Winger

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6

Nach einer halben Stunde war ich sicher, dass Linda nicht zurückkommen würde. Unten am Haus schlugen Wagentüren und Scheinwerfer huschten über den Hang. Jemand öffnete für die abfahrenden Wagen das Tor, und ich ging noch ein Stück weiter bis zu der Senke, wo man Elmonds verbrannte Leiche gefunden hatte, weil mich dort die Scheinwerfer beim Wenden nicht erreichen konnten.

Die Stelle war mit vier dünnen Eisenstangen und einem gelben Kunststoffband abgesperrt. Ich sah auf den Boden hinunter, der von braunen Fichtennadeln bedeckt war.

Das Mondlicht fiel auf ein paar Erdklumpen, und nichts außer ein paar dunklen Flecken innerhalb der Absperrung deutete noch darauf hin, dass hier eine Leiche gelegen hatte. Man musste Elmond woanders verbrannt und erst später in den Wald geschafft haben, denn sonst hätte sich das Feuer tief in den Nadelboden gefressen. Als fast alle Wagen abgefahren waren, ging ich zur Einfahrt hinunter. Das Tor auf dem Fußweg war jetzt abgeschlossen. Ich kletterte über den Maschendraht und drückte auf der anderen Seite des Zauns die Klingel. Eine Männerstimme, die aus dem versteckten Lautsprecher im Torpfosten kam, fragte mich nach meinen Wünschen.

"Sind Sie Gerlach, der Hausverwalter?"

"Am Apparat, ja."

"Dann kennen wir uns schon von einem früheren Besuch. Mein Name ist Winger", sagte ich artig. "Ich bin hier mit meiner Klientin Linda Klaus verabredet."

"Einen Augenblick bitte."

Das Tor besaß keinen Türdrücker, vielleicht, weil man auf Nummer Sicher gehen wollte und unerwünschte Besucher lieber schon in der Einfahrt abwimmelte.

Als Gerlach aus dem Haus kam, machte er nicht den Eindruck, sonderlich befangen zu sein. Falls er irgend etwas wegen Linda auf dem Kerbholz hatte, sah man ihm das nicht an. Ganz im Gegenteil: Er strahlte, als hätten wir gerade unsere Verlobungsringe getauscht.

Gerlach war ein Mann in den Fünfzigern mit sportlichem Gang und kurzgeschnittenem Haar, Typ in die Jahre gekommener Tennisspieler. Kein Bauchansatz, keine Tränensäcke. Wenn man nicht trinkt, erfordert das in der Lebensplanung andere Ziele, als nur seinen Unterhalt zu verdienen und auf ein bisschen Karriere scharf zu sein.

Dann hat man nach meiner Erfahrung immer Dinge im Sinn, die etwas aus dem Rahmen fallen, Ersatzdrogen wie Religion, Politik oder wenigstens Töpfern in der Gartenlaube. Wer nichts anderes im Sinn hat, landet unweigerlich beim Alkohol oder in der Klapsmühle.

Anders ausgedrückt: Ich kenne niemanden, der sich auf Dauer damit abgefunden hätte, nur Kellner, Gärtner oder Hausverwalter zu sein, ohne dabei irgendeine Art von Seltsamkeit oder Spleen zu entwickeln. Was das anbelangt, scheinen wir immer aufs Ganze zu gehen.

Gerlach sah so nüchtern aus, als habe er in seinem Leben nicht mal einen heißen Grog angerührt, von stärkeren Drogen ganz zu schweigen – und das bei den Bastionen leerer Champagnerflaschen, die jetzt im Salon standen. Jemandem wie mir, der schon manchem Gauner unter Gottes blauem Himmel in die ehrlichen Augen gesehen hatte, lief bei soviel Nüchternheit ein Schauder über den Rücken.

Er reichte mir seine etwas zu kalte Hand.

"Ist Linda schon da?“, fragte ich eher beiläufig und bekam prompt einen Hustenanfall, als sei ich mehr mit meinem Körper als mit dem Gedanken an Linda beschäftigt.

"Sie meinen Ihre Klientin?"

"Linda Klaus, das Mädchen, mit dem ich schon einmal bei Ihnen war."

"Nein, aber wenn Sie wollen, können Sie gern im Haus auf sie warten?"

"Ja danke, sehr freundlich – sieht nämlich nach Regen aus", sagte ich.

Gerlach folgte meinem ausgestreckten Finger zum Himmel, von dem der Mond ohne jedes Wölkchen sein fahles Licht auf uns herabsandte, bedachte mich mit nachsichtigem Blick (etwa so, wie man jemanden ansieht, der nicht alle Tassen im Schrank hat) und ging dann ohne ein weiteres Wort voraus.

Er öffnete die Haustür mit einem Zentralschlüssel, den er an der goldenen Uhrkette trug, und brachte mich in ein Zimmer, das ich schon von unserem ersten Besuch kannte. Es erinnerte mit seinen Stahlrohrstühlen und den ausgelegten Magazinen an das Wartezimmer eines Arztes. Da Elmond Rechtsanwalt gewesen war, nahm ich an, dass er hier auch manchmal Klienten abgefertigt hatte. Von der Wand über dem Kaminsims lächelte mich das Bild seines Großvater an, wie man auf dem Schild am Silberrahmen lesen konnte. Wenn sich die Elmonds auch nur ein wenig ähnlich sahen, dann musste Robert Elmond eine stattliche Erscheinung gewesen sein, und ich verstand ganz gut, warum er Rosa Vanessa bei seinem ersten Besuch im Eduardo imponiert hatte.

"Sie haben noch Fragen wegen Elmonds Tod?“, fragte Gerlach und reichte mir ein Glas Gin mit wenig Wasser, das er aus dem Nebenraum hereingebracht hatte. Offenbar erinnerte er sich daran, was ich bei unserem ersten Besuch getrunken hatte. Er selbst nippte nur kurz an seinem Mineralwasser und stellte das Glas dann auf die Fensterbank.

"Falls es sich bei der verbrannten Leiche wirklich um Robert Elmond handelt."

"Endgültige Gewissheit darüber würde erst ein Genvergleich mit seinem in Bonn lebenden Sohn Peter Elmond geben. Allerdings waren sich die beiden in letzter Zeit nicht sonderlich grün. Ich glaube kaum, dass er rechtlich zu einem Genvergleich gezwungen werden könnte."

Beim Namen Peter Elmond glaubte ich in Gerlachs Augen für den Bruchteil einer Sekunde etwas von der Wachsamkeit zu entdecken, die mehr als nur höfliches Interesse signalisiert. Man hätte darüber streiten können. Frauen pflegen die Augen für einen Moment leicht aufzureißen, wenn ihnen etwas von Belang (gewöhnlich ein Kerl) in die Quere kommt. Doch ein Mann wie Gerlach verstand es besser, seine Pupillen unter Kontrolle zu halten.

"Aber um ihn beerben zu können, muss man Robert Elmond erst einmal für tot erklären", sagte ich. "Und das geht kaum ohne einen ordentlichen Totenschein."

"Wahrscheinlich möchte sein Sohn lieber nicht in die Schlagzeilen kommen."

"Wegen des Mädchens?“, fragte ich.

"Welches Mädchen?"

"Rosa Vanessa. Die Frau, mit der sein Vater hier zusammengelebt hat."

"Peter Elmond ist Politiker. Die Presse kann einen Mann fertigmachen, selbst wenn er zufällig nichts weiter als der Sohn eines Ermordeten ist."

"Kannte Peter Elmond die Geliebte seines Vaters?"

Gerlach lächelte mich so kalt und ausdruckslos an, als habe er die Eingeweide einer gut geölten Maschine. "Wir wissen nicht, ob sie überhaupt seine Geliebte war, ich selbst habe nur von geschäftlichen Beziehungen gehört. Mag sein, dass sein Sohn ihr irgendwann in diesem Haus begegnet ist, das kann ich nicht mit letzter Gewissheit sagen."

"Und was waren das für geschäftliche Beziehungen?"

"Sie soll Robert dazu überredet haben wollen, einen Vergnügungsklub im Stadtzentrum zu kaufen, um dort Geschäftsführerin zu werden."

"Das Eduardo?

"Ja, ich glaube, so hieß der Klub."

"Und Sie wissen nicht, wer der wirkliche Besitzer des Eduardos ist, nehme ich an?"

"Nein, sollte ich?"

Ich trank einen Schluck von dem Gin mit Wasser, den er mir gegeben hatte, in der Hoffnung, dass es genau das war, was ich schon früher getrunken hatte, und nichts, was mich, den Kopf nach unten, in einer Sickergrube oder einem Kanalschacht erwachen lassen würde (falls ich dann überhaupt noch einmal aufwachte). Aber es schmeckte wie ganz gewöhnlicher verdünnter Gin und hatte auch die gleiche Wirkung.

"Wenn ich ehrlich sein soll, Gerlach", sagte ich, "dann überrascht mich ein wenig die Bereitwilligkeit, mit der Sie Linda und mir Auskunft geben. Wir kommen hier als wildfremde Menschen hereingeschneit – Linda hat Ihnen, glaube ich, gesagt, dass sie Journalistin ist und für eine Story recherchiert –, und ich selbst bin Privatdetektiv. Das ist auch kein Beruf, bei dem die Leute vor Begeisterung ins Erzählen kommen ..."

"Im Ernst, das überrascht Sie?"

"Ziemlich, ja."

Er musterte mich ungerührt. Die Leichtigkeit, mit der er auf meinen Vorstoß reagierte, nötigte mir Respekt ab. Diese Politikergesichter im Fernsehen, die sich selbst in Großaufnahme bei einer verfänglichen Frage nicht mal durch das Zucken eines Augenlids verraten, haben für ihre Machiavelli-Gesinnung ein Maß an Körperbeherrschung erreicht, das selbst einem trainierten indischen Yogi zur Ehre gereichen würde.

"Es gehört schon lange zu meinen Prinzipien, im Umgang mit Menschen nicht nur an die eigene Bequemlichkeit und die eigenen Interessen zu denken. Etwas mehr Zuvorkommendheit und Höflichkeit stände uns allen gut an."

"Ist das ein Grundsatz Ihrer Politik, Gerlach?"

"Meiner Politik?"

"Sie waren doch mal Parteivorsitzender der Nationalen Vereinigung, einer rechtsradikalen Gruppierung, die man später wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen verboten hat."

"Oh, das ist schon lange her."

"Seitdem kümmern Sie sich nur noch darum, Laub zu verbrennen und Elmonds Garten in Ordnung zu halten?"

Er lächelte mich an, aber seine Augen wirkten jetzt lange nicht mehr so freundlich wie der Rest seines Gesichts.

"Obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt, mich Ihnen gegenüber zu rechtfertigen", sagte er. "Ich bin kein Krimineller. Ich stehe fest auf dem Boden der Verfassung. Ich habe mich schon seit langem aus der Politik zurückgezogen."

"Sie wirken nur noch im Hintergrund, wollen Sie sagen?"

"Wie soll ich das nun wieder verstehen?"

"Ihre illegalen Versammlungen hier auf dem Gelände haben Ihnen doch kürzlich erst eine Verwarnung eingetragen?"

"Nun machen Sie aber mal einen Punkt, Winger. Ich finde, Ihre Art, mir Fragen zu stellen, hat etwas Unverschämtes. Schon die Tatsache, wie Sie sich über mein Entgegenkommen mokiert haben, war schlichtweg unhöflich. Unter diesen Umständen muss ich Sie bitten, sofort das Haus zu verlassen." Mit diesen Worten packte er mich beim Arm, ging er zur Tür, zog sie noch ein wenig weiter auf, als es nötig gewesen wäre, und deutete bestimmt in den Flur hinaus.

 

"Meiner Meinung nach gibt einen verdammt simplen Grund für Ihre Bereitwilligkeit, unsere Fragen zu beantworten, Gerlach, und der besteht einfach darin, dass einige Leute es vorziehen, jemanden, der ihnen gefährlich werden könnte, nicht unkontrolliert durch die Gegend laufen zu lassen, sondern ihm lieber bei jeder Gelegenheit auf den Zahn zu fühlen, um zu sehen, wie weit er schon mit seinen Recherchen gekommen ist."

"Gefährlich, was meinen Sie mit gefährlich?"

"Wo ist Linda?“, fragte ich.

"Linda – wieso?"

Müßig, zu erwarten, er würde bei dieser Frage wie ein Primaner erröten. Er sah mich mit derselben nachsichtigen Miene an wie bei meiner Bemerkung, dass Regen angesagt sei.

"Nach unserer Verabredung müsste sie längst hier sein."

"Vielleicht ist ihr etwas dazwischen gekommen."

"Gut, reden wir nicht von Linda. Angeblich haben Sie Elmonds verbrannte Leiche beim Vergraben von altem Laub entdeckt. Das ist es, was Sie der Polizei gesagt haben und was auch Linda von Ihnen erfahren hat. Ich war damals leider gerade für kleine Jungen und kenne die Geschichte nur aus ihrer Erzählung. Aber der Wald um das Jagdhaus besteht aus Fichten. Und Fichten werfen nun mal kein Laub ab ..."

"Ihr Journalisten und Schnüffler seid doch das reinste Dreckspack", sagte er sichtlich erbost. "Man reicht euch den kleinen Finger, um ein wenig gefällig zu sein, und schon versucht Ihr einen wegen angeblicher Widersprüche in die Pfanne zu hauen. Jetzt aber raus!"

Die Tür fiel schwungvoll hinter mir ins Schloss, und weil ich sicher war, dass Gerlach mich durch eines der Fenster beobachten würde, ging ich folgsam die Einfahrt bis zum Gartentor hinunter, schlug es ebenso laut und vernehmlich hinter mir zu wie er die Haustür, stieg auf dem Platz mit den Streusandkisten in Lindas Leihwagen und ließ die Scheinwerfer beim Wenden noch einmal über den Zaun und das Grundstück huschen, damit er davon überzeugt war, ich sei auch wirklich abgefahren.

Ich parkte ein Stück weiter unten neben einem geschlossenen Kiosk und ging den Weg zum Haus zwischen den Bäumen entlang.

Oberhalb des Geräteschuppens stand ein verfallener Hochsitz. An der Leiter aus Fichtenbalken fehlten ein paar Sprossen, und da, wo sie fehlten, ragten lange, rostige Nägel aus dem Holz. Der Mond war jetzt hinter den Baumwipfeln verschwunden, warf aber immer noch genügend Licht in den Wald. Ich kletterte die Leiter hinauf und versuchte zwei Dinge gleichzeitig zu tun: das Haus im Auge zu behalten und nicht in einen der rostigen Nägel an den Balken zu greifen. Die Leiterenden knarrten, als sie sich unter meinem Gewicht durchbogen. Dann, oben auf der überdachten Plattform, zündete ich kurz mein Feuerzeug an, um mich zurechtzufinden, und hockte mich so neben das Fenster, dass ich zwar hinausblicken, aber nicht gesehen werden konnte.

Ich wartete lange und vergeblich. Auf dem Parkplatz standen noch zwei Wagen. Wenn einer Gerlach gehörte, wer war der andere?

Plötzlich hörte ich unter mir Äste knacken. Zwei Männer in grüngefleckten Tarnanzügen gingen am Hochstand vorüber zum Haus – sie mussten den Waldhang heruntergekommen sein. Einer von ihnen war kurzbeinig und dick, fast rundlich, mit einer Schirmmütze, deren Kappe aus dieser Sicht sein Gesicht verdeckte. Er trug eine Segeltuchtasche in Form eines kurzläufigen Gewehrs.

Als sie am Haus angelangt waren, rief der eine etwas in Richtung der Tür, das ich nicht verstand. Ein dritter Mann im Tarnanzug öffnete, und sie gingen zusammen die Einfahrt hinunter. Wenig später hörte ich unten das Tor schlagen. Anscheinend waren sie ohne Fahrzeug, oder ihr Wagen stand weiter unten an der Straße.

Danach war lange Zeit Ruhe.

Irgendwann wurde mir die Sache zu dumm, und ich kletterte wieder vom Hochsitz herunter und versuchte im Schatten der Bäume zum Haus zu gelangen. Die Fenster waren schwarze Vierecke mit Augen, eingebildeten oder wirklichen Augen, während ich die wenigen Stellen im Wald passierte, die hell wie auf einer Bühne vom Mondlicht angestrahlt wurden – und ich ging unwillkürlich schneller, als könnte mich jeden Moment ein Schuss aus dem Dunkel niederstrecken. Aber nichts geschah. Ich gelangte ohne Schwierigkeiten zu den Salonfenstern, die jetzt dunkel waren, ging um das Haus herum und sah, dass aus einem der kleineren Fenster Licht fiel.

Gerlach und der ältere Mann, den ich für seinen Bruder hielt, standen in der Küche und redeten. Ich hörte ihre Stimmen durch das angekippte Fenster, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Es sah so aus, als wenn sie sich stritten. Der Ältere hatte eine merkwürdige Art, mit der flachen Hand gegen den Verputz zu schlagen, während er in der anderen eine brennende Zigarette hielt. Sein Gesicht erinnerte an ein altgewordenes Kind, dem man seinen Willen verweigerte. Es war rot angelaufen. Aber nicht so rot, dass man glaubte, er würde gleich einen Herzinfarkt bekommen. Je länger ich ihm zusah, desto mehr kam es mir so vor, als sei sein Ärger eher gespielt als echt. Gerlach legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm, worauf der andere halbherzig lächelnd den Kopf schüttelte. Dann nahm er seinen Mantel von der Stuhllehne, und sie gingen hinaus. Einen Augenblick später hörte ich draußen Wagentüren schlagen.

Als sie die Einfahrt zum Tor hinunterfuhren, machte ich mich daran, den Wald um das Haus nach Linda abzusuchen. Vergeblich – aber das überraschte mich nicht. Trotzdem hätte sie sich ja irgendwo da draußen im Dunkeln zwischen den Bäumen den Kopf gestoßen haben können. Danach versuchte ich das angekippte Küchenfenster zu öffnen. Ich griff durch den Spalt und bewegte die Klinke des Oberlichts, kletterte dann auf die Fensterbank, beugte mich so weit es ging durch die seine schmale Öffnung und öffnete den unteren Teil des Fensters.

Wenn Linda irgendwo im Haus gefangengehalten wurde, dann sicher nicht im Parterre, sondern im Keller oder unter dem Dach. Aber vielleicht war sie auch längst im Kofferraum eines Wagens vom Grundstück gebracht worden ...

Ich fand schnell heraus, dass das Haus gar nicht unterkellert war. Dafür befand sich unter dem Dach ein großer Versammlungsraum. Kleine Halogenstrahler, die unter der Decke an verspannten Drähten befestigt waren, beleuchteten die Wände. An der Stirnwand stand eine Kreidetafel.

Aber es gab keinen einzigen Hinweis auf die Nationale Vereinigung, geschweige denn Gegenstände oder Symbole, die auf rechtsgesinnte oder nationalsozialistische Parteiaktivitäten hindeuteten. Der Saal besaß einen teueren Parkettboden. Die Schwingstühle aus schwarzer Esche und ungefärbtem Rindsleder kosteten sicher ein kleines Vermögen, und die Samttapete an den Wänden war in vornehmem Graugrün mit rosafarbenen Absetzungen gehalten.

Wenn es sich bei der Altherrenriege im Salon wirklich um ein geheimes Parteitreffen der Nationalen Vereinigung handelte, dann hatte man offensichtlich aus dem Verbot gelernt und ging kein Risiko mehr ein. Aber vielleicht fiel ich dabei ja auch nur einer naheliegenden Spekulation zum Opfer, und Gerlachs Besucher waren ...

... ja, was eigentlich? Zum Beispiel politische Freunde von Elmonds Sohn in Bonn?

Durchaus möglich. Politiker trafen sich mit Vertretern der Wirtschaft, nach diesem Motto. Schließlich würden er und seine Mutter das Haus erben, wenn sein Tod erst einmal amtlich festgestellt worden war.

Aber was bedeutete dann Lindas plötzliches Verschwinden?

7

Statt Eisbeuteln und grünen Heringen – die meinem Kopf und Magen sicher besser bekommen wären – ließ ich mir lieber über den Telefonservice der kleinen Steh-Pizzeria unten im Haus ein Frühstück aus heißen Pizzateig-Brötchen, Kräuterbutter und mit Käse überbackenen Eiern auf Schinken in mein Büro bringen. In der Zwischenzeit versuchte ich herauszufinden, von welchem Etablissement ich gegen Morgengrauen endlich den Weg zu meiner Klappliege gefunden hatte.

Dass ich länger als gewöhnlich darüber nachdenken musste, deutete nicht auf eine Heimkehr unter kontrollierten Bedingungen. Aber meine Hose lag wie gewohnt in Bügelfalten über der Stuhllehne, und mein Hemd hing zum Lüften auf einem Bügel am Fenstergriff. Alles schien wie immer zu sein ...

Nur Linda fehlte. Bei diesem Gedanken setzte ich mich abrupt auf die Bettkante.

Jemand steckte von außen den Schlüssel ins Schloss. Es war Mira, das iranische Mädchen, das meine Detektei in Ordnung hielt. Und als sie vorsichtig ihren dunklen Schopf durch den Türspalt schob, weil sie mich nicht beim Schlafen stören wollte, wurde mir klar, dass es erst sieben Uhr morgens war.

Ihr dunkles Gesicht glänzte vor Schweiß, denn bevor sie sich etwas Geld bei mir verdiente, joggte sie regelmäßig ein paar Runden um den Park. Mira war Sportstudentin im fünften Semester. Wir sprachen nie über ihre Aufenthaltsgenehmigung, aber ich wusste, dass sie sich illegal im Lande aufhielt. Die Papiere, die sie der Universität vorgelegt hatte, stammten aus einer von Iranern betriebenen Hinterhofdruckerei für islamisches Schrifttum. Ihr Vater, ein überzeugter "Wächter der Revolution", hatte ihr die Unterstützung für das Studium entzogen, weil er glaubte, seine Tochter sei dem Teufel der westlichen Werte verfallen. Westliche Werte, das waren für ihn: Walkmen, amerikanische Musik, Jogginganzüge und ungezügelte Sinnenfreude in der Liebe. Also alles, was er bei Mira entdeckte, wenn sie zu Besuch in den Iran kam.

"Ich bin wach, Mira. Wir können zusammen frühstücken."

"Oh, ich muss auf meine schlanke Linie achten", sagte sie und legte die Hände um ihre Wespentaille.

"Wenn irgend jemand auf der Welt nicht auf sein Gewicht achten muss, dann du."

Mira kicherte und zeigte auf das Foto meiner verflossenen Schönen auf dem Schreibtisch. "Danke, aber deine Freundin war noch viel magerer als ich."

"Meine Freundin litt an Magersucht. Sie ist mit einem Koch – einem Spezialisten für kalorienarme Ernährung – auf und davon. Sie hat mich verlassen, weil ich zum Frühstück Schweinshaxen mit fetten Bratkartoffeln bestelle und allergisch gegen Dressing light und Magermilchjoghurt bin."

"Du solltest mehr Salate essen, wegen der Verdauung und der Vitamine – ach, übrigens, gestern Abend, als ich nach Büroschluss noch einmal herkam, um meinen Mantel zu holen, sah ich jemanden aus deiner Tür kommen."

"Was denn ...?

"Ich bin ganz sicher.

"Und wie sah dieser Jemand aus?"

"Es war eine junge Frau. Als ich sie ansprach, behauptete sie, sie hätte sich nur in der Tür gerirrt. Eigentlich habe sie ins Büro nebenan gewollt, zu Rechtsanwalt Rolfsen." Mira schüttelte gewitzt ihren Zeigefinger und gab mir anschließend Gelegenheit, bei einem Griff in den Ausschnitt ihres dünnen schwarzen Pullovers ihren schlanken weißen Hals zu bewundern. "Aber dann ging sie sofort zum Aufzug."

"Kannst du mir die Frau beschreiben?"

"Jung und hübsch – sie war ... ja, sie war eher wie ein Mann gekleidet. Hose und Jacke, Turnschuhe mit flachen Absätzen, schwarze Lederjacke, glaube ich. Und sie trug etwas unter dem Arm, eine gelbe Mappe. Ich weiß nicht, ob es Papiere aus dem Büro waren."

"Eine gelbe Mappe, hm. Soweit ich mich erinnere, besitze ich nichts, das einer gelben Mappe ähnlich sieht. Und das Büro stand offen, sagst du?"

"Als ich sie ansprach, hatte sie die Tür schon wieder ins Schloss gezogen."

"Manchmal glaubt man etwas zu sehen, weil einen die Bewegungen an etwas anderes erinnern. Könnte sie nicht doch nur nach der Klinke gegriffen haben?"

"Nein, sie stand in der geöffneten Tür, als ich aus dem Fahrstuhl kam."

"Dann allerdings."

Nach dem Frühstück fühlte ich mich so wie jemand, der sein Leben der praktischen Erforschung aller Ernährungsfehler gewidmet hat: faul und hartleibig, mit einem dumpfen Gefühl im Kopf, das von zu viel tierischem Fett und einer Überdosis Kohlehydraten herrührte, falls diese Erklärung nicht auch nur ein moderner Mythos der Wissenschaft vom Essen ist.

Ich hatte mir am Hochstand einen Splitter in den Handballen getrieben, und der piesackte mich zusätzlich, um mir den Morgen zu verschönern, während ich versuchte, die Liste meiner Autonummern in verwertbare Namen umzusetzen.

 

Es kostete mich das Gelöbnis zum Abendessen in einem der besten Lokale der Stadt mit einem älteren, aber durchaus charmanten Mädchen vom Amt, das schon ein paar Mal auf meine Versprechungen hereingefallen war, nur dass sie diesmal den Preis um einiges heraufgesetzt hatte und mich am Freitagabend für unser Stelldichein höchst persönlich an der Tür meiner Detektei in Empfang nehmen wollte.

Als ich meine Hartleibigkeit mit einer Tablette, den Splitter mit der Pinzette und ihr Misstrauen mit ungefähr zehn bis zwanzig falschen Komplimenten bearbeitet hatte, lag das Ergebnis meines artistischen Morgens in Form einer zweiseitigen gefaxten Liste auf meinem Schreibtisch.

Ich pfiff schon wesentlich besser gelaunt durch die Zähne, denn Gerlachs Besucher schienen ausnahmslos zu jenen Gesellschaftskreisen zu gehören, die gewöhnliche Sterbliche mit dreitausend Mark Überziehungskredit für die eigentlichen Gewinner im Leben halten. Vorausgesetzt, Geld und Grundbesitz, Titel, schweren Wagen und Macht und Einfluss verschaffen einem genau dieses Kribbeln in den Gedärmen, das die Dinge überhaupt erst zu dem macht, was sie dann sind. Drei von ihnen hatte passable Doktor- und Professorentitel, fünf einen Sitz im Bundestag, acht waren Fabrikanten, einer Polizeibeamter, einer politischer Referent, und beim Rest handelte es sich um Manager, Vorstandsvorsitzende und den Leiter eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses.

Ihre Namen sagte mir wenig. Doch das hatte nichts zu bedeuten, denn Wirtschaftsbosse, Parlamentarier und Professoren haben nun einmal nicht denselben Bekanntheitsgrad wie Schauspieler oder Talkmaster.

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