Altes Wissen - Neuer Tod

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3

„Jetzt komm schon, Hugo! Das klappt bestimmt, wir müssen es nur genau so machen, wie es in dem Buch steht!“, drängte Linda Bockmeyer ihren Stiefbruder und wunderte sich, dass er überhaupt zögerte. Bisher hatte er stets das getan, was sie von ihm wollte. Er hatte das Down-Syndrom und sie kümmerte sich, seit sie denken konnte, um ihn. Ihre Adoptivmutter Edith hatte zwei leibeigene Söhne - Harald war zehn Jahre älter als Linda und Hugo fünf Jahre jünger. Sie war adoptiert worden, nachdem das Paar nach Harald zunächst keine weiteren Kinder bekommen konnte, doch dann kam überraschend doch noch Hugo zur Welt. Die Eltern kamen mit seiner Behinderung nicht zurecht und bald machte sich der Vater aus dem Staub. Allein Linda sorgte sich von Anfang an liebevoll um den lieben Jungen, und seit seine Mutter sich wegen ihrer Alkoholsucht überhaupt nicht mehr um ihn kümmerte, lebte er bei seiner großen Schwester. Immerhin wohnte die ganze Familie gemeinsam auf dem elterlichen Hof. Die Mutter in der kleinen Erdgeschoss-Wohnung, daneben in einem großen Zimmer ihr Enkel Luca, dessen Eltern Harald und Bettina im ersten Stock und Linda und Hugo oben in der schönen Wohnung mit Dachschräge.

„Schau mal Hugo ... es ist doch ganz einfach“, fing Linda nochmals von vorne an und strubbelte ihrem kleinen Bruder durch seine roten Locken. „Die Häschen deines Bruders sind krank und wir wollen ihnen helfen, gesund zu werden. Genau dafür haben wir dieses tolle Buch hier - da steht drin, was wir tun müssen!“

„Aber das letzte mal, als wir ihnen das komische Zeug zu fressen gegeben haben, ist es doch nicht besser geworden!“, jammerte der untersetzte Mann, der mit seinen fünfunddreißig Jahren immer noch wie ein kleiner Junge wirkte. Linda nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn ganz fest.

„Das weiß ich auch, Hugo. Aber manchmal muss man mehrere Versuche machen, bis man das Richtige findet, was den armen Tierchen helfen wird. Wir versuchen es einfach nochmal, was meinst du?“, gurrte sie geradezu, doch ihr Blick war dabei eiskalt. Hugo konnte es nicht sehen, aber er schien zu spüren, wie ernst es ihr mit dieser Sache war. Trotz seines inneren Widerstrebens, drückte er seine Schwester ebenfalls so fest er konnte. Erst dann befreite er sich aus ihrer Umklammerung.

„Also gut. Was soll ich machen?“, fragte er ergeben und wollte so sehr glauben, dass seine Schwester recht hatte und es den armen Hasen bald wieder besser gehen würde. Sie lagen seit Tagen nur noch apathisch in ihrem Stall, fraßen und tranken so gut wie nichts mehr. Den Meerschweinchen schien es ähnlich zu gehen, vielleicht mussten sie sich um die auch noch kümmern? Das fragte er dann auch seine Schwester, doch die winkte ab.

„Um die kümmert sich bereits der Luca - mach dir keine Sorgen, wir drei halten zusammen und kriegen das schon hin!“, sagte sie und war sich ihrer Sache noch nie so sicher wie jetzt. Mit Hilfe des alten Heilerwissens aus dem Buch von Albertus Magnus würde ihr Vorhaben gelingen. Wie gut, dass sie eine neue Ausgabe von zweitausendacht im Internet gefunden hatte, denn das Original mit der alten Schrift war doch recht mühsam zu lesen gewesen.

4

Die Gerichtsmedizin der Universitätsklinik Ulm hatte sich inzwischen gemeldet und die Kommissare Kiss und Clemens waren auf dem Weg dorthin. Sie waren beim „Doktor der Toten“, wie sie den zuständigen Arzt Dr. Hildenbrandt insgeheim nannten, angemeldet. Von Göppingen aus waren sie über die neue B10 Richtung Geislingen gefahren und standen am Ende der zweispurigen Umgehungsstraße wie fast immer im Stau.

„Ob wir den Weiterbau der B10 wohl noch erleben werden? Was bringt diese Umgehung, wenn sie dann doch wieder in diesem blöden Nadelöhr endet?“, schimpfte Joska, der sich fragte, wohin die vielen Leute um elf Uhr am Vormittag wohl unterwegs waren.

„Den Autofahrern bringt es nicht viel, aber den Anwohnern in den Ortschaften schon. Nur die Geschäfte werden es sicher merken, dass weniger potentielle Kundschaft an ihnen vorbeifährt. Man kann halt nicht alles haben“, entgegnete Sascha, woraufhin ihr Gespräch wieder zum Erliegen kam und Joska auf dem Beifahrersitz einschlief. Kurz vor Ulm kam wieder Leben in ihn und er fuhr sich durch die verstrubbelten blonden Haare. „Mir ist immer noch nicht wohl, wenn wir in die Katakomben der Klinik runter gehen“, seufzte Joska, doch sein Kollege fand das eher spannend. Der sechs Jahre ältere Clemens war erst spät in den Polizeidienst getreten, hatte sich aber inzwischen unentbehrlich für seinen jungen Kollegen gemacht. Auch bei diesem Termin war Herr Kiss sehr froh, seinen wachsamen und wissbegierigen Mitarbeiter bei sich zu haben.

Dr. Hildenbrandt erwartete sie schon am Eingang und begrüßte sie in seiner ruhigen und besonnenen Art.

„Dort entlang, die Herren. Die Dame liegt gleich hier drüben“.

Voller Unbehagen bei dem Einen und Vorfreude bei dem Anderen folgten die Kommissare dem Arzt, der bereits das weiße Tuch von der Toten gezogen hatte. Sogleich begann er mit seinem Vortrag:

„Mein Kollege, Dr. Menrad, hatte vollkommen recht, als er die Möglichkeit erwähnte, dass die Frau hier nicht nur allein an ihrer Alkoholsucht gestorben ist. Man kann an Mund und Nase feststellen, dass sie irgendwelche giftigen Substanzen zu sich genommen hat. Daraufhin untersuchten wir auch ihre inneren Organe und auch hier haben wir Giftiges analysieren können. Allerdings ist es ein so merkwürdiger Cocktail aus allen möglichen ... Kräutern - möchte ich mal behaupten - so etwas ist uns hier noch nie untergekommen. Man kann sagen, dass es hauptsächlich Heilkräuter sind, aber in viel zu hohen Dosen und verstärkter Wirkung durch den starken Alkoholkonsum, sodass dies schließlich zum Tod geführt hat. Ob die Dame sich diese Mittelchen selbst verabreicht oder es ihr jemand untergejubelt hat ... nun, es bleibt jetzt Ihnen überlassen, das herauszufinden. Viel Erfolg!“, zwinkerte ihnen der Arzt zu und deckte die Leiche wieder ab.

„Können Sie uns bitte die Mixtur dieses Cocktails zukommen lassen?“, fragte Herr Clemens, der sich bereits darauf freute, das alles genauestens nachrecherchieren zu können.

„Selbstverständlich. Sie bekommen baldmöglichst meinen Bericht. Falls Sie sonst nichts mehr von mir brauchen - ich hab noch viel zu tun, wie Sie ja sehen können“, seufzte er und zeigte auf drei weitere zugedeckte Leichen.

„Nichts wie raus hier!“, zischte Joska seinem Kollegen zu und eilig verließen sie die gerichtsmedizinischen Räume.

„Und jetzt? Fahren wir sofort zu den Angehörigen?“, wollte Sascha wissen und setzte sich wieder aus Rücksicht auf die immer noch geschwollene Nase seines Kollegen hinters Steuer von dessen kleinem Mini Cooper.

„Ja, würde ich sagen. Fühlen wir denen doch gleich mal auf den Zahn!“, kommandierte Joska Kiss mit neuem Elan, denn Zeugenbefragungen und das Einkreisen Verdächtiger war seine Spezialität. Während sie über Geislingen, Salach und Krummwälden Richtung Ottenbacher Tal fuhren, merkte Joska mal wieder, um wie viel kälter es dort war. Während im Filstal kaum Schnee gefallen und sofort wieder weggetaut war, lag das sogenannte Göppinger Allgäu mit weißem Schleier vor ihnen. Der Wald auf dem Hohenstaufen hatte eine zarte pudrige Krone und auch die Dächer der rund um den Berg gelegenen Häuser waren weiß. Lange würde das bisschen Schnee allerdings nicht liegen bleiben, es wurde bereits warmes Frühlingswetter angekündigt.

„Immer wieder schön, nach Hause zu kommen“, stellte Joska fest und es überraschte ihn selbst, wie gerne er inzwischen in dem beschaulichen Örtchen Ottenbach mit seinen knapp zweitausendfünfhundert Einwohnern lebte. Natürlich lag das hauptsächlich an seiner Freundin Nora Angerer und ihrer Familie, aber auch an ihrem schönen Außenhof, auf dem er nun wohnte.

„Die Bockmeyers wohnen auch auf einem der außerhalb der Ortschaft liegenden Höfe, stimmts?“, wollte Sascha wissen und Joska nickte.

„Ja, auf einem der insgesamt an die vierzig, soweit ich richtig informiert bin. Deshalb ja auch der Ausdruck ´Göppinger Allgäu`. Allerdings bin ich gespannt, wie lange diese Höfe noch so erhalten bleiben können. Bei einigen steht ein Generationenwechsel an und die meisten sind heutzutage zu klein, um noch eine Landwirtschaft betreiben zu können. Andere Nutzungen sind aber problematisch und es wird vieles nicht genehmigt. Da fragt man sich schon, was man dann mit so einem Hof anfangen soll? Einige sind zudem noch unter Denkmalschutz und du weißt ja selbst, was das bedeutet - so viel Geld, das entsprechend zu renovieren, hat doch meist niemand!“, echovierte sich Joska, der durch die Gemeinderatsarbeit seines Schwiegervaters in spe einiges mitbekam.

„Der Bockmeyer-Hof liegt ganz weit oben in Richtung Hohenstaufen, ziemlich versteckt im Wald. Wir müssen die für den Verkehr gesperrte Anrainerstraße hochfahren“, erklärte Herr Kiss und wies Sascha den Weg. Kaum waren sie ein Stück gefahren, kam ihnen ein großer Mann mit Hund entgegen.

„Na toll! Der Herr Bürgermeister - der wird mich gleich verseckeln, weil man hier nicht langfahren darf“, seufzte Joska und drehte das Fenster herunter.

„Tag Herr Bürgermeister! Bevor Sie mich tadeln ... wir sind dienstlich hier!“, wollte der Kommissar dem Ortsvorstand den Wind aus den Segeln nehmen, doch dieser winkte nur ab.

„Dachte ich mir schon, Herr Kiss. Sie sind sicher auf dem Weg zum Bockmeyer-Hof, nehm ich an?“

„Sie wissen es also schon? Das geht hier im Dorf aber schnell“, bemerkte Joska, während er den Hund streichelte, der seine Vorderpfoten auf den Fensterrahmen gestellt hatte. Dem jungen Tierfreund kam gar nicht in den Sinn, dass die Krallen des Hundes Kratzer auf dem Lack seines ihm äußerst wertvollen Autos hinterlassen könnten.

„Runter mit dir! Nicht, dass uns die Kommissare noch wegen Sachbeschädigung anzeigen“, grinste der Bürgermeister und zog seinen Hund vorsichtig vom Wagen weg. „Aber ja, Todesfälle sprechen sich immer schnell rum. Das Negative geht deutlich schneller als das Positive - leider. Allerdings war mir nicht bewusst, dass die Kriminalpolizei gerufen wird, wenn eine alte Frau - noch dazu eine Alkoholikerin - stirbt. Was veranlasst Sie, zu den Bockmeyers zu fahren, wenn ich fragen darf?“

 

„Fragen dürfen Sie, aber eine Antwort dürfen wir Ihnen leider nicht geben. Laufende Ermittlungen - Sie verstehen?“, schaltete sich Herr Clemens ein und Herr Kiss nickte bestätigend.

„War ja klar - dumme Frage. Aber man kann es ja mal versuchen“, lächelte der Gemeindevorstand und verabschiedete sich von den beiden.

„Sympathischer Typ, euer Bürgermeister und als Chef einer Gemeinde ne imposante Erscheinung“, stellte Sascha fest und wieder nickte Joska nur. Er war mit seinen Gedanken bereits bei der bevorstehenden Befragung.

„Haben wir eine besondere Strategie, Sascha?“

„Nein, wir wissen ja noch gar nichts. Lassen wir es erstmal auf uns zukommen und schauen, mit wie vielen Familienmitgliedern wir es überhaupt zu tun haben. Dann sehen wir weiter, einverstanden?“, fragte Sascha, denn eigentlich war Joska sein Vorgesetzter und traf normalerweise die Entscheidungen. Dass er ihn heute in seine Überlegungen mit einbezog, freute den Älteren sehr. Wenn auch ihr Start als Team etwas holprig gewesen war - inzwischen kamen sie immer besser miteinander aus, ergänzten sich und konnten sich aufeinander verlassen.

Der Hof der Bockmeyers lag wirklich versteckt im Wald auf der Anhöhe fast schon oben bei der Ortschaft Hohenstaufen.

„Da hätten wir ja gleich von oben her reinfahren können“, stellte Sascha fest, doch Joska murmelte nur:

„Macht der Gewohnheit. Auf geht`s - ran an die Zeugen oder Verdächtigen!“, zischte er seinem Kollegen zu und stieg wie immer schwungvoll aus seinem Wagen. Herr Clemens folgte ihm auf dem Fuße mit bereits gezücktem Notizblock.

„Sie kommen!“, flüsterte Linda ihrem Stiefbruder Hugo zu. „Du sagst am besten gar nix, hörst du?“, bekräftigte sie unnötigerweise, denn ihr kleiner Bruder war ihr hörig und tat stets, was sie von ihm verlangte. Bei ihrem Neffen Luca war sie sich da nicht so sicher, doch der wusste eh nichts Wesentliches. Während sie die Beamten beobachtete, wie sie aus dem Wagen stiegen und aufs Haus zusteuerten, überfiel sie wieder dieses merkwürdige, unkontrollierbare Zittern. Verzweifelt bemühte sie sich, es zu unterdrücken, doch es wurde von Mal zu Mal schwieriger. Ein wachsendes Gefühl der Panik, das jedes Mal stärker wurde, ergriff sie und raubte ihr den Atem. Was war nur seit ein paar Wochen los mit ihr? Sie versuchte, durch tiefes Ein- und Ausatmen zur Ruhe zu kommen - sie musste sich in den Griff kriegen! Die Bullen durften nicht merken, dass etwas mit ihr nicht stimmte! Ganz langsam und unter Aufbringung ihres ganzen Willens schaffte sie es immerhin, das Zittern zu kontrollieren, die Panik jedoch blieb.

Nach dem Klingeln ließ sie die Beamten eine Weile warten, ehe sie die Türe öffnete. Sie kannte Joska Kiss vom Sehen und wusste, dass er bei der Kripo war. Linda war klar, dass nach der Spurensicherung nun auch noch die Kripo kommen würde, um Fragen zu stellen. Ihr Hausarzt hatte angedeutet, dass er bezüglich der Todesursache nicht sicher war und das hatte er melden müssen. Nun war sie gespannt, was er bemerkt hatte und welche Konsequenzen daraus erfolgen würden.

„Ah, guten Tag Herr Kiss. Und Herr ... ?“, fragte sie freundlich und bat die Herren ins Haus. Sie führte sie der Einfachheit halber gleich im Untergeschoss in die Räumlichkeiten ihrer verstorbenen Adoptivmutter. Beim Anblick der beiden gut gekleideten Männer kam sie sich in ihrer löchrigen Kittelschürze, dem langen Faltenrock und den dicken Wollsocken in ihren alten Gummi-Schlappen äußerst schäbig vor. Hätten die sich nicht vorher anmelden können? Dann hätte sie sich etwas zurechtgemacht und ihre langen Haare zu ihrem gewohnten Dutt hochgesteckt. Nun stand sie hier mit offenen, hüftlangen Haaren vor ihnen - der erste Eindruck war entscheidend und der war nun sicher nicht gerade positiv. Aber egal - sie war hier zuhause und durfte darin herumlaufen, wie sie wollte. Energisch straffte sie die Schultern und wappnete sich für das kommende Gespräch.

„Clemens. Sascha Clemens. Sie kennen meinen Kollegen?“

„Oh ja! Wer kennt ihn nicht nach der Sache mit dem alten Messermacher und all den anderen Fällen, in denen auch seine Freundin Nora Angerer verstrickt war. Weiß doch das ganze Dorf!“, hielt sie ihm entgegen und führte sie dabei in die große Wohnküche, wo ein alter Kochherd sonst sicher für gemütliche Wärme sorgte. Doch heute war es ungemütlich kalt und es roch abgestanden.

„Dann sind Sie Linda Bockmeyer, die Tochter der Toten Edith Bockmeyer?“, fragte Joska Kiss, der diese Frau bisher noch nie bewusst wahrgenommen hatte.

„Ja, die Stieftochter, und das hier ist mein Stiefbruder Hugo. Sag guten Tag zu den zwei Polizisten!“, forderte sie ihn auf und gehorsam hielt er den beiden Männern, wenn auch sehr zögerlich, seine Hand hin.

„Guten Tag Herr Bockmeyer. Wie geht es Ihnen nach dem plötzlichen Tod Ihrer armen Mutter?“, fragte Joska mitfühlend und war sich nicht sicher, wie man mit einem erwachsenen Mann umging, der das Down-Syndrom hatte.

„Ein bisschen traurig, aber ich bin ja nicht oft bei ihr. Ich bin lieber bei Linda“, sagte er sehr leise mit einem ängstlichen Blick zu seiner Schwester. Hatte er jetzt doch etwas Falsches gesagt?

„Wessen Wohnung ist das hier? Die Ihrer Mutter?“, wollte Sascha wissen und beide nickten. „Wir werden uns später noch ein wenig hier umsehen. Die Spurensicherung war zwar schon da, aber wir machen uns immer gerne selbst ein Bild.“

„Ich nehme an, Sie wissen bereits, dass unsere Mutter alkoholsüchtig war?“, schaltete sich Linda Bockmeyer ein. Sie wollte nicht, dass ihr Bruder weiterhin befragt wurde, und wollte das Gespräch an sich reißen. Ob ihr das gelingen würde, war ihr zwar nicht klar, versuchen musste sie es jedoch. Wieder fingen ihre Hände zu zittern an, schnell schob sie sie in die Taschen ihrer Schürze und hoffte inständig, dass die Beamten nichts mitbekommen hatten.

„Das wissen wir. Aber daran ist sie nicht gestorben“, sagte Joska Kiss kurz angebunden und wartete auf eine Reaktion der beiden.

„Nicht? An was denn dann?“, rief die Tochter auch sofort und riss dabei die Augen erschrocken auf. Merkwürdigerweise ließ sie dabei ihre Hände in den Taschen, was den Beamten zwar auffiel, sie es aber nicht weiter beachteten. Ihr Bruder konnte dem Ganzen wohl nicht recht folgen, denn er schaute nur weiterhin traurig drein.

„Sie wurde vergiftet“, erklärte der Kommissar und wartete geduldig und aufmerksam darauf, wie vor allem die Tochter reagieren würde. Doch Frau Bockmeyer schüttelte nur den Kopf und sagte nichts.

„Es war ein hübscher Heilkräuter-Cocktail - zu viel von allem Möglichen auf einmal, den ihr alkoholgeschwächter Organismus letztendlich wohl nicht verkraftet hat“, ergänzte Herr Clemens und Joska fügte hinzu:

„Jetzt stellen sich uns folgende Fragen: Woher hatte sie die Kräuter? Hat sie sich das Zeug selbst zusammen gemischt oder hat sie es von jemandem verabreicht bekommen? Ging das über einen längeren Zeitraum oder war es ein einmaliger Giftcocktail, um sie umzubringen? Selbstmord oder Mord? Also jede Menge Fragen, auf die wir gerne von Ihnen eine Antwort hätten!“

„Von mir?“, rief die Frau entsetzt und starrte die Beamten mit ihren hellgrünen Augen an. Das lange, graumelierte Haar hing ihr strähnig herab und in ihren schlabbrigen Klamotten sah sie ziemlich heruntergekommen aus. Dennoch wirkte sie durch ihre Größe von knapp einem Meter achtzig und ihrem fülligen Körper recht einschüchternd.

„Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Ich wüsste auch nicht, dass sich meine Mutter großartig mit Heilkräutern ausgekannt hätte. Wirklich keine Ahnung, wie das Zeug in ihren Körper gekommen ist“, erklärte sie mit solcher Bestimmtheit, dass die Kommissare ihr zunächst glauben mussten.

„Und Sie, Herr Bockmeyer wissen natürlich auch von nichts?“, fragte Joska der Form halber, denn er war sich sicher, auch von ihm keine Auskunft zu bekommen und so war es dann auch. Der behinderte Mann schüttelte nur den Kopf und schaute weiterhin auf den Boden.

„Wohnt sonst noch jemand hier auf diesem Hof?“, schaltete sich Sascha Clemens ein.

„Ja, mein Stiefbruder Harald mit seiner Frau Bettina und ihr Sohn Luca. Aber Harald ist auf der Jagd und seine Frau in der Klinik. Sie ist Ärztin. Luca müsste aber da sein. Soll ich ihn holen?“

„Wir bitten darum“, antwortete Joska, wobei er Frau Bockmeyer anmerkte, dass sie ihren Bruder ungern alleine bei den Kommissaren ließ. Ihn mitzunehmen, wäre aber auch sehr verdächtig gewesen und so ging sie zögernd aus dem Raum. Natürlich ließen sich die Ermittler diese Gelegenheit nicht entgehen.

„Sie leben bei Ihrer Schwester, Herr Bockmeyer? Oder darf ich Hugo sagen?“, fragte Joska freundlich.

„Ja, Hugo wohnt bei Linda. Schon lange. Sie mag mich lieber als Mutter und Mutter war ja auch krank. War immer genervt und böse und da wollte ich auch lieber bei Linda sein“, antwortete er leise.

„Das kann ich gut verstehen. Wenn man krank ist, will man seine Ruhe haben. Aber wer hat sich denn um deine Mutter gekümmert, wenn sie krank war?“, wollte Joska wissen.

„Eigentlich niemand so richtig. Nur Luca musste ein Mal am Tag nach ihr schauen, ob alles in Ordnung ist und so“.

„Er musste es? Wer hat ihm das befohlen?“

„Die Bettina, glaub ich. Sie hat gesagt, dass er wenigstens diese eine Aufgabe erledigen soll, wenn er schon sonst nix macht“.

„Aha ... na, da hat sie ja vielleicht sogar recht gehabt, oder meinst du nicht auch?“, lächelte Joska, doch Hugo zuckte nur mit den Schultern.

„Du warst also schon länger nicht mehr bei deiner Mutter?“, hakte Sascha nach.

„N ... nein! Ich war laaaange nicht bei ihr. Sie wollte mich ja auch nicht sehen. Sie ... mag mich nicht“, stotterte er und schaute wieder verlegen zu Boden. Die beiden Beamten sahen sich an und gaben sich mit einem Blick zu verstehen, dass sie ihm nicht glaubten. Leider konnten sie nicht weiter in ihn dringen, denn Frau Bockmeyer kam mit ihrem Neffen zurück. Es war etwas seltsam, aber Hugo und sein Neffe Luca schienen fast im gleichen Alter zu sein.

„Guten Tag. Sie wollen mich sprechen?“, fragte Luca Bockmeyer und ließ sich gelangweilt auf einen Stuhl fallen.

„Guten Tag Herr Bockmeyer. Ja, wir hätten ein paar Fragen zum Tod Ihrer Großmutter Edith Bockmeyer“, eröffnete Joska das Gespräch mit diesem weiteren Familienmitglied, welches ihm sofort unsympathisch war. So stellte er sich einen Computer-Nerd vor: schlacksig, strähnige schwarze Haare, schlapprige Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit Monsteraufdruck. Dieses Exemplar hatte dazu noch stahlblaue Augen und war fast zwei Meter groß.

„Bevor Sie fragen ... ich hab sie nur gefunden - sie lag einfach tot in ihrem Bett! An dem Tag war ich etwas spät dran gewesen, um nach ihr zu gucken - muss so gegen einundzwanzig Uhr gewesen sein - und da lag sie schon im Bett. Normalerweise geht sie immer erst kurz vor Mitternacht schlafen und ich schaue meist zu den Zwanzig-Uhr-Nachrichten bei ihr vorbei und die sehen wir uns dann gemeinsam an ... äh ... haben sie uns angeschaut“, verbesserte er sich mit traurigem Blick. Ob er tatsächlich traurig über den Verlust seiner Großmutter oder aber ein guter Schauspieler war, konnten die Kommissare nicht erkennen.

„Danke für Ihre Auskünfte. Hat jemand von Ihnen an diesem Tag Kontakt mit ihr gehabt?“, wollte Herr Kiss wissen, doch alle schüttelten die Köpfe. „Und die anderen beiden, Harald oder Bettina?“ Nochmals Kopfschütteln. „Oder in den Tagen davor etwas Ungewöhnliches an ihr bemerkt?“ Wieder einhelliges Kopfschütteln. So kamen sie also nicht weiter ...

„Wir werden dennoch mit Ihren Eltern sprechen müssen, Herr Bockmeyer“, wandte sich Joska an Luca und der zuckte nur mit den Schultern.

„Wann kann man die beiden erreichen?“, fragte Herr Clemens und wartete mit gezücktem Stift.

„Keine Ahnung, ehrlich! Mama schichtet und macht dauernd Überstunden, ich kenne ihren Dienstplan wirklich nicht und Papa ist ja arbeitslos und Jäger, also hat er auch keinen festen Zeitplan - der kommt und geht, wie es ihm passt und außerdem hat er tausend Tiere zu versorgen und ist wenig hier im Haus“, ratterte Luca Bockmeyer herunter.

 

„Dann muss ich Sie bitten, Ihren Eltern auszurichten, dass wir sie auf dem Präsidium befragen müssen. Hier ist meine Karte. Sie sollen sich bei uns melden und einen Termin ausmachen. Wir werden sie zeitgleich, aber getrennt voneinander vernehmen ... bitte so bald wie möglich!“, ordnete Joska Kiss an. Luca nahm die Karte wortlos entgegen und steckte sie in seine Hosentasche.

„War`s das jetzt?“, wollte er wissen und stemmte sich von seinem Stuhl hoch.

„Fürs Erste ja. Die Gerichtsmedizin wird sich bei Ihnen melden, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind und der Leichnam freigegeben wird. Wir werden Ihre heutige Aussage noch schriftlich festhalten und haben sicher im Rahmen der weiteren Ermittlungen noch Fragen. Dazu werden wir Sie demnächst ebenfalls auf die Wache einladen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, meine Karte haben Sie ja. Wir brauchen Sie hier nun nicht mehr und würden uns gerne in Ruhe noch etwas umsehen. Auf Wiedersehen!“, sagte Joska und auch Sascha verabschiedete sich. Aus den Augenwinkeln sah dieser, wie Linda Bockmeyer ihre Hände endlich aus den Taschen nahm - sie zitterten unkontrolliert, und sie versteckte sie schnell hinter ihrem Rücken.

Als Hugo und Linda Bockmeyer hinausgegangen waren, sprach Sascha das sofort an.

„Hast du gesehen, wie die Hände der Frau gezittert haben?“

„Nein, die hatte sie doch fast die ganze Zeit in den Taschen ihrer fürchterlichen Kittelschürze! Dass Frauen in ihrem Alter - die wird doch so um die Vierzig sein - sowas überhaupt noch anziehen! Sehr sexy, oder?“, witzelte Joska, doch sein Partner ging nicht darauf ein.

„Ist doch egal - mit der stimmt auf jeden Fall was nicht! Du hättest ihre Hände sehen sollen! Die haben wirklich total unkontrolliert gezittert! Dem müssen wir neben allem anderen auch noch auf den Grund gehen, meinst nicht?“

„Wenn das tatsächlich so schlimm war, sollten wir das wohl tun, aber zuerst widmen wir uns der Wohnung hier!“, bestimmte Joska und fing an, sich in der kleinen Küche umzuschauen. Irgendwie schien hier die Zeit stehen geblieben zu sein. Sascha erinnerte sich, draußen an der Hausmauer ein Schild mit der Aufschrift „1823“, gesehen zu haben. Hier drin sah es in manchen Bereichen wirklich noch so aus wie vor zweihundert Jahren. Vor allem in der Küche der alte Holzofen-Kochherd, die alten Möbel und Regale schienen noch aus dieser Zeit zu stammen. Auch das Sofa war alt und schäbig.

„Wie in einem Bauernmuseum“, murmelte Sascha, während er alle Schubladen inspizierte und sich Joska derweil im Schlafzimmer umsah. Aber alles, was sie fanden, war wohl der Beweis für die Trunksucht der alten Frau: jede Menge Schnapsflaschen, allerdings ohne Etikett. Joska schraubte eine auf und roch daran.

„Eindeutig Schnaps, wahrscheinlich selbst gebrannt“, stellte er fest.

„Vielleicht auch mit mehr Prozenten als üblich. Ist hier keine volle Flasche mehr?“fragte Sascha und schnupperte ebenfalls daran. „Wir sollten alle Flaschen mitnehmen - eventuell ist in einer doch noch ein Rest drin, den man analysieren lassen könnte? Auf die Idee hätte die Spusi ja eigentlich auch kommen können, oder?“

„Hätten sie machen können beziehungsweise müssen, aber die sind halt auch nicht unfehlbar. Vielleicht findet sich in einer der Flaschen ja auch ein Rest dieses Giftcocktails?“, bemerkte Joska mit aufkommender Erregung. Womöglich hatten sie einen ersten Hinweis gefunden?

„Los, packen wir die Flaschen ein! Handschuhe hab ich im Auto und auch ein paar Klappboxen - ich wäre heute mit Einkaufen dran gewesen“, erklärte Joska und lief dabei hinaus in den matschigen Hof.

Als sie eine Stunde später endlich in ihrem Wagen saßen, hatten sie vierzig Flaschen im Kofferraum. Außer den Flaschen hatte ihre Durchsuchung der kompletten Wohnung keine weiteren Anhaltspunkte geliefert. Für die Rückfahrt wählten sie diesmal tatsächlich den Weg nach oben über den Hohenstaufen.

„Es ist jetzt bereits sechzehn Uhr. Machen wir erstmal Feierabend? Bevor wir die anderen beiden nicht befragt haben, wüsste ich jetzt auch nicht, was wir weiter tun könnten oder hast du ne Idee?“, fragte Joska gähnend, während er seine Whatsapp-Nachrichten checkte. Nora machte in der Messerwerkstatt meist auch immer um sechzehn Uhr Schluss und danach gleich einen Spaziergang mit ihrem Schäferhund Hasso. Vielleicht konnte er sich da heute endlich mal einklinken und mitlaufen - würde ihm guttun und er konnte den Kopf frei bekommen. Der Fall schien komplizierter zu werden, als er anfangs gedacht hatte. Da sein Kollege nur mit den Schultern zuckte, war also Feierabend angesagt. Eigentlich wäre Joska ja schon fast zuhause gewesen, aber Saschas Wagen stand auf der Wache in Göppingen und so mussten sie zuerst dorthin fahren. Außerdem wollte er heute noch die Schnapsflaschen ins Labor bringen, beziehungsweise bringen lassen, denn das würde er seinem geschätzten Kollegen Sascha aufs Auge drücken.