Montag oder Die Reise nach innen

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Zu den Merkwürdigkeiten meiner Begegnung mit Alexander Montag gehört eine kleine Anekdote, die sich etwa einer Woche nach meinem ersten Besuch in seiner Wohnung zutrug. Harald Piper Müller sah uns beide in einer Gemäldehandlung, als wir gerade den Rahmen für ein Blatt von Dürer aussuchten, das Montag mir geschenkt hatte.

Er stürzte sofort mit jenem hämischen Grinsen auf mich zu, das wieder eines seiner teuflischen Spielchen verhieß, und hob eben zu einem beleidigenden Kommentar an – wahrscheinlich einem neuen Zitat aus meinem Tagebuch, das er noch nicht erprobt hatte –, als sich Montag langsam nach ihm umwandte.

Und wie der Bullterrier, der auf Montag zugelaufen und zwei Meter vor ihm mit gesenktem Kopf und eingezogenem Stummelschwanz abgedreht war, schluckte Piper seine abfällige Bemerkung hinunter, als er Montags Blick sah. Er spuckte nur vor mir aus und sagte:

»Wir sprechen uns noch, Herzbaum. Deine schweinischen Bemerkungen über meine Schwester werden nicht ohne Nachspiel bleiben …«

Ich wollte Montag erklären, wer der Bursche sei. Doch er wehrte nur mit einer Handbewegung ab, die jeden Kommentar überflüssig machte. »Es ist einer von den Kranken«, sagte er. »Das erkennt man an seinem Blick.«

»Sie glauben, Piper sei krank?«

»Die gefährlichsten Geisteskranken werden nicht in den Anstalten festgehalten, sondern befinden sich in Freiheit. Wir haben uns nur so an ihre Geistesstörungen gewöhnt, dass wir ihr Verhalten für normal halten.«

»Aber wie haben Sie Piper in die Flucht geschlagen? Das hat noch keiner geschafft. Er terrorisiert mich, er versucht mich fertigzumachen …«

»Begegne ihm einfach mit Mitleid und Freundlichkeit wie einem ernstlich Kranken. Er ist zu bedauern, denn er hat noch ein schweres Leben vor sich, eine Bürde aus Angst und Aggressivität und vielen Fehlschlägen. Er ist nicht zu beneiden um sein bisschen Wut und Spott.«

»Aber wie haben Sie das bloß gemacht, Montag?«

»Er hat für einen Moment sein eigenes Gegenteil gesehen, sein mentales Spiegelbild.«

Er hatte es in Montags Augen gesehen. Es ist diese erstaunliche Ausstrahlung und Kraft mancher Menschen, die mich auch heute noch – nachdem ich so viele klinische Untersuchungen über höhere Bewusstseinszustände durchgeführt habe – voller Demut eingestehen lässt, dass die Natur ein paar schwer durchschaubare Überraschungen für uns bereithält.

Aber ich greife vor, und das sollte bei jemandem, der sich daran macht, einige für das Überleben der Menschheit bemerkenswerte Dinge mitzuteilen, durchaus mehr als nur ein rhetorischer Fehler sein.

Am Tag nach meinem Besuch saß Montag wieder mit geschlossenen Augen auf seinem Platz an der Wand, dem Narrenschiff von Hieronymus Bosch gegenüber. Diesmal nahm ich einfach einen Stuhl und setzte mich neben ihn. Durch den Eingang zum nächsten Saal konnte ich einen der anderen vier Museumswächter sehen. Er war etwas kleiner als Montag und trug ein schmales Menjoubärtchen über der Oberlippe. Seine großen Ohren standen soweit ab, dass er einem dieser kleinen, aufmerksamen Coyotenjunde ähnelte, die ich im Zoo gesehen hatte.

Immer wenn ich das Museum betrat, verfolgte er mich wie einen potentiellen Dieb. Er konnte sich wohl nur schwer vorstellen, dass jemand der Kunst soviel Interesse entgegenbrachte. Verließ ich das Gebäude, war er prompt zur Stelle, um mit argwöhnischen Blicken zu prüfen, ob ich nicht vielleicht einen aus dem Rahmen geschnittenen alten Meister unter meiner Jacke trug.

Ein müßiges Unterfangen: laut Beschreibung im Ausstellungskatalog war das Museum, was seine Sicherungsanlagen anbelangte, auf dem neuesten technischen Stand.

Die Oberfläche einer Leinwand auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren, hätte augenblicklich einen schrillen Alarm im Gebäude und auf der zuständigen Polizeiwache ausgelöst. Dann schlossen sich die Gitter an den Fenstern und der Eingangspforte über ein Zeitschloss.

Es gab keine Möglichkeit, diesen Stromkreislauf abzuschalten. Er arbeitete mit Infrarotsensoren und war dreifach gesichert: über das öffentliche Stromnetz, den hauseigenen Generator und Akkumulatoren in Tresorraum des Kellers. Hätte irgendein Schlaumeier von Einbrecher die stromführenden Leitungen durchknipsen wollen, so wäre er augenblicklich durch denselben Mechanismus im Museum gefangen gewesen.

Der Bau sei besser gesichert als die amerikanischen Staatsgefängnisse für Todeskandidaten, pflegte Montag zu sagen. Eigentlich wären die fünf Wächter im Museum nur noch ein verschwenderisches Relikt aus alten Zeiten, eine Konzession an die Versicherungsgesellschaften.

»Und sind Sie schon zu einem Schluss gekommen?«, fragte ich, als er keine Anstalten machte, seine Augen zu öffnen.

»Zu welchem Schluss?«

»Sie wollten doch prüfen, ob ich für Ihre ‘Reise’ geeignet sei?«

»Anscheinend ist es dir wirklich ernst damit?«

»Was Sie sagen, macht mich wirklich neugierig.«

»Gut, gut … Neugier ist ein guter Anfang«, erklärte er lächelnd. »Aber erst ein Anfang. Die Reise, von der ich rede, wird nicht leicht sein. Sie ist über lange Strecken sogar recht beschwerlich. Oft gehen wir dabei drei Schritte vor und fünf zurück. Da die meisten Menschen mit vierzehn Jahren aufgehört haben zu denken, ist es manchmal schwierig, die richtigen Schlüsse aus dieser Erfahrung zu ziehen.«

»Und wie sieht Ihre Prüfung aus?«

»Es ist ein kleiner Test. Wir benutzen eines der Gemälde dafür, Boschs Garten der Lüste. An deiner Interpretation des Bildes kann ich erkennen, ob deine Fähigkeit zur Introspektion schon weit genug ausgebildet ist. Erinnerst du dich noch, was ich gestern über die Urteilsfähigkeit gesagt habe?«

»Der Garten der Lüste ist eines meiner Lieblingsbilder.«

»Um so aussagekräftiger wird deine Interpretation sein.«

Wir gingen in die benachbarte Halle, wo Boschs Triptychon hing. Schreiber, der Bursche mit dem Menjoubärtchen, erhob sich überrascht von seinem Stuhl, als er uns kommen sah. Ich hatte Alexander Montag noch nie mit einem seiner Kollegen reden sehen. Jetzt, als er ihm zunickte, glaubte ich fast so etwas wie Unterwürfigkeit im Blick des anderen zu erkennen. Er verdrückte sich sofort in den hinteren Teil der Halle wie jemand, der nicht mehr gebraucht wurde.

»Was siehst du?«, fragte Montag. »Beschreibe mir einfach deinen Eindruck.«

»Ein breites Spektrum von Ausschweifungen«, sagte ich. »Den Hexenkessel der Gefühle und Begierden. Das Jüngste Gericht, die Höllenstrafen, die Todsünden, die Versuchungen. Personifikationen von Lastern. Teufel in Tiergestalt, Bestien, fratzenhafte Gnome.

Dann das irdische Paradies, die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams. Im Mittelteil das Labyrinth der Lüste. Liebende und sich vereinigende Menschen, die in Muscheln schwimmen, Früchte gläserne Käfige. Wuchernde Pflanzen. Erdbeeren, die vielleicht die jungfräuliche Vulva symbolisieren, Fruchtblasen, überproportional abgebildete Tiere für die verschiedenen Sünden und Vergehen. Der Rabe steht für Unglauben. Der Pfau für Eitelkeit. Der Ibis für vergangene Vergnügen.«

»Gut, sehr gut … das ist die inhaltliche, die gedankliche Seite. Wir könnten auch sagen, so beschreiben wir die Bedeutungen der abgebildeten Gegenstände, hm …?«

»Ich würde sagen, man kann diese Bedeutungen in die gegenständlichen auf dem Bild selbst und in ihre gedanklichen Interpretationen einteilen.«

»Völlig richtig. Ein wichtiger Unterschied, nicht nur in der Interpretation der Kunst, sondern auch bei der Entwicklung des eigenen Bewusstseins. Was siehst du noch?«

»Was ich sonst noch sehe?« Ich betrachtete unschlüssig das Bild. »Sie meinen so etwas wie ein abschließende Deutung, das Thema des Ganzen über die Einzelinterpretationen hinaus?«

»Nein, keine Interpretation. Wir sind nicht in der Schule. Im Kunstunterricht mag das eine interessante Frage sein. An dieser Stelle ist dein Scharfblick gefragt.«

»Sonst sehe ich nichts.«

Alexander Montag nickte. »Das ist der springende Punkt. Du hast das Wichtigste übersehen. Wir übersehen es ständig, wenn wir nicht darauf eingestellt sind. In der natürlichen Einstellung erleben wir das, worum es geht zwar, blicken aber auf eigentümliche Weise daran vorbei. Die Natur verfolgt mit dieser kleinen Täuschung einen ganz bestimmen Zweck.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.

»Soll das heißen, ich habe den Test nicht bestanden?«

»Es bedeutet, dass du noch nicht sehr weit bist in der Entwicklung deines Bewusstseins, Marc. Dass dir eine wichtige Einsicht fehlt. Viele Menschen gelangen bis an ihr Lebensende nie darüber hinaus.«

»Und Sie wollen mir nicht verraten, was es ist?«

»Doch, natürlich, es ist keine Geheimwissenschaft. Wenn du dich bei der Betrachtung des Bildes beobachtest, wenn du auf deine innersten Regungen achtest, wirst du bald entdecken, dass jede Wahrnehmung von einem manchmal sehr feinen Gefühl begleitet ist.

Die Gegenstände erscheinen im Licht solcher Gefühle – als würdest du die Welt durch eine subtile Gefühlsbrille betrachten! Um dich dieser für dein Leben äußerst wichtigen Tatsache zu vergewissern, musst du vielleicht eine Reihe von Beobachtungen anstellen. Setz dich dort auf den Stuhl und vergleiche deine feinsten Gefühlseindrücke mit den inhaltlichen Wahrnehmungen des Bildes. Sieh dabei vom Bild zur leeren Wand und wieder zum Bild – so oft, bis du den Unterschied entdeckst.«

Er zog zwei Stühle heran.

»Verwechsle diesen feinen Gefühlsfilm nicht mit den starken Emotionen, die jedem bekannt sind«, fuhr er fort. »Ich rede nicht von Langeweile, nicht von Zorn, Angst oder Lust. Auch nicht von deinen Stimmungen.

 

Manchen Menschen fällt es schwer, diese feinere Dimension ihrer Gefühlswahrnehmungen von den gegenständlichen Wahrnehmungen wie Farben, Formen und Bedeutungen zu unterscheiden.

Andere sind damit völlig überfordert. Um herauszufinden, ob du zu ihnen gehörst, habe ich dich ins Museum gebeten.

Man wird auf der Reise nach innen nicht weit gelangen, wenn einem diese Dimension verschlossen bleibt …

Vielleicht musst du erst ein paar Hundert vergleichende Betrachtungen anstellen, um den Inhalt der Wahrnehmung von der Form des Gefühls zu trennen …?«

»Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Wenn ich vom Garten der Lüste auf die leere Wand blicke, verändert sich irgend etwas in mir.«

»Ausgezeichnet.«

»Ich kann noch nicht genau erklären, was es ist …«

»Ich will dir verraten, in welcher Weise ein entwickeltes Bewusstsein solche Phänomene wahrnimmt. Damit meine ich nicht die Gefühle selbst, sondern das Wissen um sie. Es ist ständig im Sehen gegenwärtig, gleichzeitig mit den Dingen – oder könnte doch jeden Moment gegenwärtig werden.«

»Und wozu das alles?«, erkundigte ich mich.

»Das ist die entscheidende Frage, zugegeben. Warum den Blick auf Gefühle ausweiten, die wir ohnehin erleben, wenn auch weniger bewusst, nicht wahr? Und manche sind sogar sehr unangenehm. Ist das Leben nicht schon kompliziert genug? Frage dich, welche Funktion solche Gefühle haben! Was bedeuten sie? Was sind ihre beiden Hauptkategorien und welche Rolle spielen sie in unserem Leben? Sobald du dir darüber klar geworden bist, kann die Reise beginnen. Dann werde ich dir ein Fahrzeug geben, mit dem du dich in jene unermesslichen Gefilde des Innern begeben kannst, die deine Welt verändern.«

»Ein Fahrzeug?«, fragte ich.

»Im übertragenen Sinne ist es so etwas wie ein Fahrzeug, ja. Erinnerst du dich noch daran, was ich über den Glanz der Parkettfliesen gesagt habe? Jedes Objekt kann zu einem Katalysator werden. Und dieser Katalysator ist wie ein Fahrzeug. Ich werde dir ein besonders mächtiges Fahrzeug geben, sobald du dafür bereit bist.«

9

Offenbar hatte Alexander Montag mich für würdig befunden, sein Schüler zu werden. Ich begriff damals noch nicht, welche Art von Lehrer er war, denn diese Rolle ist ein wenig zu ungewohnt und überraschend in einer Welt, in der die meisten Menschen, wie er richtig bemerkte, mit vierzehn Jahren das Denken eingestellt haben.

Sein Ratschlag, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich die Dinge wahrnahm, führte dazu, dass ich in den nächsten vierundzwanzig Stunden etwa fünfhundert bis tausend Gegenstände auf ihre »Gefühlsaura« untersuchte. Die Fassade des Nationalmuseums, unseren verwilderten Garten mit den pausbäckige Engeln und Teufeln, die Zimmerdecke über meinem Bett. Ich ging im Haus umher und betrachtete Vasen und Teppiche.

Montags Beobachtung schien auch für Gedanken und Absichten zu gelten. Aber noch überraschender war die Entdeckung, die ich mit Gesichtern machte. Rolos für einen Elfjährigen viel zu große scharfe Nase kündigte plötzlich verräterisch die spätere Physiognomie eines Perversen an, obwohl das wohl kaum die Dimension des Gefühls war, die Montag im Auge hatte, sondern meine Interpretation. Und um den Kopf meines Oberhirten waberte nicht nur der Widerschein der Obstipation, sondern auch sein künftiger Bankrott.

Ich erprobte fasziniert, was Alexander Montag mir geraten hatte, und starrte auf dem Schulhof an Anne-Marie vorbei auf die Aura der Schönheit, die sie umgab.

Das schwarze Lederstirnband über ihrem feuerroten Haar begann vor meinen Augen zu flimmern.

»Was ist los mit dir, Herzbaum?«, erkundigte sie sich sie. »Hast du plötzlich einen Silberblick? Warum starrst du mich so merkwürdig an?«

»Oh, ich glaube, ich bin einfach nur verliebt in dich.«

»Mit der Liebe soll man keine Scherze treiben.«

»Das würde mir nicht im Traum einfallen.«

»Mein Bruder behauptet, ich müsse mich vor dir in acht nehmen?«

»Dein Bruder ist ein Scheusal. Warum bildest du dir nicht dein eigenes Urteil über mich?«

»Weshalb sollte ich?«

»Weil wir zusammengehören. Was hältst du davon, nach der Schule mit mir Eis zu essen?«

»Jetzt, im Winter?«

»Dann trinken wir eben einen Cappuccino.«

»Einen gemeinsam oder zwei?«, fragte sie und blickte mich auf diese freche oder spitzbübische Weise an, die ich damals noch nicht recht zu deuten verstand.

In diesem Moment vergaß ich völlig Montags Ratschlag. Die silberne Spange, die ihr Stirnband hielt, öffnete sich durch die vereinnahmende Kraft meines Blicks und fiel zu Boden. Ich hob das Band auf und berührte mit der Schulter wie unabsichtlich ihren Arm, als ich mich aufrichtete.

»Soviel du willst …«

»Einverstanden«, sagte sie zu meiner Überraschung und band sich mit beiden Händen – himmlischen schlanken Händen voller winziger blasser Sommersprossen – ihr rotes Haar zusammen, während sie die Spange zwischen ihren makellosen weißen Zähnen hielt. »Wo?«

»Hinter dem Block ist ein italienische Café.«

»Gut, sagen wir um zwei?«

Ich sah ihr ungläubig nach, wie sie ihren schönen jungen Körper einer schwebenden Göttin gleich über den Schulhof bewegte. Unter den sehnsüchtigen Blicken einiger pubertierender Knilche, die es nicht mal im Traum gewagt hätten, sie das Gleiche zu fragen wie ich!

Was war passiert? War sie meinem Silberblick verfallen? Wirkte Montags Gefühlsbetrachtung vielleicht wie ein Zauber? Wieso fand ich plötzlich den Mut, sie einzuladen?

Piper und seine Schwester wohnten mit ihrem Onkel in einem Haus auf den Hügeln der Stadt. In der Klasse nannte man es nur das Hitchcock-Haus, weil es so düster und unheimlich aussah, obwohl Pipers Vater, ein ehemaliger Handelsvertreter, seine Frau und die anderen Kinder gar nicht in diesem Haus, sondern in dem weißgestrichenen Gartenhaus etwa dreißig Meter nördlich davon erschlagen hatte.

Manchmal glaubte ich das ängstliche Flackern in Anne-Maries Blick bei dem Gedanken zu erkennen, dass sie seinem Anschlag nur knapp entronnen war. Man sagte, er sei kurz vor der »Vollendung seines Werkes« zusammengebrochen, er hatte in der geschlossenen Anstalt Selbstmord begangen.

Als ich Anne-Marie nach dem Café nach Hause begleitete, war ihr Bruder gerade Schlittschuhlaufen – ich hoffte, er versank dabei für immer im Eis –, und ihr Onkel Martin befand sich auf einer Studienreise in Italien. Sie hatte ein reizendes rosagestrichenes Zimmerchen im Hitchcock-Turm, das nach Jasmin duftete.

Es gab kein einziges Plakat von Schauspielern oder Sängern an den Wänden – keinen einzigen dieser schwülstig dreinblickenden Burschen in hautengen Lederhosen. Das fand ich beruhigend.

»Magst du Spaghetti?«, fragte sie. »Meine Spaghetti sind überall berühmt.«

»Ich bin der größte Liebhaber von Nudelgerichten außerhalb Italiens«, log ich, um ihr eine Freude zu machen. In Wirklichkeit verabscheute ich Spaghettis, weil die rote Soße beim Essen unweigerlich auf meinem Hemd landete.

Es sah ganz reizend aus, wie sie in der Küche mit einem schwarzen Lederschürzchen hantierte, das nur knapp ihre weißen Oberschenkel bedeckte. Die Spaghetti wurden dampfend in ein Sieb geschüttet. Lediglich die vielen schwarzen Gegenstände im Haus – dazu gehörte auch ihre schwarze Lederschürze – machten mich etwas stutzig. Im Wohnzimmer an der Wand hing eine schwarze Reitpeitsche; nun gut.

Die Aschenbecher, die Untersetzer, selbst die Kerzen waren schwarz, die Tischplatte bestand aus schwarzem Marmor.

Der Korridor war schwarz tapeziert. Auf den schwarzen Bodenfliesen lagen schwarze Kelims mit blassen Indianermustern. Nur der Kolben des Jagdgewehrs an der Wand über der Flurtreppe war aus dunkelbraunem Holz.

»Wann denkst du, werden wir heiraten?«, erkundigte sie sich, während wir eine Flasche Chianti zu den Spaghettis leerten.

Ich war so perplex bei dieser Frage, als hätte ich eine Marienerscheinung.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass wir gleich miteinander ins Bett gehen, ohne später zu heiraten, Herzbaum? Das mag sich altmodisch anhören, aber ich bin nun mal keine Nutte.«

»Wer sagt denn, dass wir gleich miteinander ins Bett gehen?«

»Ist es denn nicht das, was ein Junge und ein Mädchen tun, wenn sie eine Flasche Chianti getrunken haben?«

»Schon – aber deswegen gleich heiraten?«

»Heißt das etwa, du liebst mich gar nicht?«

»Ich bin sogar rasend verliebt in dich«, widersprach ich, als ich das gefährliche Flackern in ihrem Blick sah. Das gleiche Flackern, nahm ich an, wie bei ihrem Vater, diesem verrückt gewordenen Handelsvertreter, als er mit dem Beil vor seinen Kindern gestanden hatte.

»Dann lass es uns jetzt tun …«

»Mit oder ohne Heiratsversprechen?«

»Mit natürlich. Ich bin noch Jungfrau. Es ist das größte Geschenk, das ein Mädchen einem Jungen machen kann. Oder bist du tatsächlich impotent, wie in der Schule behauptet wird?«

Damit sprach sie meinen empfindlichsten Punkt an.

»Wer sagt das?«

»Du selbst in deinem Tagebuch, oder?«

Sie ging achselzuckend an die Schublade der Kommode und nahm mein Notizheft heraus. Es roch nach Jasmin wie ihr Zimmer im Turm, als sie es vor mir aufschlug und ihr himmlisch gebogener Zeigefinger suchend über die Zeilen rutschte. Ich las peinlich berührt, welchen Unsinn ich in meinem damaligen Zustand zu Papier gebracht hatte. Ich hatte den genauen Wortlaut schon vergessen.

»Da steht nur, dass ich Schwierigkeiten mit meiner Nachhilfelehrerin wegen zu großer Präservative hatte«, widersprach ich.

»Waren die Gummis zu groß oder dein Schwanz zu klein, Herzbaum?«

Danach trug ich sie wie einer dieser großen starken Löwen in den Spielfilmen zu ihrem rosafarbenen Bett. Irgend etwas war bei ihren Worten von meiner Schädeldecke zur Zimmerdecke aufgestiegen und hatte sich im Äther verflüchtigt; ein Fluidum, der Geist der Zurückhaltung, vielleicht der letzte Rest meiner Skrupel und Hemmungen …

In ihrem Zimmer gab es keinen einzigen schwarzen Gegenstand. Er schien eine Art Gegenwelt zu bilden, wie die Antimaterie im Universum. Die vorherrschenden Farben waren Beige, Weiß und Rosa. Es erleichterte mich ungemein, das zu sehen. Ich fand auch keinen Beweis dafür, dass sie wirklich noch unberührt war, weder den berüchtigten Blutfleck auf der Bettdecke noch irgend etwas anderes. Das passte zum Rest des Bildes, wie ich später erfuhr. Anne-Marie war mit der Größe meiner Schwellkörper durchaus zufrieden.

Und mir fiel ein Stein von der Seele wegen meines Missgeschicks mit Karola. Ich war völlig gefangen von all den Gedanken, die einen jungen Mann in meinem Alter beherrschen, hätte Montag gesagt, wäre er auf dem Stuhl neben dem Bett Zeuge unserer Vereinigung gewesen. In diesem Stadium des Bewusstseins sind wir immer Opfer unserer Gedanken.

Dornenvogel hatte meinem Vater nach dem ersten finanziellen Desaster den Vorschlag gemacht, die Produktion von Betongerippen auf eine kostengünstigere Herstellung umzustellen. Er stehe in Verbindung mit einer kleineren thailändischen Firma, die Bauelemente für den asiatischen Markt produziere. Ihre Maschinen stammten aus der Volksrepublik China. Der Bruder des Fabrikanten arbeite als Baudezernent im Ministerium. Er rechnete ihm vor, dass sich die Kosten dabei um fünfundzwanzig Prozent senken ließen. Und mein Vater, dieser Oberhäuptling der Idioten, murmelte tatsächlich: »Hört sich gut an, klingt plausibel.«

Er hatte einen hundsgemeinen Respekt vor Dornenvogels Steuertricks. Also nahm er in falschem Umkehrschluss an, sein Kompagnon sei auch ein guter Kaufmann.

Oft saßen sie ganze Nächte lang in der Dachetage des Hochhauses, und Dornenvogel demonstrierte ihm an langen Ausdrucken, die Bleistiftspitze auf den Zahlenkolonnen, wo das Geschäft lag. Es war immer unsichtbar, es existierte nur in ihrem Geiste.

Man musste es erst durch lange Rechen- und Gedankenoperationen ermitteln, so wie die alten Philosophen die Existenz Gottes aus Begriffen erschlossen hatten. Dornenvogels leidender Gesichtsausdruck erinnerte mich an Ludwig Wittgenstein. Aber er besaß eine ordentliche Verdauung, und das belegte in den Augen meines Vaters, dass sein Körper und seine Seele intakt waren.

Von der vierzehnten Etage aus konnten sie die Stadt und das umliegende Land überblicken. Das schwache blaue Licht der beiden Lampen auf ihren großen Palisanderholzschreibtischen gab ihren nächtlichen Sitzungen einen verschwörerischen Anstrich. Völlig klar, dass das Leben von dieser Warte aus wie eine unendliche Baustelle wirkte, ein unermessliches Feld, um Bauelemente aus Betongerippen aufzutürmen und der Welt ein neues Dach über dem Kopf zu geben.

 

Anja studierte unterdessen nach Vorlesungsschluss moderne Tänze bei ihrem Professor, einem jungen Musikwissenschaftler. Van der Held war früher Europameister in Leichtathletik gewesen und betrieb eine Art Gymnastik oder Taekwon-Do, das nicht im normalen Lehrplan vertreten war – »eine revolutionäre neue Art des Tanzes«, wie er es nannte – , und dabei traf er sie mit seinen Tritten oft am Schlüsselbein und unter der Brust.

Eine verklemmte Form der Annäherung, nahm ich an. Ich hatte ihn einmal mit ihr im Café gesehen, da turtelten sie wie die Tauben auf dem Markusplatz. Meiner Meinung nach war er furchtbar verknallt in sie. Immerhin schien Anja nach diesem schweißtreibenden Studium völlig die Lust an ihren wimmernden Schnulzen aus Michael Jacksons elektronischen Musiklabors verloren zu haben. Es wurde totenstill im Haus.

»Sag mal?«, erkundigte sich meine Mutter. »Was ist eigentlich los mit euch beiden?«

»Mit uns? Mit mir ist alles in Ordnung, was mit deinen anderen Kindern los ist, weiß ich nicht.«

»Du läufst durch die Gegend wie in Trance, als hättest du was an den Augen? Und Anja ist plötzlich so still geworden?«

»Oh, das sind wahrscheinlich nur die gewöhnlichen Entwicklungsschübe bei uns Pubertierenden.«

»Wie klappt’s denn mit den Nachhilfestunden?«

»Ausgezeichnet. Wir behandeln gerade die Fresnelsche Zonenkonstruktion, die auf dem Huygensschen Prinzip beruht.«

»Die Fresnelsche … aha.«

Dank Karolas Hilfe verdrückte ich mich nach solchen Kontrollgesprächen problemlos ins Museum. Meine Erzeugerin – dieses altmodisch taktvolle Wesen – hätte niemals die Aufdringlichkeit besessen, sich an Ort und Stelle von meinen Fortschritten in der Theorie der Fresnelschen Zonenkonstruktion zu überzeugen.

Was Karola in ihrer unfreiwilligen Freizeit trieb?

Ich war irgendwann in ihr Zimmer geplatzt, und da lag sie auf ihrem Bett, einen Stapel uralter Modezeitschriften mit aufgefalteten Schnittmusterbogen neben sich, die meine Mutter seit ihrem vierzehnten Lebensjahr sammelte …

Mir klangen Montags Fragen noch deutlich im Ohr, als ich das Nationalmuseum betrat. Seitdem ich mit neuneinhalb Jahren die Welt des Geistes entdeckt hatte – das war eine Taschenbuchschwarte über Leibniz’ Monadologie gewesen, von der ich so gut wie nichts verstand –, hat mich die Magie der Begriffe nie wieder losgelassen.

Auch heute noch, als Arzt und Lehrer, finde ich es immer wieder überraschend, welche andere Realität hinter den ordinären Erscheinungen verborgen liegt, wie tief das Instrument des Geistes reichen kann, wenn wir uns seiner nur mit dem nötigen Scharfsinn bedienen und uns nicht im Dickicht der Begriffe und falschen Schlussfolgerungen verheddern.

An diesem Tag war die Gemäldegalerie ein Tohuwabohu aus durcheinanderwirbelnden Schülern der dritten Klasse. Die Museumswächter hatten eine geschlossene Kordelabsperrung um sie gebildet, die sie in den Händen hielten, um sie wie eine Herde ungestümer junger Schafe von den Bildern fernzuhalten und gleichzeitig von einem Raum zum anderen zu treiben.

Ich musste eine volle halbe Stunde warten, bis der Spuk vorüber war. Doch auf Montags Gesicht zeigte sich nicht die geringste Spur von Ungeduld oder Erschöpfung.

»Du hast über meine Fragen nachgedacht, Marc?«

»Es scheint so, als wenn die Gefühle den Dingen eine Art – na, ja … eine Art Wertprofil verleihen?«

»Hm, was lässt dich bei der Antwort zögern?«

»Wenn sie den Wert der Dinge ausmachen – und was sollte ihn eigentlich sonst ausmachen? –, dann scheint im Leben alles von den Gefühlen abzuhängen?«

»Ja, ausgezeichnet. Die Gefühle haben also die Funktion, den Dingen ihren Wert zu verleihen? Und weiter?«

»Mit den beiden Hauptkategorien meinen Sie vermutlich, dass sie positiv oder negativ sind?«

»Sie sind sogar die einzigen Qualitäten im uns bekannten Universum, denen diese besondere Eigenschaft zukommt, das wichtigste Faktum nach Materie, Energie und Bewusstsein. Man glaubt vielleicht, dass auch Dinge – ein Hammer als Werkzeug, ein Gesetz, das uns vor Verbrechern schützen soll, ein Fahrzeug, das uns ins Krankenhaus befördert, eine Operation, die unser Leben rettet – positive Qualitäten haben könnten.

Aber solche positiven Qualitäten – als Mittel – sind immer nur abgeleitet. Am Ende der Kette muss die positive Gefühlsauszeichnung stehen, das, was sich in der Attraktivität des Gefühls zeigt. Ohne sie wären die Mittel nichts oder nur eingebildet.«

»Und warum ist das wichtig?«, fragte ich.

»Weil es viel mehr Folgen hat, als man auf den ersten Blick übersieht. Du wirst deine Reise nach innen nie erfolgreich antreten können, wenn dir diese fundamentale Einsicht fehlt.«

Ich dachte, dass er mir nun erläutern würde, welche Bewandtnis es damit hatte. Aber Montag schwieg, offenbar in der Annahme, dass ich schon die richtigen Fragen stellte, und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

Seine Hände spielten mit einer der getrockneten Blumen, die in der Vase auf dem Boden neben ihm standen. Diese Blumen – ein großer Strauß bunter Feldblumen – hatten irgendeinen Zweck, sie waren mir schon früher aufgefallen. Manchmal zerkrümelte er die Blüten mit den Fingerspitzen, dann bedeckte der feine Staub seine Hosenbeine und den Boden um ihn her, und seine bewegungslose Gestalt bekam ein wenig vom Aussehen eines Buddhas, den die Gläubigen mit mitgebrachten Blüten bestreut hatten.

»Ich sehe in den Gefühlen zugleich Bedeutungen«, fuhr ich zögernd fort. »Über das, was ist und sein wird. Als könnte ich darin die Zukunft lesen?«

»Nein, darum geht es nicht. Dieses Faktum wäre bloß hinzugedacht. Ein häufiger Fehler.

Was ich meine, ist die reine positive oder negative Gefühlsqualität, ein inneres Phänomen, das nichts mit Sinneswahrnehmungen oder Gedanken zu tun hat.

Genauso, wie der Schmerz oder die Lust unabhängig sind, obwohl sie sich mit anderen Wahrnehmungen vereinigen können.

Das Gesicht einer schönen Frau oder der Gedanke daran mit dem Gefühl der Schönheit.

Wenn du die innere Welt erforschst, wirst du entdecken, dass sich diese inhaltlichen Qualitäten – in unserem Beispiel die Gesichtszüge – mit den Gefühlsqualitäten verbinden und eine dritte, neue Qualität erzeugen.

Weil die Dinge selbst keinen Wert haben, erreichen sie es durch Teilhabe an der Attraktivität des Gefühls und bereichern dabei das Gefühl mit ihrer Eigenart – durch Farben, Formen, Beziehungen.

Das ist der genauere Sinn der Redewendung, die Schönheit liege immer im Auge des Betrachters.

Oder, allgemeiner gefasst, das Glück liege nicht in den Dingen, sondern in der Bewertung durch uns. Und jetzt kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt.

So entsteht der Anschein der Objektivität! Da wir den inneren Raum selten in dieser Weise inspizieren, da wir nicht in der Lage sind, ohne Übung von den einzelnen Komponenten zu abstrahieren, gaukelt die Natur uns vor, das Gesicht selbst sei schön.«

»Und weshalb versucht sie das? Wozu spielt die Natur dieses falsche Spiel?«

»Um uns auf die Wertvorstellungen der Gemeinschaft einzuschwören. Aber diese – angeblich objektiven und allgemeingültigen – Vorstellungen sind nicht nur zweckmäßig, sie haben nicht nur die Funktion, Bräuche, Moden und moralische Verhaltensweisen zu schaffen.

Sie hindern uns auch an der freien Entfaltung unseres Wesens und unserer Individualität. Sie schaffen Fanatismus und Rechthaberei. Scheinbar objektive Werte sind die tieferen Ursachen für Faschismus und Nationalsozialismus, für Terrorismus und Fundamentalismus.

Denn ohne als bindend angesehene Ziele gäbe es nur Pluralismus und Abstimmungen, wäre die Toleranz das beherrschende Prinzip unseres Zusammenlebens. Scheinbar objektive Werte waren die geistigen Voraussetzungen für die Ermordung der Juden, um nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte zu nennen.«