Zivilcourage

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Zwischen gestern und heute
Hamburger Nachkriegsjunge

Kennen Sie Ella-Marie Arndt? Nein? Sagt Ihnen der Name nichts? Das ist nicht weiter schlimm. Man kann schließlich nicht jeden der 7,7 Milliarden Menschen auf dem Erdball kennen. Googelt man diesen Namen, liefert auch die Internetsuchmaschine kein Ergebnis. Dies verwundert nicht, denn Ella-Marie ist eine von vielen. Dafür, dass sie XX-Chromosomen in sämtlichen Körperzellen wie auch in ihren weißen Hautzellen trägt, kann sich nichts. Ebenso kann sie nichts dafür, dass sie in Deutschland geboren wurde und sie deutsche Eltern, Groß- und Urgroßeltern hatte bzw. noch einen lebenden Elternteil hat. Ella-Marie ist einfach nur ein Mensch wie jeder andere. Ihr ganzes Leben hat sie ohne größere Probleme gemeistert, doch je älter sie wird, desto mehr Fragezeichen tun sich bei ihr im Zusammenhang mit der Vergangenheit wie hinsichtlich der Zukunft auf. Wer aber ist diese Ella-Marie?

Ella-Marie Arndt wurde als Kind der geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, also zu einer Zeit, als man in Deutschland noch gerne Kinder bekam. Sie gehört damit der Generation der Kriegsenkel an. Ein Kriegsenkel, was ist das denn? Dies mögen sich insbesondere jüngere Menschen fragen. Sieht man bei Wikipedia unter dem Begriff „Kriegsenkel“ nach, so liest man dort Folgendes: „Kriegsenkel sind Kinder von Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs. Der Begriff entstammt der populärwissenschaftlichen Literatur und beschreibt Personen, die durch während der NS-Kriegszeit von ihren Eltern erlittene, unverarbeitete psychische Traumata indirekt traumatisiert worden sind.“ Dass der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen eine ganze Generation, aber auch die Nachkriegsgeneration und die der Kriegsenkel geprägt und traumatisiert hat, ist heute wohl unbestritten. Allein die Epigenetik liefert hierzu interessante Erkenntnisse.224 Nicht umsonst füllen Buchtitel wie „Kriegsenkel“, „Nebelkinder“, „Das Erbe der Kriegsenkel“, „Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie“, um nur einige zu nennen, die Regale von Buchhandlungen. Dabei sind die traumatischen Kriegserlebnisse sicherlich individuell völlig verschieden und ganz unterschiedlicher Ausprägung gewesen, wobei der Einfluss von Medien und Schule auf diese Menschen nicht unterschätzt werden sollte.

Ella-Maries Vater Gerd erblickte 1936, also drei Jahre nach Machtergreifung Adolf Hitlers als Hamburger Jung das Licht der Welt. Geboren wurde er im Kinderkrankenhaus in der Marckmannstraße im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Nur vier Jahre nach seiner Geburt begann in dieser medizinischen Einrichtung die Ermordung sogenannter unerwünschter Elemente. Hier wurde Säuglingen und Kleinkindern ein tödlicher Medikamentencocktail von Ärztinnen und Schwestern gespritzt, die juristisch weitgehend unbehelligt blieben und weiterhin ihren Beruf ausüben konnten.225 Als Gerds Vater noch lebte, hatte die fünfköpfige Familie in diesem Stadtteil zwischen Norderelbe und Bille gewohnt, einem zentrumsnahen Arbeiterviertel der Hansestadt, das jedoch durch die „Operation Gomorrha“ im Sommer 1943 bei über 30 °C Außentemperatur von US-Amerikanern und Briten völlig zerbombt wurde. Am Ende dieses Feuersturms mit sechs Großangriffen auf die Elbmetropole waren ca. 34.000 Menschen tot, 900.000 obdachlos und fast eine Million auf der Flucht. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht und lag in Schutt und Asche.

Nach dem Tod seines Vaters, einem gelernten Buchdrucker, der bei einem Bombenangriff auf Königsberg ums Leben gekommen sein soll, wuchs Gerd zusammen mit seinen zwei jüngeren Geschwistern und einem später unehelich geborenen Halbbruder mit seiner Mutter in einem ländlichen Stadtteil am nördlichen Stadtrand Hamburgs auf. Seine Mutter hatte nur wenig Zeit für ihre Kinder, die sie fortan alleine durchbringen musste. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Ältesten. Gerd war bei Kriegsende gerade mal neun Jahre alt und musste schon viel Verantwortung für die Familie übernehmen. So wurde er eingespannt, bei Bauer Bunte auf dem Hof mitzuhelfen, und beim Vermieter wurde er u. a. zur Obsternte eingesetzt. Im Alter von elf Jahren wurde er dann abends zum Geldverdienen geschickt. Dies tat Gerd in einer Gaststätte mit Tanzlokal und Kegelbahn, wo er „Alle Neune“ wieder aufzustellen hatte. Heute würde dies wohl unter den Begriff „Kinderarbeit“ fallen, während es damals lediglich ein notwendiges Übel zum Überleben war. Dass ein elfjähriges Kerlchen ins Bett gehört, statt in einer verrauchten Gaststätte – damals gab es noch kein Rauchverbot in der Gastronomie und in öffentlichen Einrichtungen – zur nächtlichen Stunde Geld verdienen zu müssen, versteht sich von selbst. Jedoch war jeder Pfennig nötig, um das Überleben einer alleinerziehenden Mutter mit vier kleinen Kindern zu sichern. Für Mutterliebe und Kuscheleinheiten mit dem Nachwuchs blieb dabei nur wenig Zeit und Raum. Man befand sich schließlich, frei nach Darwin, im wahrsten Sinne im Kampf ums Überleben im völlig zerbombten Hamburg. Ella-Marie würde ihre Großmutter aus heutiger Sicht als eine eher kühle, oft distanziert und emotionslos wirkende Frau beschreiben, der gelegentlich auch mal die Hand ausrutschte, wie beispielsweise gegenüber ihrem zwei Jahre älteren Cousin Frank, der sich später das Leben nahm. Dabei hat sie sich mehr als einmal gefragt, ob ihre Großmutter schon immer so war oder ob der Krieg sie so hart werden ließ.

Durch die guten Kontakte der jungen Mutter zum Landwirt Bunte, bei dem sie auch arbeitete, war wenigstens dafür gesorgt, dass die Familie mit Obst, Gemüse, Eiern, Milch und dergleichen versorgt war und keinen Hunger leiden musste. Insbesondere für die Kinder fiel immer etwas ab. Und auch das Leben zur Miete in einem alten, reetgedeckten Haus einer bekannten Hamburger Unternehmer- und Mäzenatenfamilie in Flughafennähe erwies sich als hilfreich. Zum einen kamen sowohl Ella-Maries Großmutter als auch deren Kinder in den 1960er-Jahren über Wohnberechtigungsscheine in den Genuss von Neubauwohnungen über die Stiftung dieser wohlhabenden Familie. Zum anderen fand ihre Großmutter bei der Stiftung Arbeit als Putzfrau für die Generalreinigung von Wohnungen vor dem Erstbezug. Was aber blieb, war die Trauer von Ella-Maries Vater um seinen viel zu früh verstorbenen eigenen Vater und eine gestohlene Kindheit unter der Knute einer Mutter, die insbesondere ihrem Ältesten nur wenig Liebe und Nestwärme zu geben vermochte.

Ostpreußisches Flüchtlingsmädchen

Die Geschichte der Kindheit von Ella-Maries Mutter Inge, einem Marjellchen aus Ostpreußen, ist eine andere. Sie floh als Neunjährige im Januar 1945 bei eisiger Kälte zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden jüngeren Brüdern aus Ortelsburg in Masuren. Ziel war es, mit dem Schiff über die Ostsee den Hafen von Kiel in Schleswig-Holstein zu erreichen, dem Hauptanlaufgebiet von Flüchtlingen und Vertriebenen bei der Evakuierung von 2,5 Millionen Menschen aus dem Baltikum sowie Ost- und Westpreußen. Insgesamt verließen ab Ende 1944 ca. 14 Millionen Deutsche ihre Heimat in unzähligen Flüchtlingstrecks. Viele davon begaben sich mit Pferdefuhrwerken über das zugefrorene Frische Haff der Ostsee gen Westen, eine Entscheidung, die durch das Einbrechen im eiskalten Wasser oder durch den Beschuss von Tieffliegern für zahlreiche Menschen tödlich endete. Ursprünglich hatte Inges Mutter bis zum Schluss auf den Vater ihrer Kinder warten wollen, der als Zugschaffner bei der Reichsbahn arbeitete. Da die Rote Armee jedoch unaufhaltsam Richtung Westen rückte, packte die junge Mutter ihre drei Kinder, verließ das kleine schmucke Häuschen im idyllischen Masuren und floh mit dem Zug in der Holzklasse ohne Fensterscheiben in Richtung Königsberg. Auch sie wurden während der Fahrt durch Tiefflieger beschossen, weswegen der Zug immer wieder in Waldstücken zum Halten kam. Die Reise unter widrigen Umständen wollte einfach kein Ende nehmen. Endlich in Königsberg angekommen, verbrachte die Familie vier Tage in einem Bunker, um in einem Viehwaggon bei klirrender Kälte weiter in die Hafenstadt Pillau zu gelangen. Zuvor hatte Ella-Maries Oma in Königsberg einen Evakuierungsschein für vier Personen bekommen. Von Pillau aus „wollte“ man zusammen mit Tausenden anderer Frauen und Kinder, Verletzten, alten Leuten und Soldaten am 30. Januar 1945 mit der „Wilhelm Gustloff“, dem einstigen Luxus-Traumschiff der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ und zur Zeit seiner Erbauung größten Schiff der Welt, über die Ostsee die geliebte Heimat verlassen. In Pillau angekommen, lag der Luxusliner jedoch gar nicht vor Anker. Das Entsetzen soll laut Ella-Maries Mutter riesengroß gewesen sein. Wie sollte man nun weiter gen Westen gelangen, während die Rote Armee immer näher kam? Das Schicksal meinte es dennoch gut. Man hatte sozusagen noch einmal Glück im Unglück, denn die vierköpfige Familie konnte mit der „Hansa“ aus der ostpreußischen Heimat fliehen. Schon während der Überfahrt bekam die neunjährige Inge aus Gesprächen von Soldaten an Bord mit, dass die „Wilhelm Gustloff“, die an diesem Tag hoffnungslos überfüllt den Hafen von Gotenhafen verlassen hatte, durch den Beschuss mit drei sowjetischen Torpedos gesunken war. Mehr als 9.000 Menschen verloren bei der bislang größten Katastrophe der Seefahrt in der eiskalten Ostsee ihr Leben, nur 1.239 Menschen überlebten.226

Wie würde wohl die Antwort lauten, wenn man heute eine Umfrage hinsichtlich der größten Schiffskatastrophe aller Zeiten durchführen ließe? Wilhelm Gustloff? Wohl kaum, denn welcher Mensch der jüngeren Generation kennt die Geschichte dieses Schiffes überhaupt? Auch gibt es über diese menschliche Tragödie auf See keinen einnahmeträchtigen Blockbuster made in Hollywood. Darüber hinaus ist die Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ laut Expertenmeinung nicht als Kriegsverbrechen zu betrachten, sondern vielmehr ein legitimes Mittel in kriegerischen Zeiten gewesen. Die vielen Toten waren also nicht einmal ein sogenannter Kollateralschaden eines militärischen Aktes. Schließlich habe Deutschland Europa mit Krieg und mit Mord überzogen.227 Machen Sie die Probe aufs Exempel, indem Sie jüngeren Menschen die Frage nach der weltweit größten Katastrophe der Seefahrt stellen – Sie werden staunen! Die Antwort wird nahezu unisono „Titanic“ lauten. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Schließlich wurde der Untergang des Luxusliners „RMS Titanic“, bei dessen Jungfernfahrt über 1.500 Menschen ihr Leben verloren, bereits mehrfach verfilmt. An Bord des tatsächlich untergegangenen Fahrgastschiffes der Extraklasse waren übrigens neben vielen anderen wohlhabenden Menschen der Bergbaumagnat Benjamin Guggenheim, der New Yorker Kaufhausmitbesitzer Isidor Strauss und der Waldorf-Astoria-Hotelier John Jakob Astor. Gemeinsam war denen ihr großer Reichtum, doch es gab noch eine weitere Gemeinsamkeit: Alle drei sollen gegen die Gründung einer amerikanischen Zentralbank in Form der Federal Reserve gewesen sein.228

 

Die bekannteste Version, eine Mixtur aus Fakten und Fiktion, ist die mit elf Oscars ausgezeichnete Hollywoodproduktion von 1997, die teurer war als die „Titanic“ selbst. 200 Millionen US-Dollar kostete das 194-Minuten-Produkt aus der Traumfabrik in Los Angeles, während der Bau des Schiffes in den Jahren 1910 bis 1912 1,5 Millionen Pfund ausmachte, was umgerechnet auf das Jahr 1997 150 Millionen US-Dollar bedeutet.229 Das US-Filmdrama mit dem schnuckeligen Leonardo DiCaprio als Hauptdarsteller ist aber auch so schön klischeehaft: Tochter aus wohlhabendem Haus brennt mit armem Schlucker auf Luxusliner durch und ohne eine Packung Taschentücher ist dieser Streifen in seiner ganzen Länge kaum durchzustehen. Durch diesen Film wurde DiCaprio über Nacht zum Star und gründete nur ein Jahr später seine Leonardo-DiCaprio-Stiftung. Im Jahr 2018 hieß es, dass man über diese Stiftung bislang 100 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen den Klimawandel gesammelt habe, die in zahlreiche Projekte fließen würden.230 Der Schwarm vieler Frauenherzen wurde durch ein vorausgegangenes Treffen mit Al Gore, dem früheren US-Vizepräsidenten, im Jahr 1998 zum Umweltaktivisten.231 DiCaprio leidet scheinbar an einem ganz tief sitzenden Kindheitstrauma. So musste er als Junge statt unter einem Poster seines Superheldens unter einem Kunstdruck von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ schlafen, auf dem die Menschheit aus dem Paradies vertrieben wird. Deshalb weiß er auch, worauf die Welt gerade zusteuert: „Mit Adam und Eva fängt es an, dann geht es weiter: Überbevölkerung, Gemetzel, am Ende ist der Himmel tiefschwarz, die Landschaft verwüstet.“232 Und obwohl er das so genau weiß, steht er immer wieder in der Kritik aufgrund seines Umweltengagements. Trotz des unmittelbar bevorstehenden Weltunterganges benutzt er, der sich gerne mit sehr viel jüngeren Frauen umgibt und in Sachen Weltenretter unterwegs ist, seinen Privatjet wie andere ihr Auto oder Moped und reist auf einer Luxusjacht mit 24.000 PS durch die Weltgeschichte.233

Doch nun erst einmal wieder zurück ins Jahr 1945, in dem es nach der Überfahrt auf der eisigen Ostsee in eine ungewisse Zukunft ging. Eine, die mit vielen offenen Fragen, Hoffnungen und auch so manchen menschlichen Enttäuschungen versehen war.

Unter deutschen Dächern

In Kiel angekommen, wusste die Familie ohne männliches Familienoberhaupt nicht, wohin sie überhaupt gebracht werden und was sie erwarten würde. Sie wurde einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein zugewiesen. Dort kam sie bei einer alleinstehenden Dame in einer Villa in einem einzigen kleinen Zimmer von ca. 16 m2 Größe für ganze vier Jahre unter. Der Raum hatte zunächst nicht einmal eine Ofenheizung und das Dach eines kleinen Erkers war undicht, weswegen es stets kalt, klamm und feucht war. Die Hausbesitzerin zeigte sich keineswegs begeistert über die neuen Mitbewohner, auch wenn sie Deutsche wie sie selbst waren. Von einer Willkommenskultur konnte damals keine Rede sein und auch mit der Solidarität gegenüber Mitmenschen aus den Ostgebieten war es oft nicht weit her. So machte sich die Dame keinerlei Sorgen um die stark abgemagerten und von der Flucht gezeichneten Menschen. Mitleid, Empathie und Menschlichkeit waren wohl Fremdwörter für sie. Dass einer der beiden Söhne der jungen Mutter aus Ostpreußen infolge der Flucht gesundheitlich schwer angeschlagen war und kaum noch ein Lebenszeichen von sich gab, rührte sie kaum. Bereits in Ostpreußen hatte Ella-Maries Großmutter nach der Geburt der kleinen Inge ihre zweitgeborene Tochter aufgrund einer Lungenentzündung verloren, weswegen sie um den Gesundheitszustand des älteren ihrer beiden Söhne in großer Angst war. Der Villenbesitzerin größte Sorge galt vielmehr ihrem schönsten Zimmer, in das später ein Ofensetzer sehr zum Leidwesen dieser Frau einen Kohleofen für die vierköpfige Flüchtlingsfamilie einbaute.

Zwei weitere Räume des Hauses wurden von einer ausgebombten Hamburgerin mit ihren drei Kindern bewohnt. Daneben lebten darin auch die Hauseigentümerin selbst, ein Lehrer mit Frau und Sohn sowie eine pensionierte alleinstehende Lehrerin. Das Zimmer der Lehrerin war nur durch eine Schiebetür von dem der Familie mit den ostpreußischen Wurzeln getrennt. Privatsphäre war Fehlanzeige und Inge und ihre beiden Brüder mussten immer sehr leise sein. Dies insbesondere dann, wenn die Lehrerin privaten Nachhilfeunterricht erteilte. Es gab nur eine Toilette für alle gemeinsam, also nicht nach Geschlechtern getrennt. Das stille Örtchen befand sich jedoch nicht im Haus, sondern in Form eines Plumpsklos in einem Schuppen im Garten. Wer jetzt erwartet, dass es zumindest fließend Wasser in der Villa gegeben habe, der wird enttäuscht: Zum Waschen, Kochen und Baden wurde kostbares Nass mittels einer Schwengelpumpe aus dem Brunnen im Vorgarten befördert. Gewaschen, gekocht, gegessen, geschlafen, Hausaufgaben gemacht, gespielt usw. wurde nur in diesem einen Zimmer. Wie schon gesagt: Mit vier Personen vier Jahre lang. Wer mag sich heute ein Leben unter solchen Umständen vorstellen? Wohl keiner. Doch damit nicht genug. Das beengte Wohnen für Menschen, die man kurzerhand per Zwangseinweisung anderen Menschen, die über unzerstörten Wohnraum verfügten, zuwies, war nur eines der vielen Probleme damals.

Frieden in Armut

Es fehlte an allem: an Nahrungsmitteln, Kleidung, Schuhen, Spielsachen, Hygieneartikeln, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ella-Maries Onkel, damals ein kleiner Lorbas des Jahrgangs 1939, eben jener, der kaum noch ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, war für sein Alter handwerklich äußerst geschickt. So fertigte er beispielsweise aus alten Fahrradmänteln Sandalen für den Sommer. Damit konnte man zumindest die warme Jahreszeit per pedes einigermaßen überstehen und musste nicht barfuß unterwegs sein. Da die inzwischen elfjährige Inge jedoch im Winter 1946/47 noch immer keine festen Schuhe besaß, ging ihre Mutter zum Pastor, um diesen um ein Paar zu bitten. Dieser Auftritt als Bittstellerin bei dem Kirchenmann um Schuhwerk für ihr Töchterchen war ihr äußerst unangenehm. Wer ist schließlich schon gerne auf Almosen angewiesen? Das Ergebnis konnte sich laut Ella-Maries Mutter jedoch sehen lassen: Es gab ein Paar knöchelhohe Herrenschuhe für sie, die es selbst später nur auf Schuhgröße 37 brachte, also sprichwörtlich nur auf kleinem Fuß lebte. So konnte das Kind wenigstens zur Schule gehen, auch wenn die Schuhe des Kirchenmannes natürlich viel zu groß waren und der Schulweg bei Eis und Schnee mit diesen nicht gerade leicht zu bewältigen war.

Für Eitelkeiten und irgendwelche Das-zieh-ich-aber-nicht-an-Diskussionen war kein Platz. Es herrschte vielerorts und hinsichtlich vieler Dinge ein nüchterner Pragmatismus. Von ihrer Mutter erfuhr Ella-Marie aus Erzählungen, dass der Winter 1946/47 auch „Hungerwinter“ genannt wurde, da er damals seit Jahrzehnten zu den kältesten Wintern in Deutschland mit Temperaturen bis zu minus 20 °C zählte. Sogar die Binnenschifffahrt war aufgrund vereister Flüsse zum Erliegen gekommen und damit die Versorgung mit Lebensmitteln.234 Ob man wohl schon damals in Politik und Medien von einer Klimakatastrophe sprach? Wohl kaum, denn dem eisigen Winter folgte ein typischer Jahrhundertsommer anno 1947 mit z. B. 60 Sommertagen und einer Höchsttemperatur von mindestens 25 °C im Südwesten des Landes. Normal wären 31 Sommertage gewesen.235

Sich auf den Unterricht zu konzentrieren, fiel der kleinen Inge, die eine gute und wissbegierige Schülerin war, nicht immer leicht. Sie litt sehr an starker Unterernährung, weswegen sie gelegentlich einfach ohnmächtig wurde. Diese Ohnmacht überfiel sie auch während des Unterrichts, der von einer einzigen Lehrerin einer Klasse mit 45 Mädchen gegeben wurde. Aus heutiger Sicht ist auch dies kaum vorstellbar. Die Ohnmachtsanfälle waren jedoch wenig verwunderlich, denn an so manchem Tag lebte das Mädchen nur von einem einzigen Stückchen Steckrübe. Auch der Rest der Familie, den die Sorge um den Vater und Ehemann, von dem es noch immer kein Lebenszeichen gab, und das Heimweh nach der masurischen Heimat plagte, bekam nicht viel zu essen. So manche Mahlzeit ließ die junge Mutter zugunsten ihrer Kinder mit den Worten „Esst nur, ich habe bereits gegessen!“ ausfallen. Auf Bildern vor der Flucht, von denen es zum Glück noch ein paar gibt, sieht Ella-Maries Oma wie das blühende Leben aus. Auf Bildern, die nach 1945 aufgenommen wurden, ist sie hingegen eingefallen und vergrämt, ein Schatten ihrer selbst. In der großen Verzweiflung um das leibliche Wohl ihrer Kinder schlachtete sie deren Kaninchen, womit sie sich den Zorn ihres Nachwuchses zuzog. Schließlich hatte dieser schon die geliebte Katze in Ostpreußen zurücklassen müssen, und dann landete auch noch das nicht weniger ins Herz geschlossene Karnickel als Sonntagsbraten auf dem Tisch. Von wegen, der Hunger treibt´s rein: Die drei ausgehungerten Kinder aßen nur die trockenen Kartoffeln und rührten nicht einmal die Bratensoße an.

Inge und ihre beiden Brüder bekamen durch die schlechte Ernährung offene Stellen an den Beinen. Diese fingen oft an zu nässen und zu eitern, weswegen die Socken beim Ausziehen kleben blieben und die Wunden später hässliche Narben hinterließen. Zusammen mit ihren Kindern zog Ella-Maries Großmutter mit einem Bollerwagen über Land, um ihre Zigarettenmarken, die sie als Nichtraucherin nicht benötigte, bei den Bauern gegen etwas Essbares für ihre Kinder einzutauschen. Die Landwirte waren nur selten erfreut über derartige Hofbesuche von den Pollacken, wie die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten damals oft genannt wurden. Einmal kamen sie zu einem Bauern, der sogar seine Hunde auf die Pollackin und ihre Gören hetzen wollte, wenn diese mit ihren Kindern nicht sofort den Hof verließe. Ohne die Schulspeisung durch die Schweden, die ihre Neutralität im Zweiten Weltkrieg erklärt hatten, um nicht in diesen hineingezogen zu werden, hätten Ella-Maries Mutter und ihre beiden Onkel die Nachkriegszeit wohl gar nicht überlebt. Trotz des Verlustes der Heimat, der Ungewissheit über den Verbleib von Ehemann und Vater und der widrigen Umstände, unter denen man zu leben hatte, betete man und dankte Gott dafür, dass man ein Dach über dem Kopf hatte und wieder in Frieden leben durfte.

Was aber erleben wir heute in Deutschland zum Beispiel hinsichtlich der Ernährung? Auf der einen Seite stehen die Adipösen neben den Bulimikern mit ihrer häufigen Neigung zum Laxantien- und Brechmittelmissbrauch. Andererseits herrscht gerade in gut betuchten Familien oft ein regelrechter Glaubenskrieg um die Ernährung in Form von omnivorem, (ovo-lacto-)vegetarischem oder veganem Essen neben roher bzw. frutarischer Kost. Viele muslimische Mitbürger unterscheiden zwischen Haram- bzw. Halalernährung, während immer mehr arme Menschen in Deutschland im Jahr 2019 auf die Hilfe der gemeinnützigen Tafeln angewiesen sind. Dabei werden jedes Jahr schätzungsweise 18 Millionen Tonnen Lebensmittel deutschlandweit weggeworfen, derweil weltweit alle zehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren stirbt, 800 Millionen Menschen auf dieser schönen Erde Hunger und ganze zwei Milliarden an Mangelernährung leiden.236, 237

Einer der weltweit größten Lebensmittelhersteller ist heute das Unternehmen Nestlé mit seinem Hauptsitz in der Schweiz. Zu dessen Produktpalette gehören mehr als 2.000 Marken, darunter beispielsweise Nesquik-Kakao, Nespresso-Kaffee – einst beworben vom US-Schau-spieler George Clooney –, Smarties, Vittel, Katzenfutter Felix, aber auch Kosmetik- und Parfummarken wie Garnier, Maybelline, Diesel und Yves Saint Laurent. Immer wieder gerät dieses Unternehmen in die Schlagzeilen, weil es zum Beispiel weltweit Wasserrechte von staatlichen Behörden kauft, so auch im Süden Afrikas, in Äthiopien und Pakistan. Dieses zuvor gereinigte Wasser wird dann zu recht stattlichen Preisen verkauft. Der Regenwald wird für Palmöl in Kitkat, Nutella & Co. abgeholzt. Täglich verschwindet die „grüne Lunge der Erde“, einer der artenreichsten Lebensräume überhaupt, in einer Größenordnung von 30 Fußballfeldern. Und auch die Babynahrung dieses Unternehmens ist nicht an einer gesunden Ernährung der Kleinsten der Kleinen interessiert, sondern vielmehr auf Profit und Wachstum ausgerichtet.238, 239 Dabei ist die wahre grüne Lunge der Erde nicht wirklich der Amazonas-Regenwald, sondern zum Beispiel die Taiga in Sibirien. Dort verlaufen Verrottungsprozesse aufgrund der klimatischen Bedingungen viel langsamer ab. Deshalb wird der für Zersetzungsprozesse benötigte Sauerstoff deutlich langsamer der Atmosphäre entzogen als in den Tropen, was zu einer positiven Sauerstoffbilanz führt.240

 

Um nicht auf weitere Almosen für sich und ihre heranwachsenden Kinder angewiesen zu sein – den menschlichen Stolz und die Würde der dreifachen Mutter konnte selbst ein verlorener Krieg nicht besiegen –, arbeitete Ella-Maries Großmutter in einer Wurstfabrik. Ihr Mann, der bei nächster Gelegenheit nach Westdeutschland nachkommen wollte, wo eine Halbschwester in Bochum lebte, galt zunächst als vermisst. Man hatte ihn damals über das Deutsche Rote Kreuz suchen lassen, jedoch ohne Ergebnis. Schweren Herzens ließ Ella-Maries Oma 1951 ihren Mann für tot erklären, um wenigstens für sich eine Kriegswitwenrente zu bekommen. Schließlich hatte ihr Gatte viele Jahre bei der Reichsbahn als Schaffner gearbeitet. Glücklicherweise hatte sie alle notwendigen Ausweispapiere und persönlichen Dokumente mit auf die Flucht aus der kalten Heimat, wie Masuren wegen der rauen Winter damals genannt wurde, gen Westen genommen. Diese Unterlagen existieren bis heute und befinden sich seit dem Tod von Ella-Maries Oma im Jahr 1978 im Besitz ihrer Mutter. Sowohl die Familie von Ella-Maries Vater als auch die ihrer Mutter – ihre Oma väterlicherseits hatte nur einen Bruder, während ihre Oma mütterlicherseits elf Geschwister hatte –, wurden durch den Krieg in ganz Deutschland versprengt und/oder durch die innerdeutsche Grenze voneinander getrennt bzw. nach Russland verschleppt.

Auch heute, über 74 Jahre nach Kriegsende, sind die Narben aus der Kindheit sowohl an den Beinen als auch auf der Seele der Mutter von Ella-Marie noch immer zu sehen bzw. zu spüren, auch wenn sie im Laufe des Lebens ein wenig verblasst sind. Ja ja, die Zeit heilt Wunden, dies zumindest oft aber nur oberflächlich. Flucht und Vertreibung vergisst derjenige, der sie erlebt hat, sein Leben lang nicht. Und so kommt heute aufgrund der weltweiten Situation das Thema Krieg zwischen Ella-Marie und ihrer alten Mutter verstärkt zur Sprache. Geholfen haben ihrer Mutter bei der Vergangenheitsbewältigung kein Psychologe und keine Traumatherapie. Sie, die es damals trotz guter Noten nur zum Volksschulabschluss gebracht hatte und keine Ausbildung machen konnte, da sie Geld verdienen musste, hat im hohen Alter angefangen, ihre Fluchterlebnisse aufzuschreiben. Aus diesen Aufzeichnungen hat sie an ihrem 80. Geburtstag im Oktober 2015 den Schülern eines Gymnasiums in Schleswig-Holstein vorgelesen.

So oder ähnlich wie den Familien von Ella-Maries Eltern ist es damals Millionen von Menschen in der Nachkriegszeit ergangen, die ausgebombt wurden, fliehen mussten oder zu den Vertriebenen bzw. Spätaussiedlern gehörten. Viele waren durch ihre Kriegserlebnisse schwer traumatisiert, doch es blieb nicht viel Zeit zum Trauern, denn es ging für die meisten ums nackte Überleben. Ebenso ging es um den Wiederaufbau eines kaputten und zerbombten Landes unter seiner früheren faschistischen Führung. Dies alles zu einer Zeit, als nicht jeder Haushalt im Besitz eines Fernsehers war, von einem Telefon oder gar einem Smartphone und dem damit verbundenen Informationsreichtum des Internets ganz zu schweigen. Hauptsächlich über Druckerzeugnisse und die Goebbelschnauze, also den Volksempfänger, der als eines der wichtigsten Instrumente der NS-Propagandamaschine dank Gleichschaltung und personeller Säuberung der Rundfunkanstalten galt, wurde das Volk mit den vermeintlich richtigen und wichtigen Informationen berieselt und indoktriniert. Wie aber ist es Ella-Marie, der hamburgisch-ostpreußischen Kriegsenkelin, vor dem Hintergrund der Geschichte ihrer Eltern in ihrem eigenen Leben ergangen?