießt und somit daran befestigt. Ich entscheide mich für die Sonne als Stempelmotiv und zwei Füße als Anhänger. Schönes Wetter und gesunde Füße. Was brauche ich am Camino mehr?

Wenig später gelangen wir an eine Kreuzung, vor der uns Neil, der Südafrikaner, gestern warnte. Ein Geschäftsmann hat die Kirche des Ortes Zabaldika gekauft und vermarktet sie nun touristisch. Auf dem Weg, der bis zur Kirche verläuft, hat dieser Mann auch alle Geschäfte und Bars aufgekauft. Da der eigentliche Camino nicht direkt entlang dieser geldgeilen Straße führt, hat dieser Mensch eigene Schilder und Pfeile angebracht, die den Pilger täuschend echt in eine falsche Richtung führen. Profit. Eine babylonische Hure, die alles korrumpiert. Wir wissen dank Neil Bescheid, biegen links ab und gehen am Fluss entlang zügig auf Pamplona zu.

An einer nächsten Kreuzung in der Nähe eines Wasserfalls sind wir etwas unschlüssig. Mehrere gelbe Pfeile zeigen sowohl nach links, als auch nach rechts. Alle jeweils mit der Aufschrift: „Santiago“. Na, herzlichen Dank auch. Auf Nachfrage erklärt uns eine niedliche, alte Spanierin, dass wir lieber weiter am Fluss laufen sollen. Ich danke dem Universum, dass Sprachen verstehen immer einfacher ist, als sie zu sprechen. Ich verstehe, dass der Weg rechts durch die Vororte führt, über hässlichen Asphalt und ohne Schatten. Der Weg links sei zwar etwas länger, aber meist ohne die pralle Sonne und mit schöneren Fotomotiven. Wir nehmen den linken Weg. Selbstverständlich.

Vorbei an bunten Gärten neben dem rauschenden Wasser. Vorbei an riesigen Tomatenpflanzen, mit Früchten, die größer sind als mein Kopf und mich kurz überlegen lassen, ihretwegen in die Gärten einzubrechen. Ich möchte aber ungern einen Gefängnisausbruch in mein Camino-Erlebnis integrieren.

Der Weg ist schön. Sehr schön. Hanne und ich legen ein ordentliches Tempo vor und lassen Inga und Alex vorerst zurück. Die beiden kennen Pamplona schon und möchten sowieso auf einem anderen Weg in die Stadt laufen. Ich kenne Pamplona durch unsere Reise im Jahr 2010 auch schon. Aber nicht zu Fuß. Das ist ein völlig anderes Ankommen. Daher folge ich brav und gehorsam Muschel und Pfeil. Irgendwann kommen Hanne und ich uns etwas veralbert vor. Der Weg folgt exakt dem Fluss. Folglich auch exakt den Biegungen des Flusses. An manchen Stellen sind wir nur wenige Meter entfernt von einem Punkt, an dem wir bereits hunderte Meter zuvor waren. Närrischer Camino. Nun ist es zu spät. Weiter geht’s. Der Weg ist zwar immer noch schön, aber er zieht sich eine halbe Ewigkeit durch unsere Füße und Gedanken. Er scheint kein Ende zu nehmen und Pamplona rückt auf Teufel komm raus einfach nicht näher.

Dem Camino sei Dank, stehe ich mit Hanne nach einer halben Ewigkeit am Ortseingangsschild Pamplonas. Warum jemand unter all die verschieden-sprachigen Willkommen das Wort Döner gesprayt hat, weiß wohl nicht mal der Heilige Jakobus persönlich. Und wenn er es weiß, kann er es mir ruhig mal erklären.

An der Puente la Magdalena, einer Brücke, die einen der Eintrittspunkte in die Altstadt markiert, treffen wir wieder auf Wein-Lucy und ihren frisch aufgerissenen Begleiter, wer auch immer er sein mag. Ein buen camino ist nicht zweckdienlich, da er vollständig in der Tiefe von Lucys dunklen Augen versunken ist. Sonst registriert er nichts.

Wir beobachten ein paar Minuten lang einige Jugendliche, die tollkühn von der Brücke in den Fluss springen. Ich überlege, ob ich in diesem Alter auch so verrückt war. Eine Antwort darauf habe ich schnell parat. War ich nicht. Ich war schlimmer.

Mit Hanne, Lucy, ihren Weinflaschen und dem verliebten Begleiter setzen wir den Weg entlang der alten Stadtmauer Pamplonas gemeinsam fort. Obligatorischer Fotostopp am Stadttor und hinein geht es in die erste Großstadt unseres Camino. Sehr schöne, enge Gassen bilden den ersten Eindruck der Stadt. Ruhig und gelassen schlendern wir hindurch. Es bleibt nicht so. Ein Gewimmel aus Pilgern und Touristen wird immer dichter, je mehr wir uns dem alten Zentrum Pamplonas nähern. Auf diesem Weg kamen wir damals nicht in die Stadt, es muss an einer anderen Stelle gewesen sein. Unterhalb der Kathedrale, die mir dann doch endlich wieder bekannt vorkommt, finden Hanne und ich einen Brunnen, an dem wir unsere Rucksäcke abstellen können und Wasser auffüllen. Äußerst nötig und erfrischend. Abwechselnd gehen wir zum wuchtigen Gotteshaus Pamplonas und holen uns einen wohlverdienten Stempel ab, der zur Selbstbedienung bereitliegt. Von innen kenne ich die Kathedrale schon, also kehre ich zurück zu Hanne und dem Brunnen.

 

Da Alex und Inga nicht auftauchen, werfe ich zum ersten Mal seit Saint-Jean tagsüber den Empfang meines Handys an. Verflixt. Alex hat mir schon geschrieben und seinen Standort geschickt. Nicht weit weg. Weiterlaufen müssen wir ja sowieso. Verrückterweise. Seit dem Morgen schwärmte ich von einer Tapas-Bar, in der ich 2010 mit Opa und Onkel war. Da muss ich wieder hin. Unbedingt. Die anderen schleif ich einfach mit. Also schmeißen Hanne und ich die Rucksäcke auf den Rücken und stürzen uns weiter in die Hektik der Stadt.

Es wird immer schlimmer. Furchtbar. Es ist Wochenende und die Straßen quillen über vor lauter Menschen. Die Zivilisation haut mir nach den letzten Tagen voll in die Fresse. Mit ordentlich Schmackes. Total ungewohnt ist der ganze Trubel. Nachdem wir Alex und Inga in der Nähe der Stierkampfarena gefunden haben, biegen wir in die Restaurantmeile der Stadt ab. Beziehungsweise in die Stierstraße. Ich nenne sie jetzt einfach mal so. Hier werden beim alljährlichen Fest San Fermin die Stiere durchgetrieben, vor denen die Männer der Stadt zu flüchten versuchen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Haben wir bestimmt alle schon mal im Fernsehen gesehen. Davon kann man halten, was man will. Tradition ist Tradition.

Da ist sie endlich. Die Bar, in der ich damals war. Schon bei ihrem Anblick läuft mir das Wasser in den Beinen zusammen. Tapas, tapas, tapas. Wie ein Wilder pfeffere ich meinen Rucksack an die Hauswand und stürze mich an die Bar. Auf der Theke aufgereiht stehen die zweitbesten tapas, die ich bisher aus Spanien kenne. Genau wie vor neun Jahren. Ich hoffe, sie wurden mal aufgefrischt.

Wo es die erstbesten tapas gibt? Verrate ich nicht. Was da genau da alles dran und drin ist? Keine Ahnung. Wusste ich damals nicht und weiß ich heute nicht. Spielt auch keine Rolle. Diese tapas sind ein Gedicht. Mehr als das. Ein Sonett. Von Shakespeare. Von Goethe. Das haben beide gemeinsam geschrieben. Während sie sturzbetrunken waren. Einfach nur göttlich. Jeder Bissen ist ein gelungener Reim. Dazu gibt es ein eiskaltes Bier und die Mittagspause ist perfekt gelungen.

Uns alle stört allerdings der Trubel. Es wird immer schlimmer. Haufenweise Touristen. Schreckliches Volk. Machen keinen Platz und haben keine Rücksicht auf rucksackbeladene Pilger. Frechheit. Damals, als ich hier war, war ich auch einer von ihnen. Von diesen merkwürdigen Touris. Aber ich hatte großen Respekt vor den Pilgern, die sich, durchnässt von Schweiß und beladen mit allem Hausrat, den sie für Wochen brauchen, ihren Weg durch die überfüllten Straßen zu bahnen versuchten. Nun bin ich einer davon.

In der heißen Sonne Pamplonas gehen wir im Gänsemarsch weiter. Anders geht es nicht. Als eine weitere Touristengruppe aus einem Gebäude am Weg strömt und keiner von ihnen nach links oder rechts schaut, brülle ich im Affekt unglaublich laut und wahrscheinlich für jeden der Gruppe unverständlich: „MACHT EURE GLOTZEN AUF UND GUCKT VOR DIE FÜßE.“ Aufgrund meiner Lautstärke ist für einen kleinen Moment genug Verwirrung vorhanden, damit wir schnell aus dieser Nummer flüchten können und aus der überfüllten Innenstadt rauskommen. Für uns steht fest: In Pamplona bleiben wir nicht. Wir möchten eine ruhigere Übernachtung. Aber weit gehen wir heute auch nicht mehr. Schier endlos ziehen sich die Randbezirke Pamplonas sehr asphaltbetont dahin. So wirklich hässlich ist es nicht, aber nicht besonders fußfreundlich. Dank Alex‘ App wissen wir, wir sind bald da, wo wir hinwollen. Wo wir ungefähr geplant haben, hinzuwollen. Echt nützlich, diese Technik.

Neben einer äußerst stark frequentierten Bundesstraße hinaus aus Pamplona und einem zünftigen Anstieg, der uns nochmal alles abverlangt, geht es hinauf nach Cizur Menor. Winziges Dörflein auf einer Anhöhe, von der aus man fast noch bis Pamplona spucken kann. Die kirchliche Herberge des Malteserordens lassen wir links liegen und gehen ein paar Meter weiter zur privaten Unterkunft Maribel Roncal. Ruckifatzi ist die Sache auch schon erledigt. Vier Betten? Na klar. Prima. Danke. Pilgern kann manchmal sehr einfach sein. Fette Betonung auf manchmal.

Zusammen mit einem kanadischen Paar sind wir in einem Fünf-Doppelstockbett-Zimmer untergebracht. Nach dem üblichen Ablauf von Wäsche waschen, duschen und Hin-und-Her-packen für den nächsten Tag, setzen wir uns in den herrlichen Innenhof unter Palmen und gönnen uns ein eiskaltes Bier aus dem Verkaufsautomaten des Hauses. Herrlich. Eine lustige, ältere Señora kommt vorbei. Wir vermuten, sie ist die Herbergsomi der Unterkunft. Mit einem Schlauch spritzt sie kaltes Wasser auf die Pflanzen und das heiße Pflaster und ruft dabei unentwegt: „To make it all fresh.“ Nebenher grinst sie über alle Ohren, die sie hat. Es müssen viele sein. Herzergreifend. Alex und ich haben heute etwas Probleme mit unseren Sehnen auf dem Spann des rechten Fußes. Als die Dame mit dem Schlauch kommt, halten wir instinktiv unsere Füße in ihre Richtung und werden ordentlich kalt abgespritzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe nie jemanden erlebt, der so herzlich lacht und sich so darüber freut, zwei Deutschen die Füße kalt abzuspritzen. Gracias Señora.

Nach der Erfrischung schauen wir ins Dorf Cizur Menor hinein. Kurz unterhalb unserer Herberge besorgen wir uns Voltaren für unsere geschundenen Füße. So zumindest der Plan. Gibt es aber nicht. Also besorgen wir uns Thrombactiv. Lustiges Wort und duftet nach Menthol. Kaufen wir. Hauptsache was für die Füße. Neben der Apotheke steht eine Bühne auf dem Dorfplatz. Auf Nachfrage erklärt uns die Apothekerin, dass über das ganze Wochenende ein Dorffest stattfindet. Sie verlässt sogar ihren Laden und zeigt uns, wo. Jeder könnte nun ihre Apotheke ausrauben, während sie uns vom Fest und vom Ort vorschwärmt. Das ist Gastfreundschaft, die unbezahlbar ist. Danach kaufen wir im Supermarkt wieder einige spanische Köstlichkeiten für wenig Geld und machen uns auf den Rückweg.

Im Innenhof erwartet uns wieder die Herbergsomi. Mit dem breitesten Grinsen, das man sich überhaupt vorstellen kann, gibt sie uns Tipps für den Camino und die morgige Route. Sie sei selbst noch nie den Camino gelaufen, ist aber auf einem Segelschiff mit 50 anderen Menschen von der französischen Küste bei Bordeaux bis nach Galizien gesegelt. Als einzige Spanierin. Damals noch ohne Fremdsprachenkenntnisse. Den höchsten Respekt für diese Frau.

Wir schlemmen unsere Leckereien und begrüßen freudig ein französisches Ehepaar. Wir kennen ihre Namen nicht, aber auch sie waren seit dem ersten Abend im Orisson immer wieder in unserer Nähe. Durch Zufall auch immer in unseren Herbergen. Heute sind sie spät dran, aber winken beide lachend ab. Sie haben ausnahmsweise reserviert.

Unterdessen setzt unten auf dem Dorfplatz die Musik vom Fest ein. Mitsingend und -tanzend essen, trinken und verquatschen wir den Abend. Die Omi erklärt uns den Programmverlauf des heute beginnenden Festes. Zu späterer Stunde soll der Toro del fuego, der Feuerstier, stattfinden. Ein Mann aus dem Dorf wird in ein Drahtgestell gesteckt, das dem Äußeren eines Stiers nachempfunden ist. Dann läuft er damit durch Cizur Menor und aus dem Kostüm heraus schießen Knaller und Feuerwerkskörper. Okaaaay... Klingt lustig. Aber auch irgendwie irre.

Rauszugehen lohnt sich für uns leider nicht mehr. Wenn das Fest richtig in Schwung kommt, müssten wir wieder zurück, da die Herberge um 22:00 Uhr die Pforten schließt. Danach kommt man zwar raus, aber nicht mehr rein. Ob man ein Bett darin hat oder nicht, vollkommen egal. Klingt extrem, ist aber in so gut wie allen Herbergen am Camino ein völlig normales Prozedere. Macht nichts. Im Innenhof verquatschen wir die frühe Schlafenszeit mal wieder und landen müde, aber froh in unseren Betten. Ich glaube, es ist sogar noch vor Mitternacht. Ausnahmsweise.

Wenn der Kanadier so weitermacht, wird die Nacht sehr geräuschintensiv.

Buenas noches.

20 Kilometer stecken heute in meinen Knochen und die ungewohnt heftige Zivilisation hat mir kräftig in den Arsch getreten.

31.08.2019 07:00 Uhr

Der Kanadier muss Hunger haben. Großen Hunger. Mächtig großen Hunger. Vermutlich vermisst er seinen Ahornsirup. Er hat in dieser Nacht auf jeden Fall sehr viele Bäume dafür gefällt. Mit seinem Mund. Meine Fresse, was für eine Lautstärke. Karin war dagegen ein reinster Ohrenschmaus.

Hanne und ich brechen langsam auf, während Inga und Alex noch morgendlich vor sich hin muffeln. Wichtig ist es, auch morgens genau aufzupassen, dass man nichts vergisst. Denn selbst zu einer solch frühen Stunde gilt: Ist man einmal aus der Herberge raus, kommt man nicht wieder rein.

Schnell sind Hanne und ich hinaus aus dem kleinen Cizur Menor. Die langsam aufgehende Sonne malt Himmel und Wolken in den schönsten Farben an. Vor uns kommt der Alto de Perdon immer näher. Der Berg der Vergebung. Wie ein mächtiger Riese erhebt sich dieser gewaltige Höhenzug. Ähnlich einem Tafelberg. Da muss ich hoch. In einigen Kilometern. Vorerst geht es auf dem Camino durch abgeerntete Getreide- und ausgetrocknete Sonnenblumenfelder. Ein sehr skurriles Bild. Mitten in einem der Felder liegt ein schlafender Pilger. Dick eingelullt in Schlafsack und Decken, den Rucksack als Kopfkissen. Nicht schlecht. Ein noch skurrileres Bild.

Der kommende Berg zeigt seine ersten Anzeichen, es geht stetig bergauf. Mal sanft, mal steil und mit viel Geröll auf dem Weg. Der Alto de Perdon selbst scheint allerdings keinen Meter näher gerückt zu sein. Wird schon. Meine Füße schmerzen etwas. Der Sehne geht es wieder gut, dank Thrombactiv, aber es fühlt sich an, als entwickelt sich da etwas an meinen beiden Fersen. Es kann nichts Gutes sein.

Das erste Mal seit dem Beginn meines Camino habe ich Lust auf Musik. Also Ohrstöpsel rein. Eine Playlist ist seit dem Aufbruch vorbereitet, damit ich jederzeit ohne Empfang und Netz darauf Zugriff habe. Diese Liste ist jenseits von Gut und Böse. Jede erdenkliche Musikrichtung meines manchmal merkwürdigen und bunt durcheinandergewürfelten Musikgeschmacks ist mit mindestens einem Titel vertreten. Es läuft sich gleich etwas leichter und rhythmischer.

Feststellung: In dieser Kulisse, mit dem Berg vor Augen, während die Morgensonne alles rundherum rötlich einfärbt, „Space Oddity“ von David Bowie zu hören, ist einfach nur strange. Närrisch. Und gleichzeitig vollkommen passend. Sieht ja fast aus wie auf dem Mars hier. Hergehört Welt: ICH bin Major Tom. Kraul mir meine verhornten Füße.

Da der Schalter für meinen Berg-Fetisch irgendwo auf den ersten Kilometern bereits umgelegt wurde, bin ich der Erste unseres Trüppchens in Zariquiegui. Was für ein Name. Es schlicht Zaziki zu nennen, wäre wohl zu einfach gewesen. Es ist der letzte Ort, bevor der endgültige, letzte Anstieg zum Alto de Perdon beginnt. Dementsprechend herrscht im einzigen kleinen Café neben der Kirche ein ziemlicher Kaffeepilger-Andrang. Aber einen Tisch ergattere ich gerade noch. Bekannte Gesichter rundherum, man kennt sich so langsam untereinander zumindest vom Sehen. Während meines zweiten Kaffees kommen auch Hanne, Alex und Inga an und wir dehnen unsere Frühstückspause mal wieder äußerst großzügig aus.

Gesättigt, aber etwas widerwillig, kommt der Rucksack auf den Rücken und los geht der relativ harte, lange Anstieg hinauf auf den Berg. Ich haue mir nochmal zünftig David Bowie auf meine Ohren, zünde meinen Turbo und flitze durch dorniges Gestrüpp auf einem schmalen Geröllweg nach oben. Vorbei an Pilgerkunst, aus Steinen gelegten Symbolen oder einfachen kleinen Türmen aus Kieseln.

Auch wenn die Fersen immer mehr schmerzen, das Laufen bergauf macht Spaß. Kurz vor dem Gipfel höre ich I shall not walk alone, ein herrliches Lied von den Five Blind Boys of Alabama. An diesem Ort mit diesem Lied…Unvermittelt kommen mir Tränen in die Augen. Einfach so. Was für ein passender Text. All meine Lieben, jeder der mir wichtig ist, ist in diesem Moment und auch in allen anderen Momenten am Camino bei mir. Auf jedem einzelnen Kilometer. Auch du. Das weißt du. I shall not walk alone.

 

So ist es.

Etwas ausgezehrt und ausgeweint, aber sehr glücklich, komme ich endlich oben an. Es ist mehr als lohnend. Ein unbeschreiblich erhebendes Gefühl. Man kann kilometerweit in alle Richtungen schauen, die Sicht ist besser, als man es sich zu erträumen vermag. Es haut mich richtig aus den Wandersocken. Hinter mir in der Ebene verschwindet langsam Pamplona vor der immer blasser werdenden Kulisse der gerade noch zu erahnenden Pyrenäen. Ich sehe, wo ich herkam. Viel wichtiger: Ich sehe, wo ich noch hinwill. Auf der anderen Seite des Alto liegt die nächste Ebene und ich müsste wirklich lange überlegen, ob ich jemals eine Aussicht hatte, die so unglaublich weit reicht. Die ganze Herrlichkeit Navarras scheint vor mir zu liegen. Weite Felder und strahlend blauer Himmel. Vielleicht hätte ich dem finnischen Ed Sheeran seine Monsterkamera stehlen sollen.

Hier oben auf dem Alto de Perdon steht die berühmte Statuengruppe der Pilger, die gegen Wind und Wetter nach Santiago ziehen. Metallene Profile von Frauen, Männern, Kindern, Pferden und Hunden, die allen Widrigkeiten zum Trotz einfach immer weiter gehen. Ultreïa. Immer vorwärts. Einfach vorwärts.

Mit den drei anderen ankommenden Beatles mache ich Bilder, fülle an einem Stand meinen Flüssigkeitshaushalt auf und freue mich einfach nur, dass ich bin, wo ich eben gerade bin. Jeder von uns nimmt sich hier seine Momente, bevor wir gemeinsam den Abstieg in die weite Ebene riskieren, in der man in der Ferne bereits das für heute grob angedachte Ziel Puente la Reina sieht. Aber erstmal: Wieder ein beknackter Abstieg. Nicht so schlimm wie der Weg hinab nach Zubiri, aber auch kacke. Anders kacke. Steil, staubtrocken, über riesige Steine auf dem Weg, vom Regen rundgelutscht. Auch hier gilt wieder die Devise: Schaut man einmal nicht auf den Boden, hat man sich die Füße schon komplett ruiniert. All das obendrein in der prallen Sonne und mit schmerzenden Fersen. Was macht man in solch einer Situation?

Option Eins: Man erträgt es geduldig und leidet still.

Option Zwei: Man setzt sich auf der Stelle auf den Boden und beginnt ein klägliches Wimmern.

Option Drei: Man bittet den bärtigen Riesen Alex darum, getragen zu werden.

Ich entscheide mich spontan für Option Vier: Ich stimme das Rennsteig-Lied an.

Die Hymne des Thüringer Waldes und somit meiner Heimat. Sehr laut, aber mit zittriger Stimme, da ich gleichzeitig darauf achten muss, mir auf dem Geröll nicht sämtliche Knochen zu brechen. Astrein, es funktioniert. Läuft sich gleich viel leichter. Auch die textunsicheren Mitstreiter summen und klatschen mit. Letzteres lasse ich lieber sein, ich brauche die Hände schließlich zum Balancieren. Ich würde mich gerne als Außenstehender beobachten, wie ich singend und schwingend mit meinem bunten Rucksack auf dem Camino in die Ebene tänzele. Endlich auf etwas ebenerem Grund angekommen, schmettere ich direkt das Zilleborn-Lied hinterher, die Dorfhymne meines geliebten Dörfchens Steinbach. Wie üblich in Steinbacher Platt, was hier keiner versteht, aber das ist vollkommen egal. Für einen Moment sind Nord-, Mittel- und Süddeutsche alle Steinbacher. Ich glaube auch ein leises, gehauchtes Steimich von dem namenlosen Spanier zu hören, der ein paar Meter vor uns läuft.

Gegen Mittag und einigen gnädig ebenen Kilometern Camino erreichen wir das kleine Städtchen Uterga. Die steigende Mittagshitze schreit nach einer langen Pause. In einer Bar Utergas machen wir Station, trinken Bier und Eistee und holen uns einen Stempel ab. Nach einem zweiten Bier stellt Alex fest: Harald Juhnke hatte Recht. Keine Termine und leicht einen sitzen. Stimmt. So kann man es aushalten. Harald ist mit uns. Ist ja auch irgendwie Urlaub. Alex durchforstet seine App nach guten Herbergen in Puente la Reina, denn für uns steht nun definitiv fest, dass wir heute nicht weiter gehen. Ich finde es toll, dass meine Mitpilger das auch möchten, denn diese Stadt ist ein weiterer legendärer Ort des Camino. Wir finden eine ansprechende Unterkunft am Ausgang Puente la Reinas, die sogar einen Pool hat und neben einfachen Betten auch Bungalows für vier Personen anbietet. Für 15 Euro pro Person. Ja Mensch, das ist doch wie für uns gemacht. Inga entscheidet, sofort dort anzurufen und ausnahmsweise mal etwas zu reservieren. Den Bungalow müssen wir haben. Gesagt, getan, erledigt.

Mit einem guten Gefühl geht es weiter. Ich habe für mich schon entschieden, heute noch einen Umweg zu gehen. Ich möchte auf jeden Fall zur kleinen Kirche Santa Maria de Eunate. Eigentlich stand das schon fest, bevor ich überhaupt aufbrach. Sie liegt nicht direkt am Haupt-Camino, aber dieses Fleckchen ist etwas ganz Besonderes. Selbst die Omi aus der Herberge in Cizur Menor riet gestern dazu. Meine Gefährten wollen spontan entscheiden, ob sie mitkommen. Nach einem weiteren, sehr schönen Stück Weg, mit toller Aussicht auf das umliegende Tal, stehen wir im Dorf Muruzábal schon an der Kreuzung, wo der Weg zur Kirche Eunate abzweigt. Kurz davor kommt uns noch ein spanischer Cowboy auf seinem Pferd entgegen, reitet zum Ausweichen extra ab aufs Feld und grüßt mit einem Howdy an uns vorbei. Entschuldigung dafür, dass ich nicht weiß, wie man Howdy auf Spanisch schreibt.

Alex und Inga wollen vorausgehen nach Puente la Reina. Insgesamt fast fünf Kilometer Umweg wollen sie in der blanken Mittagssonne nicht laufen. Verständlich. Hanne will mir folgen und so biegen wir ab und sind augenblicklich wieder raus aus Muruzábal und auf einem Feldweg. Es ist wirklich heiß. Richtig, richtig heiß. In der Ferne sieht man bereits den Umriss der kleinen, achteckigen Kirche Santa Maria de Eunate durch das Hitzeflimmern der abgeernteten Weizenfelder. Fast wie eine Fata Morgana. Ich hoffe, sie ist echt. Ich sage zu Hanne, dass ich mir Musik auf die Ohren haue und etwas vormarschiere. In dieser Hitze muss man einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht denken. Nur Laufen. Eventuell Musik hören. Zu den Klängen von Bob Dylan und da außer mir niemand zu sehen ist, marschiere ich laut „Mr. Tambourine Man“-singend durch die flirrenden Weizenfelder. Das hat schon fast etwas Psychedelisches. Nach etwas mehr als zwei Kilometern und der Überquerung einer Bundesstraße stehe ich vor ihr. Vor der einzigartigen Kirche Santa Maria de Eunate.

Ich erschrecke kurz. Das Eingangstor ist mit einer Eisenkette verschlossen. Hier bin ich auf der Reise vor neun Jahren einfach durchgegangen. Eine innere Enttäuschung macht sich breit. Plötzlich taucht neben mir eine aufgeregte Spanierin auf. Sie erklärt mir auf Spanisch und dann auf Englisch, dass das jetzt Eintritt kostet, dass das eine Frechheit ist und Bla und Bla und Bla. Zwei Euro sind ihr zu viel, sie verschwindet mit wütendem Gesicht im Auto ihres Begleiters und rauscht davon. Jedem das Seine. Mich beruhigt das allerdings. Egal wie, aber man kann wenigstens hinein.

Hanne und ich gehen zum Tickethäuschen, zahlen den Pilgerpreis von einem lächerlichen Euro und bekommen den Eintritt sowie einen wunderschönen Stempel in unseren Pilgerausweis. Tja. Auch die Instandsetzung und -haltung dieser wichtigen, historischen Gebäude will eben zumindest minimal bezahlt sein. Schade, wenn man das nicht akzeptiert.

Wir setzen uns in den schattigen Garten neben der Kirche und trinken Wasser. Sehr wichtig. Abwechselnd schlendern wir danach eine Runde um das Gebäude herum und schauen ins Innere. Diesen Ort muss man in Ruhe auf sich wirken lassen. Alles hier ist ungewöhnlich. Die achteckige Form des Bauwerks, der Säulengang um es herum, das Alter, die Reliefs, die Funde der Ausgrabungen. Unbestimmbar. Historiker zermartern sich bis heute ihre akademisch verstaubten Hirnwindungen über den Bau. Es ist ein wirres Gemisch aus Stilrichtungen und geschichtlichen Epochen. Wer weiß, wer im Lauf der Jahrhunderte hier alles am Werkeln war. Man sollte es einfach einmal gesehen haben.