Kalter Krieg im Spiegel

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Der Nachlaßverwalter, ein Anwalt aus der Stadt, stellte fest, dass zwei wertvolle moderne Gemälde gestohlen worden waren. Ich berichtete ihm von meiner Beobachtung: der Frau im Lodenmantel und dem Mann mit dem Kastenwagen. Er fragte mich mit ernster Stimme, ob ich wirklich die Haushälterin erkannt hätte. Er war ein großer, imponierender Mann mit wallendem Bart (wie ich mir Moses vorstellte), und ich hatte ziemliche Angst vor ihm.

Trotzdem nickte ich, weil ich dachte, ich könnte ihn immer noch vors Schienbein treten und weglaufen, wenn er mich zwingen würde, etwas anderes als das zu sagen, was ich gesehen hatte (aus irgendeinem Grunde argwöhnte ich, er stecke mit ihr unter einer Decke …).

Um der Wahrheit willen erwähnte ich aber, dass sie diesmal, anders als sonst, einen Strohhut getragen habe.

Er ermahnte mich, gut nachzudenken, denn alles, was ich sagte, würde vor Gericht gegen sie verwendet werden.

Nun – ich blieb bei meiner Aussage!

Zwar wurden weder die Bilder noch der Strohhut bei ihr gefunden, doch man verurteilte sie zu einer Gefängnisstrafe. Ich selbst kam in ein Heim und dachte trübsinnig an unsere grünen Wiesen, die Birnbäume und das schöne Haus zurück.

Das Haus wurde bald verkauft. Bis zu meiner Volljährigkeit bekam ich keinen Pfennig davon.

Aber die Gemälde tauchten eines Tages in einer Auktion auf!

Als man ihren Weg zurückverfolgte, stieß man auf ein Pärchen, das mit Altwaren und Antiquitäten handelte. Der Mann besaß einen Kastenwagen wie den, den ich vor dem Haus beobachtet hatte – und seine Frau trug Lodenmäntel. Aus der Nähe betrachtet glich sie unserer alten Haushälterin allerdings kaum – wenn man von ihrem Haarknoten und dem gebeugten Rücken absah –‚ und ich weiß wirklich nicht, wie ich sie mit ihr hatte verwechseln können. Vermutlich war meine Abneigung daran schuld gewesen …

Damals überließ ich ihr als Entschädigung eines der beiden Gemälde …

Anders als bei Fotos, befiel mich seitdem, wenn ich Gemälde sah, ein eigentümliches Unbehagen. Meine Finger zitterten, und die Handflächen wurden feucht. Der Arzt, den ich konsultierte, nannte es »eine leichte Bilderphobie«, und er führte sie auf jenes »traumatische Erlebnis« zurück, das mich ins Heim gebracht hatte.

Ich nahm an, dass die Ursache nicht eigentlich der Bilderdiebstahl war, die Tatsache, dass man Bilder gestohlen hatte – so als müsste ich, wenn es Porzellan gewesen wäre, an einer Tassen-, Teller- und Kannenphobie erkrankt sein. Nein, es war einfach das Eigentümliche von gegenständlichen Gemälden: dass sie etwas darstellen und augenscheinlich mehr sind als nur Farbtupfer auf Leinen – nämlich Vorspiegelung, das Nachgeahmte, Scheinbare …

Es war die Täuschung, die mir Unbehagen verursachte. Darum mied ich Gemäldehandlungen und Ausstellungen, wo immer es ging. Als Staatsanwalt hatte mich meine Angst vor Bildern einmal in arge Verlegenheit gebracht. Ich sollte während einer Verhandlung an Originalgemälden die Einzelheiten einer Fälschung erläutern, doch schon nach wenigen Augenblicken musste ich mich wegen »Unpässlichkeit« entschuldigen lassen.

Die Vorwürfe gegen Kofler hatten den gleichen Anschein der Täuschung: Es war ein Bild und ich versuchte herauszufinden, wer es gemalt hatte.

Je mehr ich dieses Bild zerstören und zur eigentlichen Realität (Realität –so zweifelhaft das Wort auch sein mochte) vorstieß, desto mehr verflüchtigte sich in der Regel mein Unbehagen, und der Zweifel, der wie eine Hummel unterhalb meiner bewussten Gedanken summte, ließ nach. Im Grunde war die Echtheit des Bildes sogar völlig nebensächlich – vorausgesetzt, ich glaubte an sie. Es gab etwas in Koflers Geschichte, das mich darauf brachte, der KGB oder das MfS könnte ihn – ohne sein Wissen – nicht als »Messias«, sondern als Köder, als Ablenkung für einen echten Agenten benutzt haben wenn man sich nämlich seine Ausbürgerung zunutze machte. Man wählte den passenden Zeitpunkt und spielte dem Leipziger Ring eine Falschinformation zu.

Was benötigte ein künftiger Parteiführer wie Kofler? Zunächst einmal Büros in den Zentren, wo seine Anhänger am stärksten vertreten waren, also in Frankfurt, Bochum, München und Hamburg. Solche Räume mussten, wenn das Unternehmen Erfolg haben sollte, mit Sekretärinnen, Büromöbeln, Fernschreibern, Mitgliedercomputern und Kleindruckereien ausgerüstet sein. Der geringe Betrag, den die Vereinigungen aufbrachten, konnte das nicht finanziert haben.

Als F.s Leute dieser Spur nachgegangen waren, hatten sie entdeckt, dass die Gelder dazu von einem schwedischen »Verein zur Förderung des Sozialismus in Mitteleuropa«, Sitz Göteborg, stammten. Jeder, der den Verein kannte, wusste, woher er den überwiegenden Teil seiner Mittel bezog: aus Moskau und Ost-Berlin.

Der Geldtransfer war ein so durchsichtiges Manöver, dass man ihn fast als Beweis für Koflers Unschuld werten konnte. Es gab nur einen halbwegs überzeugenden Versuch, die Angelegenheit zu tarnen – man hatte die Spende über den Zwischenverkauf eines Bürogebäudes in Frankfurt abgewickelt, das den Schweden gehörte. Ein Mittelsmann erwarb das Haus zu einem Spottpreis, verkaufte es für den echten Gegenwert und ließ den Erlös der Vereinigung zukommen.

Auch hier kein Versuch, einen unverdächtigen Zwischenhändler einzuschalten, denn bei dem Mann handelte es sich um einen Druckereibesitzer, der überwiegend radikale marxistische Schriften und kleinere Pamphlete vertrieb. Zwar besaß Kofler keine Verfügungsgewalt über die Konten, doch mit der offiziellen Übernahme der Geschäfte würde sich das vermutlich ändern.

Ein weiterer Punkt betraf Koflers letzte Stunden vor der Abschiebung aus Ost-Berlin. F.s Experten hatten seinen Weg rekonstruieren können:

Aus einem Gefängnis am Stadtrand war er in die Prenzlauer Allee gefahren worden, und dort war nicht etwa der Sitz jener Behörden, die gewöhnlichen Ausgebürgerten ins Gewissen redeten, sie bedrohte und ermahnte, im Westen Wohlverhalten und Neutralität zu üben, sondern bei ihren Spezialisten handelte es sich genau um jenen Stab von Mitarbeitern, der solche Infiltrationsversuche plante.

Uns war kein Fall bekannt, bei dem ein Mann, der auf den Westen angesetzt wurde, sich derart verräterisch benommen hatte. Wir wussten, dass Achenbach seit seiner Rückkehr nach Ost-Berlin das Ressort »Einschleusung« bearbeitete, nachdem es ihm gelungen war, zwei Konkurrenten auszuschalten. Dieser Mann galt, was die Hinterhältigkeit und den Ideenreichtum seiner Planungen anging, als einer der besten Köpfe, den das MfS je besessen hatte. Ein so grober Schnitzer – eine derartige Sorglosigkeit – war ihm kaum zuzutrauen – es sei denn, er legte es darauf an, uns Kofler als Verdächtigen zu präsentieren.

F. hatte diese Ungereimtheiten damit abgetan, dass man drüben weder etwas von unseren Abfangmethoden noch von den Hinweisen ahnte, die uns der Leipziger Ring über den Agenten in der Roßstraße zukommen ließ. Nachdem Zwischenfall mit dem Messwagen an der Mauer, dem angeblichen »Stromausfall« – ich war nach wie vor davon überzeugt, dass es sich um eine Messung handelte, obwohl F. behauptete, es gebe keinerlei Hinweise dafür – war ich da nicht mehr so sicher. Mir fiel der Mann mit dem Fernglas ein, den ich einmal in dem verfallenen Gebäude jenseits des Todesstreifens beobachtet hatte. Wenn aber Koflers vermeintliche Rolle bloß ein Ablenkungsmanöver war, wer außer Amrouche kam dann in Frage?

Ich blickte auf meine Armbanduhr: Es war kurz nach fünf. Barbara hätte ihre Arbeit in der Zentrale längst beendet haben müssen. Als ich das Café verließ, sah ich sie aus einem Hauseingang am anderen Ende der Straße kommen. Sie trug einen blauen Mantel und eine Umhängetasche und beeilte sich, in einen japanischen Kleinwagen zu steigen.

»Nanu?«, meinte sie, als sie mich entdeckte. »Haben Sie etwa hier auf mich gewartet?«

»Ich wusste nicht, dass sich in diesem Haus Dienststellen der Abteilung befinden«, sagte ich und blickte an der Fassade hinauf.

»Ja, wir stecken überall«, lachte sie. »Seit einiger Zeit werden die Räume öfter gewechselt – auf Ihre Veranlassung hin, nehme ich an?«

»Es sieht aus, als wenn Sie‘s eilig haben?«

»Nicht besonders …«

»Gut, dann schlage ich vor, Sie kommen mit in meine Wohnung in der Hitzigallee, das ist nur ein paar Straßen weiter, und wir setzen unsere Unterhaltung fort, wo wir sie letztens unterbrochen haben.«

»Sie meinen, wir gehen miteinander ins Bett?«

»Wir könnten auch Tee trinken oder Schach spielen.«

»Nicht in Ihrer Wohnung. Lassen Sie uns irgendwo hingehen. Vielleicht gibt es noch Karten für den Flokus.«

»Flokus

»Ein Kabarett.«

»Na, meinetwegen.« Ich stieg ein. Sie warf ihre Lederumhängetasche achtlos auf den Rücksitz (ein gutes Zeichen, wie mir schien). »Haben Sie Ihrem Vater von unserem Stelldichein erzählt?«, fragte ich, während sie vorgebeugt den ersten Gang einlegte.

»Gott bewahre. In der Beziehung ist er ziemlich humorlos.«

»Wegen des Kerls mit dem Heiligenschein hatten Sie übrigens recht.«

»Wegen – ?«

»Die Dachsilhouette …«

»Ah, richtig.«

Wir parkten in einer Nebenstraße des Ku‘damms.

»Ich muss Ihnen ein Geständnis machen«, sagte ich beim Aussteigen. »Sie halten mich für den Chef, aber ich bin nicht mal Abteilungsleiter in dem Verein.«

Barbara starrte mich schweigend an, ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie hatte sich etwas herausgeputzt. Es war ein Vergnügen, sie anzusehen. Mal abgesehen von der Spannung in der Atmosphäre, den knisternden Funken, die förmlich zu hören waren nach meinem unerwarteten Geständnis.

»Nein, wi-i-rklich – ?« Sie zog das »i« lang, als nehme sie vor einem Spinnennest Reißaus.

 

»Sie müssen mir einfach glauben!«, sagte ich. (Etwas Dümmlicheres fiel mir momentan nicht ein.)

»Na wenn das so ist, weiß ich gar nicht, warum ich mich noch mit Ihnen abgebe. Ich meine, wenn Sie nur eine Null in dem Laden sind. – Und die Mädchen? Warum schanzt man Ihnen so viele hübsche unschuldige Mädchen zu?«

»Unschuldige waren noch keine darunter. Ich bin in einer etwas kuriosen Lage – offenbar ist jemand in der Organisation daran interessiert, dass man mich für den Chef hält.«

»Warum sollte man?«

»Ich würde Sie gerne ins Vertrauen ziehen.«

»Na schön«, seufzte sie. »Kein Flokus. Gehen wir essen? Anscheinend bin ich eine Art Vertrauensperson, ein wandelnder Beichtstuhl. Erst heult Charlotte mir die Ohren voll, und jetzt kommen Sie mit Ihrem …«

»Charlotte?«

»Sie war schwanger. Ich denke doch, dass Sie von der Abtreibung erfahren haben?« Sie musterte mich missbilligend. »Ihre verhinderten Vaterfreuden.«

Ich nickte.

»Sie muss geglaubt haben, ‘der Chef’ werde sie heiraten«, sagte ich. »Ihr Freund stellt mir deswegen nach. Hören Sie, die Geschichte, von der ich Ihnen berichten will, ist wesentlich heikler. Meine Aufgabe in der Organisation … oder anders gesagt, die tatsächliche und die angebliche Rolle, die ich dort spiele – « Ich schwieg. Plötzlich kamen mir Zweifel, ob es richtig war, sie ins Vertrauen zu ziehen. »Der Mann mit dem Heiligenschein – ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen das …?«

»Erzählen Sie‘s mir morgen oder übermorgen«, unterbrach sie mich. »Oder wann immer Sie glauben, mir vertrauen zu können.«

Dass sie nicht neugierig war, erleichterte mich ein wenig. Wir gingen in ein kleines Lokal, dessen Küche, wie sich dann herausstellte, schon geschlossen hatte, und tranken zwei Karaffen Rotwein. Sie begann mir von ihrem Vater zu erzählen, seinem Misstrauen und allerlei Umständlichkeiten und Verschrobenheiten, zum Beispiel, wie er Briefe öffnete.

Er befürchtete ständig Opfer eines Briefbombenanschlags zu werden, darum ließ er auch seine Privatbriefe im Büro öffnen. Und die Haustür konnte mit einem giftigen Kontaktmittel bestrichen sein. Also legte er ein großes altmodisches Taschentuch darüber. In einer Menschenmenge angestoßen, argwöhnte er oft, man habe ihn mit einer präparierten Regenschirmspitze getroffen, die Wundstarrkrampf, Hirnhautentzündung oder irgendein anderes Leiden verursachen würde.

Doch seine bemerkenswerteste Eigenschaft sei sein Hang, für alle Eventualitäten vorzusorgen und noch den abwegigsten Möglichkeiten Rechnung zu tragen.

Er wolle auf alles vorbereitet sein. Obwohl ein eingeschworener Atheist, gehe er einmal monatlich beichten, für den Fall, dass doch etwas »an der Sache« dran sei. Klammheimlich, verstehe sich, und immer in Kirchen weit genug vom Zentrum.

Peinlich werde es, meinte Barbara, wenn er das Heizöl zwei Winter im Voraus bestelle, die Händler besäßen dafür keine Terminbücher.

»Ach«, sagte ich und ahnte mit einem Male, welcher Marotte mein angeblicher Chefstatus zu verdanken war. Womöglich würde er auch Kofler vorsorglich beseitigen lassen, falls ich Zweifel an seiner Unschuld äußerte.

»Das wussten Sie nicht, habe ich recht?«, fragte Barbara. »Als Mitarbeiter verstellt er sich, wo es geht, aber als Privatmann ist er eine ziemlich lächerliche Figur. – Herrgott ….«‚ sie sah auf die Uhr. »Nun muss ich aber wirklich gehen.«

Nur mühsam brachte ich sie dazu, sich mit mir fürs Wochenende zu verabreden.

»Ich mag Sie. Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen trauen kann.«

»Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann besorgen Sie mir einige von den Papieren, die ich angeblich unterzeichnet haben soll«, bat ich, als sie schon im Wagen saß.

»Mit dem C für Chef?«

»Mein Name ist Cordes.«

»Sie haben den Mädchen sicher viele Geschichten erzählt – na schön, ich will sehen, was ich tun kann.«

7

Der Arzt war ein schweigsamer Mann in dunklem Anzug mit einem Köfferchen in der Hand. Sein zurückgekämmtes Haar über der hohen Stirn war ergraut. Er hatte das Eisentürchen neben dem Fahrstuhl mit einem Zweitschlüssel geöffnet, die vereinbarte Dreiundzwanzig in das Tipptastenfeld eingegeben, worauf oben in der Wohnung das Signal ertönt und Kruschinsky hinuntergefahren war, um ihn abzuholen. Er sah aus wie ein Doktor auf Hausbesuch. Ich kannte ihn nicht (F. tauschte solche Mitarbeiter gern nach jeder Aktion aus).

Das dünne Bärtchen über seiner Oberlippe verschob sich nur einmal, als er mir die Hand gab und – unmerklich lächelnd – »eine Identifizierung …«, murmelte.

Den Rest wickelte er ohne Umstände und mit solcher Schnelligkeit ab, als sei es Alltagsroutine. Er legte die Masse für den Zahnabdruck heraus, eine Mappe mit Aufzeichnungen, farbigen Diagrammen und Röntgenbildern, hängte sich das Stethoskop um den Hals und bat Kofler, den Oberkörper freizumachen.

»Kontrolle Ihres Gesundheitszustandes!«, sagte er. »Wir möchten, dass Sie sich bei uns wohl fühlen. Zum Schluss noch ein Vergleich mit Ihrem zahnärztlichen Befund – so ist die Vorschrift. Natürlich wissen wir, dass Sie der Mann sind, für den Sie sich ausgeben« – er zuckte die Achseln – »Routine, Behördenkram, Sie kennen das ja.«

Dann begann er zu arbeiten:

Er klopfte Koflers Rücken ab, verglich die Biegung seiner Wirbelsäule mit zwei Röntgenaufnahmen, tastete nach einzelnen Wirbeln, strich mit den Fingernägeln über seine Haut, um an der Rötung den Kreislauf und die Durchblutung zu beurteilen, sah ihm in den Rachen, studierte eine Weile mit dem Augenmikroskop seine Iris, horchte den Herzschlag ab, leuchtete ihm in die Ohren – und erkundigte sich, als er fertig war:

»Wollen Sie eine Vitaminspritze?«

Kofler schüttelte den Kopf.

»Dann nehmen wir jetzt den Gebissabdruck. Bitte setzen Sie sich. Bitte den Kopf zurücklehnen …«

Er mischte die Masse im Glas an und warf mir, während er rührte, einen desinteressierten Blick zu. Ich war erleichtert dass, dass Kofler die Prozedur ohne Protest über sich ergehen ließ. Als ihm die Silikonmasse unter den Oberkiefer gedrückt wurde, sah er mich wie ein weidwundes Reh an, verbis sich aber jeden Kommentar.

»Stillhalten jetzt«, sagte der Doktor. Er presste die Masse gegen den Gaumen, hielt sie mit drei Fingern angedrückt, und Kofler atmete mit weit geöffnetem Mund, den Kopf und Nacken über die Sessellehne zurückgebeugt, schnaufend durch die Nasenlöcher ein und aus. Er tat mir leid. Ich ahnte, dass er unschuldig war. Und ich tat mir selbst leid – denn seine Unschuld würde uns beiden eine Menge Ärger einbringen.

Man hatte auf eine Identifizierung durch den Vergleich seiner Fingerabdrücke verzichtet, denn die Muster bei den Behörden waren zu leicht austauschbar. Um an dagegen die übrigen Daten zu gelangen, musste die andere Seite wie wir in Arztpraxen und Krankenhäuser einbrechen oder das Personal bestechen. Ich nahm die Mappe mit der Krankengeschichte zur Hand:

Kofler hatte sich zur fraglichen Zeit tatsächlich den Unterarm angebrochen.

Kruschinsky kam aus dem Nebenzimmer und reichte mir einen Textstreifen aus dem L.D.A. Ich las ihn und steckte ihn in die Jackentasche.

»Für einen Mann Ihres Alters kein schlechtes Gebiss«, stellte der Doktor fest, als er den Abdruck herausgenommen hatte. Er verglich ihn mit einem Wachsabdruck, der eingewickelt vor ihm lag. »Gut, das wär‘s. Wünsche einen angenehmen Abend.« Dann packte er alles in sein Köfferchen und ging zur Fahrstuhltür. »Eindeutig Kofler«, nickte er mir zu. »Ein gesunder, starker Mann. Könnte hundert Jahre alt bei uns werden.«

Nicht mal der Ansatz eines ironischen Lächelns war in seinem Gesicht, als er mit Kruschinsky den Fahrstuhl betrat.

»Und …?«, erkundigte sich Kofler – wir hatten uns an den Tisch gesetzt –, »kein Agent der Warschauer-Pakt-Staaten?« Seine Augen funkelten, und sein Kopftick beschrieb eine vergnügte Aufwärtsbewegung.

»Nehmen Sie ernsthaft an, jemand habe Sie dafür gehalten?«

»Ehrlich gesagt, ja

»Dann war Ihr Ausflug so etwas wie der Versuch, uns Ihre Harmlosigkeit zu demonstrieren?«

»Nein, zu dem Zeitpunkt war ich noch ganz arglos.«

Ich zuckte die Achseln und schlug meine Mappe auf.

»Eines ist mir noch unklar. Nämlich Ihr Verhältnis zur Mehrheitsdemokratie. Es scheint, dass Sie das Verfahren ablehnen? Dabei handelt es sich um eine Äußerung, die Ihnen im Westen viel Zulauf eingebracht hat – Zulauf aus radikalen Kreisen. Man wertet das nicht gerade als Plädoyer für unsere freiheitliche Verfassung. Allerdings ist manch einer bei uns, der zu den dreißig, vierzig oder gar neunundvierzig Prozent einer Minderheit gehört, der Abstimmungsverfahren überdrüssig und bezeichnet sie als ‚Diktatur des einundfünfzigsten Prozents’. Offenbar vertreten auch Sie die Meinung, an die Stelle des Mehrheitsprinzips müsse das Kompetenzprinzip treten?«

»Keine Bindung an Besitz, Rang, Namen oder Funktionen«, nickte Kofler. »Selbst wenn man das gegen mich auslegt. Ich berufe mich da auf den finnischen Staatspräsidenten Kekonen, eine falsche Politik werde auch dann nicht richtig, wenn das Volk sie wolle.«

»Man wird Ihnen das als undemokratische Beliebigkeitshaltung auslegen. Wer entscheidet über Kompetenz?«

»Es kommt darauf an, wie man einen solchen Grundsatz handhabt. Auch der Westen praktiziert keine echte Mehrheitsdemokratie. Es entscheiden die Experten.

Sie sehen das an der relativen Wirkungslosigkeit von Demonstrationen. Niemand veranstaltet deshalb eine Volksabstimmung – auch nicht, wenn sich einige tausend Menschen in der Bonner Innenstadt versammeln. Aber die Experten müssen guten Willens sein. Sie dürfen nicht an ihren Ministersesseln kleben, sie dürfen nicht dem Großkapital zuarbeiten. Wir überleben nur, wenn wir den kategorischen Imperativ jeden Augenblick aufs neue zur echten Maxime machen.«

»Ihr Wort in Teufels Ohr«, sagte ich. »Gut – vertagen wir die offizielle Vernehmung. Ich habe noch eine Flasche Rotwein im Schrank … wenn Sie Lust auf ein Gläschen haben?«

»Gern«, nickte er.

Ich ging hinaus, um die Flasche zu holen, Kruschinsky plagte sich im Nebenraum mit dem Notizbuch. Einige Blätter, auf denen er verschiedene Entschlüsselungsmethoden durchprobiert hatte, lagen verstreut auf dem Tisch.

»Aus Ihrer ‚halben Stunde’ wird nach und nach eine halbe Woche?«, sagte ich.

»Es ist ein ungewöhnlich kniffliger Kode«, erklärte er kopfschüttelnd. »Aber ich hab‘s noch nicht aufgegeben. Wenn ich wüsste, was das durchgestrichene Wort oben bedeutet, hätte ich einen Ansatzpunkt, weil es möglicherweise auch im Text auftritt.«

»Cordes …«‚ sagte ich und ging in mein Zimmer hinüber. Ich spürte förmlich, dass Kruschinskys Blick dabei an meinem Rücken hing. Kofler hatte seine Jacke ausgezogen. Darunter trug er einen verwaschenen blauen Pullover, der etwas zu lang war.

»Die Morgenzeitung schreibt, ich würde über Ungarn oder Rumänien einreisen«, erklärte er, als ich hereinkam.

»Vielleicht nur ein Täuschungsmanöver, um die Kollegen von den anderen Blättern abzulenken.«

»Halten Sie das für möglich?«

»Journalisten sind keinen Deut besser als Geheimdienste.«

Ich entkorkte die Flasche und goss ihm und mir ein randvolles Glas ein. Er roch daran, spülte fachkundig einen kleinen Schluck im Mund und nickte anerkennend.

»Guter Tropfen. In Polen muss man lange anstehen dafür. Falls er überhaupt aufzutreiben ist. – Wie sind Sie an den Job gekommen?«, fragte er nach einer Weile.

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Würde mich interessieren …«

Ich goss mein Glas nach und musterte ihn, seine strahlend blauen Augen sahen mich vertrauensselig an.

Es war die sympathische Offenheit darin, die mich wie von selbst in sein Lager überwechseln ließ. Nicht viel mehr als ein wenig offene Bläue …

»Bevor ich diesen Job übernahm, war ich Staatsanwalt. Wegen eines groben Fehlers – Voreingenommenheit aus Eifersucht, durch die jemand Selbstmord beging – wurde ich vom Dienst suspendiert. Ich geriet sogar in den Verdacht, Beweismaterial manipuliert zu haben. Es ging mir ziemlich erbärmlich danach – bis man mir diese Arbeit anbot.«

Kofler ließ sich Einzelheiten über Pysiks Selbstmord, die Hintergründe der Ermittlungen und seinen Prozess erzählen. Er stellte Fragen, die verrieten, dass er sein Handwerk als Kriminologe noch nicht verlernt hatte. Ich dachte, es sei nützlich, ein persönlicheres Verhältnis zu ihm zu gewinnen. Der Eindruck, den er auf mich machte, war noch zu unbestimmt. Meine Geschichte war ohnehin bekannt. Sie hatte damals in allen Zeitungen gestanden.

 

»Und der wirkliche Täter ist nie gefasst worden?«, fragte er nachdenklich. »Jemand muss Pysik belastet haben.«

»Es wurde eine Nummern-Druckmaschine für Schecks bei ihm gefunden. Aber die gefälschten Schecks waren auf einer anderen Maschine gedruckt worden.«

»Sie haben sehr leichtfertig gehandelt.«

»Ich war von Pysiks Schuld überzeugt.«

»Ihre Überzeugung hat ein Menschenleben gekostet.«

»Ja, und ich bin noch nicht darüber hinweg.«

»Es ist immer das Gleiche«, meinte er grüblerisch. »Mit ein wenig gutem Willen, an seine Unschuld zu glauben, wäre das alles nicht passiert.«

»Eigentlich verfolgen mich solche Irrtümer, solange ich zurückdenken kann – es scheint so, als wenn ich eine Art Option darauf hätte.«

Ich berichtete ihm von dem Bilderdiebstahl und einer anderen – ähnlichen – Geschichte aus meiner Schulzeit. Damals hatte ich überein Jahr lang einen Schüler gemieden, der mein Freund gewesen war. Ich wusste, dass er darunter litt und mich nicht verstand, aber ich glaubte, er habe mich beim Lehrer wegen eines geschwänzten Vormittags verpetzt (tatsächlich hatte die Frau des Lehrers mich am Fluss beobachtet – doch das erfuhr ich erst viel später). Ewald, so hieß der Schüler, schien plötzlich in ungewöhnlich gutem Einvernehmen mit dem Lehrer zu stehen (dabei war er ungeschickt und faul und in Mathematik und Orthographie der Klassenletzte); und er war der einzige, der von meinem Angelvormittag und dem Plan mit der gefälschten Unterschrift auf dem Entschuldigungszettel gewusst hatte …

Ihr gutes Einvernehmen entpuppte sich später als gemeinsames Hobby. Sie züchteten dieselbe Art seltener Zierfische. Ich glaube, es waren Neon-Salmler – oder etwas ähnlich Verrücktes.

Dabei machte ich mir nichts vor. Dass ich Kofler von den alten Geschichten erzählte, geschah nicht aus Berechnung. Ich hatte ein Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden.

Er hörte geduldig zu, ohne Anzeichen von Ermüdung. Wir leerten die Flasche, und ich ging hinüber und holte noch eine Flasche Riesling. Oft, wenn er sprach, schweiften meine Gedanken ab, und ich grübelte darüber nach, wie wenig Anlass es gab, an seine Unschuld zu glauben – und ob es sich bei dem Vertrauen, das ich ihm jetzt entgegenbrachte, nicht nur um jenes ins Gegenteil verkehrte Misstrauen handelte, dem ich so oft aufgesessen war.

Sicherlich blieb er nach wie vor verdächtig. Die Geschichte mit dem Gipsarm mochte zutreffen – aber das französische Fernsehinterview, die auf ungeklärte Weise verratene Mitgliederliste russischer Dissidenten, seine angeblich nur in der Jugendzeit orthodox marxistische Haltung, das unautorisiert und verfälscht ins Englische übersetzte Buch, vor allem aber sein verdächtiger Aufenthalt in Ost-Berlin sprachen gegen ihn.

Trotzdem vertraute ich ihm. Ich riskierte es einfach. Jedenfalls verstummte das Gesumme der Hummel oder Wespe in meinem Schädel, wenn ich seine Beteuerungen ernst nahm. Kofler mochte – was die Verwirklichung seiner Überzeugungen anbelangte – ein Narr sein, ein hoffnungsloser Idealist.

Doch wenn es überhaupt ein Gefühl oder eine Intuition dafür gab, ob jemand die Wahrheit sprach, dann war ich jetzt bereit, ihm diese Ehrlichkeit zuzubilligen.

Entscheidend blieb aber, dass es sich um einen jener Fälle handelte, die sich nicht vor Gericht verhandeln ließen – dazu waren die Beweise zu mager. Deshalb würde F. weiterhin auf einen Schuldspruch drängen.

Anscheinend war sich Kofler der Aussichtslosigkeit seiner Pläne sogar bewusst! Er erzählte mir von seinen beiden Töchtern – und dass sie ihn nicht verstanden.

»Nicht einmal sie – «‚ bemerkte er mit trübsinniger Miene. In ihren Briefen aus dem Gefängnis hatten sie ihn gebeten, »den Sturz des Regimes mit unnachgiebiger Härte« zu betreiben. »Sie wollen in mir den Helden sehen!« klagte er. »Natürlich war man amüsiert, als man ihre Post öffnete. Selbst die Behörden sehen in mir keinen Umstürzler – allenfalls einen Kollaborateur mit dem Klassenfeind. Vermutlich aber nur einen harmlosen Intellektuellen, der mehr Anhänger im Westen als im Osten besitzt.

Dass ich mich in der Bundesrepublik von allen Organisationen fernhalten werde, die in meinem Namen Veränderung – oft gewaltsame Veränderung – predigen, halten sie schlichtweg für ein Täuschungsmanöver.«

»Sie wollen auf die Möglichkeit verzichten, über solche Kreise Einfluss zu nehmen?«

»Ja. Ich werde mich zurückziehen, um an meinem Buch zu arbeiten – das Heil liegt nicht in politischen Parteien, vor allem nicht in einer Bewegung aus Wirrköpfen.«

Ich war schon ein wenig unsicher auf den Beinen, als ich mich erhob, um eine neue Flasche zu besorgen. Umständlich zog ich den Stuhl zurück.

»Sie müssen mir glauben …«‚ bat er plötzlich und umfasste mit beiden Händen meine Rechte. Seine Fingerspitzen zitterten leicht. Während ich nickte und einen unsicheren Schritt in den Raum setzte, entglitt ihm die Hand.

Schon an der Tür, wandte ich mich um und betrachtete seine vorgebeugte, zusammengekauerte Gestalt, die an den Riesen in der Dachsilhouette erinnerte.

»Es ist gerade das Vertrauen, das uns fehlt«, sagte er mit gesenktem Kopf.

Der Satz lief mir im Raum nach, und als ich die Klinke drückte, überholte er mich von hinten wie eine düstere Wolke aus Gewissheit und Überzeugung, von der ich ohnehin schon eingenebelt war – düster, weil die Konsequenzen düster waren. Seit ich das Ampheton nahm, vertrug ich nicht mehr allzu viel; doch um zuerkennen, dass man mich in diesem Job nicht für Vertrauen bezahlte, reichte das bisschen alkoholisierter Verstand allemal.

Ich eckte am Tisch an und ging ohne mich umzublicken zur Tür des anderen Zimmers, bis mir einfiel, dass die Flasche Riesling die letzte gewesen war und sich im Schrank außer Zwieback und schimmeligem Brot nur noch ein Glas Gurken befand. Als ich Kruschinsky mein Gesicht zuwandte, sah ich, dass er mich wie einen Schlafwandler oder ein Wesen aus einer anderen Welt anstarrte (wie die Geliebte, die sich als Gewohnheitstrinkerin entpuppt). Er hatte mich noch nicht blau gesehen.

»Besorgen Sie für Leo und mich noch zwei Flaschen Riesling … irgendwo an der Trinkhalle. Sie werden schon eine finden, die geöffnet ist. Und bringen Sie sich selbst ein leeres Glas mit.«

»Beabsichtigen Sie da drinnen ein Besäufnis zu veranstalten?«, fragte er mürrisch (vermutlich, weil er sich noch gut daran erinnerte, dass ich ihn wegen seines »hageren Pickelgesichts« von Koflers angeblich empfindsamer Ästhetenseele hatte fernhalten wollen).

Ich griff in die Jackentasche und drückte ihm einen zerknüllten Fünfzig-Mark-Schein in die Hand, wobei mir die Nachricht aus dem L.D.A. zwischen die Finger geriet. Als Kruschinsky im Fahrstuhl war, hielt ich den Zettel dicht vor die Augen, denn meine Hand zitterte, zitterte wie Koflers Fingerspitzen. Ich hatte Mühe, den schwimmenden Buchstaben zu folgen. Der Text kündigte an, dass ein Kurier aus Ost-Berlin mit neuen Nachrichten herüberkommen würde.

Was mich schon beim ersten Lesen stutzig gemacht hatte, war, dass man dafür einen Kurier benötigte …

Ich trat ans Fenster und sah hinunter. Das Licht innerhalb der Grenzbefestigungen erschien so bühnenhaft unwirklich wie immer; von den Masten der Bogenlampen ausgehend, beleuchtete es scharf und abgezirkelt den Todesstreifen bis hin zu den beiden Reihen Stacheldrahtzaun, zwischen denen sich eine vierfache Barriere aus spanischen Reitern erstreckte.

Das Gelände dahinter war unbeleuchtet. Erst ein gutes Stück weiter – jenseits der wie düstere Mahnmale aufragenden Fabrikgemäuer und leerstehenden Wohnhäuser – zeigte sich Licht in einzelnen Fenstern, wie kleine Inseln der Wärme.

Mit dem Nachtglas suchte ich die Hauswand in der Roßstraße ab. Eine schmale Straße, fast eine Gasse, zog diagonal und schwach beleuchtet, aber völlig menschenleer, durch mein Gesichtsfeld. Zwischen den Dachausschnitten und Hauswänden war der Gehsteig zu erkennen. Der Hauseingang lag im Schatten. Ich presste das Glas gegen die Scheibe, um nicht zu wackeln.