Kalter Krieg im Spiegel

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Was Ihre Handlungsweise von einem gewöhnlichen Richterspruch unterscheiden würde, wäre nicht die Schuld und deren Folgen, sondern vor allem die Norm, die wir zur Erkennbarkeit der Schuld gesetzt haben.

Sie persönlich sind völlig überzeugt«, fuhr ich fort. »Aber es gibt keinerlei Beweise im Sinne der Gerichte …

Es ist Ihre Erkenntnis, ganz allein Ihre Einsicht, und sie ergibt sich aus scheinbar belanglosen Zufällen, Winzigkeiten, achtlos hingeworfenen Bemerkungen, aus dem Mienenspiel und jenen nur erfühlbaren Gesten, die uns größere Gewissheit verschaffen als irgendein Beweis vor Gericht.

Es ist die Gewissheit der Ehefrau, betrogen worden zu sein, noch ehe ihr Mann in flagranti ertappt wurde, die Überzeugung der Mutter, dass ihr Kind lügt, lange bevor sie den eigentlichen Anlas der Lüge entdeckt hat –wäre das ein zwingender Grund für Sie, das äußerste Mittel zu rechtfertigen?«

Barbara schien nicht zugehört zu haben. Ich folgte ihrem Blick, der noch bei dem blauschwarzen Himmel und der Silhouette der Häuserdächer verweilte.

»Es ist ein liegender Riese«, meinte sie nachdenklich. – »Was sagen Sie? Ein zwingender Grund? Nein, es gibt immer eine Wahlmöglichkeit.«

»Ich denke, das ist eine faule Alternative, ein philosophisches Hirngespinst. Nicht auf Wahlfreiheit kommt es an«, erklärte ich mit Nachdruck, »sondern auf Leiden und Glück. Gegenüber dem

Schmerz und dem Leiden überhaupt ist das Prinzip der Wahl völlig indifferent, es ist kalt und abstrakt …

»Übrigens läßt sich aus den Konturen der Dächer am Abendhimmel das Schicksal bestimmen«, sagte sie. »Sicherer als aus der Stellung der Gestirne. Astrologie ist Unfug.

Dieser Riese zum Beispiel«, sie legte ihren Kopf schief, » – es bedeutet, dass ein großer Mann zwischen uns steht. Ja, er ist von großer Statur. Und man kann noch mehr über ihn sagen. Seine Nasenspitze weist nach Osten, das heißt, er stammt aus Polen, vielleicht auch aus der DDR.«

Ich musterte sie ungläubig.

»Aber das Ungewöhnlichste ist – « Sie hielt inne. »Sehen Sie den Dachbogen hinter seinem Kopf? Woran erinnert Sie das?«

Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm und betrachtete die Konturen der Dächer. Tatsächlich konnte man mit einiger Phantasie darin eine große, kauernde Gestalt erkennen, einen Mann, wenn man so wollte. Der hellere Bogen über seinem Haupt erinnerte an einen Kranz.

»Sieht aus wie ein Heiligenschein.«

»Richtig. Phantastisch, dass Sie das sofort erkannt haben. Sie sind ein Medium!«

»Medium – wo haben Sie bloß diesen Unfug her?» fragte ich.

»Das Schattenlesen? Von meiner Zimmerwirtin. Es ist kein Unsinn, sie hat damit den Tod ihres Mannes und die Krankheit ihres Sohnes vorausgesagt.«

»Erklären Sie mir, warum es nicht der Häuserblock gegenüber ist?«

»Es ist der, auf den Sie zuerst kommen, den Sie als erstes wahrnehmen, wen Sie sich umschauen.«

»Und er steht also zwischen uns – der Mann mit dem Heiligen-

schein?«

Sie nickte heftig, fast kindlich überzeugt, als sei das alles so klar wie Klärchen für sie. Vermutlich hätte sie noch jede Menge beliebige Einzelheiten über die künftigen Konflikte unserer Beziehung aus den Schatten herausgelesen, wenn sie sich nur dazu eigneten, mich loszuwerden …

»Er trennt das dunkle männliche und das helle weibliche Prinzip, weil sein Arm nach unten zeigt.«

»Es ist nur der Ast einer Pappel«, widersprach ich.

Plötzlich kam Barbara in den Sinn, dass bald der letzte Bus ins Zentrum fahren würde und man in dieser Gegend manchmal stundenlang vergeblich wegen einer Taxe telefonierte.

Immerhin gelang es mir, ihre Adresse zu erfahren – mit der Drohung, ich würde sie mir sonst aus der Personalabteilung beschaffen. Mein Versuch dagegen, den Schattenriss der Hausdächer im Westen als Amors Bogen zu deuten, ging völlig in die Hose.

»Ich bringe Sie jetzt zur Haltestelle«, meinte sie und hakte sich bei mir ein.

Das Ampheton hatte eine merkwürdige Nebenwirkung: Es verursachte »vernünftige« Träume. Ich träumte, dass ich Kruschinsky unbedingt anweisen musste, die Birnchen unter dem Tipptastenfeld der Fahrstuhlbedienung auszuwechseln und einen neuen Kode einzugeben. Und dass ich mich längst um F.s Notizbuch hätte kümmern sollen (selbst wenn es vielleicht nicht viel zu bedeuten hatte, dass mein Name über dem Kodetext stand, war es vernünftiger, sich darüber Klarheit zu verschaffen). Dann fielen mir die Fragen ein, die ich Kofler stellen würde, und ob es ihm gelang, für alle Verdachtsmomente eine plausible Erklärung zu finden.

Ich würde mich mit Koflers ins Englische übersetztem Buch beschäftigen, das mir Kruschinsky besorgt hatte, um herauszufinden, was F. neben Koflers Schuld offenkundig am meisten interessierte: welche Ideologie er vertrat. Oder anders ausgedrückt: mit welchen Schachzügen sie seine ungeheuere Popularität im Westen bewirkt hatten. Denn erstaunlicherweise war sie hier größer als im eigenen Land. Bei alledem blieb die Frage offen, was das Linkshänderfoto zu bedeuten hatte.

Ich zermarterte mir das Hirn und erwachte darüber …

… und als ich das linke Bein aus dem Bett setzte, stieß mein Fuß auf das aufgeschlagene Exemplar von William Smith‘s Oden an den Herbst …

Ich konnte mich nicht erinnern, vor dem Einschlafen darin gelesen zu haben.

Dann fiel mir ein, dass es mich daran erinnern sollte, F. wegen des Kerls vor der Bäckerei anzurufen. Ich wusch mich über dem Becken, rasierte mir den zwei Tage alten Bart ab und spreizte den Mund, um meine Zähne zu betrachten. Ich befühlte die Schneidezähne zwischen Daumen und Zeigefinger: Sie hatten sich nicht weiter gelockert. Das Ampheton ersetzte auch die Zange des Zahnarztes – auf eine Weise, die vermutlich weder seine Erfinder noch die Betroffenen je durchschauen würden, führte es zu Zahnfleischschwund, allerdings nur, wenn man es über einen längeren Zeitraum einnahm.

Bevor ich hinüberging, strich ich meinen Namen in F.s Notizbuch mit einem Filzschreiber durch.

Kruschinsky lehnte am Fenster und las die Morgenzeitung.

»Können Sie das dechiffrieren?«, fragte ich und reichte ihm das Heft. »Sie verstehen doch was davon.«

Er warf einen Blick auf den Kode aus Buchstaben und Zahlen. »Lassen Sie mir eine halbe Stunde Zeit.«

Ich nickte, dann klopfte ich an Koflers Tür.

Er saß angezogen auf der Bettkante, über ein paar Papiere gebeugt. Der Rest des Manuskripts lag malerisch verstreut auf dem Bett, dem Tisch und dem Boden vor seinen Füßen.

»Sie sind spät dran – später als sonst«, meinte er aufblickend. »Ich hatte gestern Abend Gelegenheit, mich etwas länger mit Ihrem Kollegen zu unterhalten. Er ist ein bemerkenswert klares Beispiel der Indifferenz, die für Ihre Generation kennzeichnend ist: den Kopf voller Widersprüche. Umweltbelastungen, Wettrüsten, Klassenunterschiede, zunehmende Gewalttätigkeit und Hungersnöte in der Welt machen ihm zwar verbal zu schaffen, aber in Wirklichkeit scheint er doch nichts Eiligeres im Sinn zu haben, als zu seiner Freundin zurückzukehren, die irgendwo in Norddeutschland lebt.«

»Ach«, sagte ich mit gespielter Überraschung, »davon wusste ich nichts.«

»Heißt das, Ihre Mitarbeiter werden vor der Einstellung nicht überprüft?«

»Und Ihr Konzept – wie sieht es aus?«, erkundigte ich mich, als hätte ich nicht verstanden. »Was ist das Geheimnis Ihres Erfolges? Die Ziele der Gewerkschaftsbewegung halten Sie nicht für ausreichend, den orthodoxen Marxismus-Leninismus lehnen Sie angeblich ab – den Kapitalismus ebenso.

Als Sie im Westen noch weniger bekannt waren, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Französische Journalisten suchten Sie wegen eines Interviews auf. Die polnische Führung erhielt jedoch einen Wink aus Moskau, und man stellte Sie vor die Alternative, das Gespräch abzusagen, oder Ihre Frau, die zu jener Zeit in einem russischen Gefängnis einsaß und so krank war, dass man ihre Überführung in eine Leningrader Spezialklinik erwog, würde auf die Behandlung verzichten und sich mit dem Gefängniskrankenhaus bescheiden müssen.

Ihre Reaktion war ungewöhnlich – Sie entschieden sich für das Interview! Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung«, sagte ich. »Die Fernsehsendung machte Sie im Westen mit einem Schlage bekannt. Es war ein großangelegtes Porträt, auf das Sie nicht verzichten wollten. Französische Kommunisten feierten Sie danach – ein wenig zu überschwänglich – als den größten marxistischen Kopf der Gegenwart. Währenddessen starb Ihre Frau im Gefängnishospital …«

Kofler wirkte wie erstarrt. Der Stapel Manuskriptseiten auf seinen Knien zitterte leicht.

»Halten Sie das wirklich für eine plausible Erklärung?«, fragte er blass. »Glauben Sie ernsthaft, ich hätte meine Frau für ein Fernsehinterview geopfert?«

»Wir nehmen an, hier wusste die Linke nicht was die Rechte tat. Die Behörden hielten Sie für einen gefährlichen Dissidenten – der KGB dagegen setzte alles daran, Sie als einen solchen aufzubauen! Das Interview im französischen Fernsehen war sorgfältig vorbereitet. Es bedeutete für Sie den eigentlichen Durchbruch. Außerdem hatten sich die Beziehungen zu Ihrer Frau verschlechtert, seitdem sie – in gutem Glauben an Ihr Einverständnis – Teile eines Manuskriptes über Freunde in den Westen geleitet hatte.

Sie selbst befanden sich damals auf einer Ungarn-Reise. Es hatte eine Hausdurchsuchung gegeben, doch diese Papiere waren von Ihrer Frau rechtzeitig beiseite geschafft worden.

Was war nun so Bemerkenswertes daran? Es handelte sich um eine Studie über die Effektivität der kommunistischen Parteien im Westen. Sie hieß Neue Wege und behandelte in dreizehn Thesen die Unterwanderung der westlichen Parteien durch kommunistisches Gedankengut. Eine dieser Thesen lautete:

 

‘Wegen des westlichen Materialismus, der Versklavung des Menschen durch den Konsum, kann nicht mehr mit dem Erfolg revolutionärer Strömungen gerechnet werden; der Kommunismus muss sich vielmehr der Wolf-im-Schafspelz-Taktik bedienen und das kapitalistische System von innen heraus – über jeweils augenscheinliche Missstände – an seinen Schwachpunkten angreifen, um eine so formierte große Volksbewegung im entscheidenden Augenblick in seinem Sinne zu beeinflussen.’

These sieben lautete: ‚Selbst terroristische Aktivitäten sind zu unterstützen, weil durch sie ein revolutionäres Potential geschaffen wird.’

Es war die Absicht Ihrer Frau, Sie im Osten – was für ein grandioses Missverständnis! – mit dem Beweis Ihrer orthodoxen Haltung zu entlasten. Doch zu jener Zeit konnten Sie daran gar nicht mehr interessiert sein, denn Sie bereiteten sich auf eine völlig andere Aufgabe vor …«

»Eine Aufgabe? Ich verstehe nicht?«

»Ein Projekt, das der KGB und vermutlich waren auch Wholff und Achenbach vom Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit daran beteiligt – für Sie ausgearbeitet hatte.«

»Davon weiß ich nichts«, erklärte er lakonisch.

»Warum starb Ihre Frau dann in der Haft?«

Kofler schwieg. Er schien nachzudenken – aber es sah nicht aus, als sei er sehr erfolgreich damit …

»Was Sie über das Ultimatum der polnischen Behörden sagen, ist zutreffend«, lenkte er ein. »Es gab diese Drohung. Als man sie inhaftierte, legte man ihr ein Papier vor, sich von mir scheiden zu lassen und ihren alten Namen Warwara Alexandrowna anzunehmen – sozusagen als ein Zeichen der Distanzierung. Am Tage vor dem Interview, als ich noch zögerte, rief mich das Mitglied einer Organisation aus der Schweiz an, die sich für politische Gefangene einsetzt, und teilte mir mit, dass meine Frau in die Spezialklinik eingeliefert worden sei.

Erst später stellte sich heraus, dass es eine Namensverwechslung war. Es handelte sich um eine andere Alexandrowna. Ich glaubte, sie hätten aus humanitären Gründen und weil die Operation drängte, darauf verzichtet, ihre Drohung wahr zu machen – zumal es ohnehin ohne den Anruf der Schweizer Organisation keine Möglichkeit für mich gegeben hätte, von der Verlegung zu erfahren: es bestand ein Einreiseverbot in die Sowjetunion.«

»Gut«, sagte ich. »Nehmen wir für den Augenblick an, diese Version sei wahr. Wie erklären Sie den Widerspruch zwischen dem, was Sie als Ihre gegenwärtige Auffassung ausgeben und den Papieren, die nach dem Tode Ihrer Frau von einem Anwalt in Frankreich veröffentlicht wurden?«

Kofler schwieg und kratze sich am Kopf. Fast tat er mir ein wenig leid in der schwierigen Rolle eines Mannes, der jedes Wort auf die Goldwaage legen musste.

»Kann ich rauchen?«, fragte er dann. Es klang nervös.

Ich suchte nach der Zigarettenpackung, die ich noch vom Abend vorher in der Jackentasche hatte, und bot ihm eine daraus an.

»Eigentlich hatte ich das Rauchen aufgegeben«, meinte er und lächelte ein wenig hilflos. »Schon vor drei, vier Jahren. – Die Papiere des Anwalts sind ein Text, den ich mit vierzehn Jahren verfasste, noch als Schüler – nicht recht ernst zu nehmen. Damals glaubte ich, was man mir über den Marxismus sagte, und dachte über seine Zukunft in den westlichen Ländern nach. Ich kam zu dem Schluss, dass man den Westen zu seinem Glück zwingen musste. Notfalls auch ohne die etablierten kommunistischen Parteien. Für mich selbst nannte ich es Die Strategie des Trojanischen Pferds

»Sie haben auf alles eine Antwort, nicht wahr?«, fragte ich scharf. »Aber von den Leuten, die Sie instruierten, wurde etwas Wichtiges übersehen.«

»Wieso instruierten? Das wäre?«, erkundigte er sich.

»Der Text, den der Anwalt Ihrer Frau in Frankreich publizierte, war kein Manuskript aus Ihrer Schulzeit. Es war auf einer modernen elektrischen Kugelkopfschreibmaschine getippt.«

»Völlig richtig«, bestätigte Kofler. »Ein japanisches Modell, es wurde mir von einem guten Freund über die ungarische Botschaft besorgt – dieselbe Maschine, mit der ich in der letzten Zeit alle meine Manuskripte getippt habe. Und die Erklärung dafür ist recht einfach« – er hob die Papiere, die auf seinem Schoß lagen –, »es handelt sich um eine neue Arbeit. Ich griff darin auf Überlegungen aus meiner Schulzeit zurück und stellte sie meinen gegenwärtigen Auffassungen von der Wahlfreiheit des Individuums, der unbedingten Priorität des Willens zum Guten, der übrigens immer auch Handlung impliziert, und der Verzichtbarkeit auf Ideologien gegenüber …

Es war der Versuch, Schritt für Schritt den Entwicklungsgang meiner Gedanken darzulegen. Selbstverständlich sollte diese Arbeit auch längst überholte Auffassungen enthalten, vor allen Dingen aber eine Darstellung der Verführungskraft, die der Marxismus in meiner Jugend auf mich ausgeübt hatte. Es war ein verstümmelter Text, ein halbfertiges Manuskript, aus dem Zusammenhang gerissen und ohne Anfang und Ende. So musste im Westen der Eindruck entstehen, meine Strategie sei eine völlig andere.

Was heutzutage in Zirkeln und Gruppen unter meinem Namen kursiert, vor allem auch hier in der Bundesrepublik, scheint hauptsächlich auf den Einfluss dieses Fragments zurückzugehen. Ich glaube, es ist der eigentliche Grund für die Fehlinterpretation, der meine Lehre im Westen ausgesetzt ist. Meine Töchter haben sich bemüht, das Missverständnis durch die Veröffentlichung der fehlenden Manuskriptteile – ich musste sie aus dem Gedächtnis rekonstruieren – zu beseitigen. Ohne Erfolg. Bei der Ausreise nahm man sie fest und beschlagnahmte die Papiere.

Als ich entdeckte, dass es sich in der Klinik gar nicht um meine Frau handelte, wandte ich mich sofort an die Behörden. Ich war bereit, alle Bedingungen zu erfüllen. Ich bot ihnen an, auf meine Professur zu verzichten, ich bot ihnen ein politisches Schweigegelöbnis an. Ich schrieb sogar an die Sowjetführung – doch durch meinen Brief schien man dort überhaupt erst auf mich aufmerksam zu werden.

Wenig später wurde mir mitgeteilt, dass die polnische Regierung meine Ausweisung erwogen habe. Die Verlegung meiner Frau in eine Spezialklinik aus ärztlichen Erwägungen sei nicht erforderlich.

Offenkundig benutzte man beides zunächst – die Krankheit meiner Frau und meine Ausweisung – als Mittel der Einschüchterung – ich glaube nicht, dass man wirklich mit ihrem Tod rechnete. Man wartete ab, welche Konsequenzen ich, nach dem Fernsehinterview aus ihren Warnungen ziehen würde. Sogar meine Professur konnte ich ungehindert weiterführen.

Was Sie über meine Mitarbeit bezüglich des KGB oder polnischer und ostdeutscher Stellen sagen, entbehrt jeder Grundlage. Ich weiß nicht, wie Sie zu diesem absurden Verdacht gelangt sind aber ich bitte Sie, mir zu vertrauen und mir zu glauben, dass ich weder vor meiner Ausweisung noch zu einem früheren Zeitpunkt mit solchen Institutionen zusammengearbeitet habe. Ich muss gestehen, dass mich diese Unterstellung tief erschüttert – weil sie meinen wirklichen Absichten so völlig zuwiderläuft …«

Er saß auf der Bettkante und schüttelte trübsinnig den Kopf, als habe man ihm bitteres Unrecht angetan.

Ich musterte ihn nachdenklich und hatte plötzlich den Eindruck, dass er die Wahrheit sagte …

»Ich würde Sie gern von der Unhaltbarkeit Ihrer Annahmen überzeugen«, meinte er grüblerisch.

»Niemand ist daran interessiert, Sie als Agenten zu denunzieren. Wir sind für jeden entlastenden Hinweis dankbar …«

»Es gibt einen Punkt, der mir mehr als fragwürdig erscheint. Wenn wirklich der KGB hinter alledem steckte, dann hätte doch eine Weisung von ihm genügt, meine Frau zu retten. Die Alternative Fernsehinterview oder Klinik wäre ganz überflüssig gewesen.«

»Ich sagte es schon – hier wusste die Linke nicht was die Rechte tat. Außerdem hätte eine Anweisung des KGB an die Behörden natürlich Verdacht erregen können, oder anders ausgedrückt, es hätte Ihrer Vita im Westen geschadet.«

»Und Sie glauben ernsthaft, diese vage Gefahr reichte für mich aus, meine Frau zu opfern?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat man Sie übers Ohr gehauen. Der Tod Ihrer Frau konnte dem KGB nicht ungelegen kommen. In den Augen der europäischen Öffentlichkeit verschaffte er Ihnen so etwas wie einen Quasi-Märtyrer-Status, denn Sie waren schließlich glücklich verheiratet. Die Hintergründe und der Zusammenhang mit dem Fernsehinterview waren nur wenigen Eingeweihten bekannt. Für das Ausland starb sie wegen ihrer politischen Überzeugungen. – Aber wir werden Ihre Geschichte natürlich überprüfen. Heute Nachmittag kommt ein Arzt, um Ihren Gebissabdruck zu nehmen …«

»Gebissabdruck?«, fragte er verständnislos.

»Silikonmasse, die man auf den Kiefer drückt. Es gelang uns, die Unterlagen aus Ihrer zahnärztlichen Behandlung zu beschaffen.«

»Sie wollen herausfinden, ob ich der echte Kofler bin? – Wegen des Fotos, verstehe. Das wird nicht nötig sein. Mir ist eingefallen, warum ich damals mit der linken Hand unterschrieb. Könnte ich das Foto noch einmal sehen?«

Er streckte die Hand aus.

Ich nahm es aus der Mappe und reichte es ihm.

»Es ist aufgenommen worden, als ich die Ernennungsurkunde an der Krakauer Universität gegenzeichnete – und ich unterschrieb mit links. Wichtig daran ist, dass ich an diesem Tage ein dunkles Hemd trug. Mein rechter Arm ist verdeckt. Nur ein winziges Stück – es sieht aus wie der Zipfel einer weißen Manschette – reicht über die Hüfte hinaus. Aber die Manschette kann unmöglich weiß sein, denn mein Hemd ist dunkelbraun. Ich trug ein beigefarbenes Sakko dazu.«

»Geben Sie her«, sagte ich und nahm ihm das Bild aus der Hand.

»Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich darauf gekommen bin! Damals trug ich den rechten Unterarm in Gips, ich hatte ihn mir bei einem Sturz von der Bibliotheksleiter angebrochen. Was Sie dort sehen, die weiße Ecke, ist keine Manschette, sondern ein Stück vom Gipsverband.«

»Wir werden das überprüfen«, sagte ich. »Sie wissen, dass es dafür Zeugen geben muss und dass so etwas in den Krankenunterlagen vermerkt wird?«

»Das hoffe ich«, bestätigte er.

Ich setzte mich in ein Café an der Franz-Künstler-Straße, von dessen Fenster aus man den Eingang der Zentrale beobachten konnte. Ich nahm an, dass Barbara für den regulären Dienst eingeteilt war und das Haus mit den anderen gegen vier verlassen würde. Zwischendurch blätterte ich in Koflers »What is to be done?«

Nach dem Erfolg der leinengebundenen Erstausgabe war eine preiswerte englische Taschenbuchausgabe herausgebracht worden, und Kruschinsky hatte mir ein Exemplar davon besorgt.

Im Anhang war eine Gegenüberstellung von Passagen aus der unautorisierten Übersetzung des Weißrussen Kremiew mit der neuen, korrigierten Fassung.

Danach betraf die Verfälschung, von der die Rede gewesen war, nur wenige Stellen. Ich versuchte über Kofler wesentliche Thesen Klarheit zu gewinnen …

Das Ganze schien weniger eine politische Theorie oder die Darstellung von wirtschaftlichen und soziologischen Zusammenhängen als vielmehr ein Elaborat philosophischer Überzeugungen zu sein. Anscheinend bestand es nur aus Trivialitäten. F.s Leute hatten dabei unfreiwillig ins Schwarze getroffen: er war tatsächlich ein »Messias« –wenn auch auf andere Weise, als sie glaubten (Barbaras kauernder Riese mit dem Heiligenschein fiel mir ein). Seine Grundthesen lauteten:

– Wir brauchen keine neuen Ideologien, was uns fehlt ist der Wille zum Guten.

– Es sei keine Schande, Fehler zu machen, wenn man die unbedingte Priorität des guten Willens anerkenne.

– Er sei keineswegs bloß deklamatorisch, denn echter Wille fordere Handlung (schließe sie ein).

– Der gute Wille unterstelle keine allgemeingültigen Werte, auch kein festumrissenes Wesen des Menschen, sondern sei eine an der Praxis orientierte und durch sie ständig korrigierbare »regulative Idee«.

– Nur durch ihn, durch den unbedingten und augenblicklichen Willen jedes Einzelnen, gebe es eine Rettung vor der Katastrophe.

– Es sei kein leichter, sondern ein steiniger Weg. Entscheidend sei unsere Ehrlichkeit.

Seine politischen Äußerungen erschienen mir daran gemessen etwas konturloser: Ein zukünftiges System als »Dritter Weg« sollte beide Produktionsweisen – die kommunistische wie die kapitalistische – akzeptieren, andernfalls sei es nicht demokratisch. Einseitige Abrüstung lehnte er ab, wie jeder halbwegs vernünftige Politiker vor ihm (der Wille zum Guten schließe den Willen zur Gewaltlosigkeit ein; es gehe weniger darum, ob man Waffen besitze, als ob man willens sei, sie zu gebrauchen). Zugleich war es ein Wille zu ständigem politischem und sozialem Engagement jedes Einzelnen.

 

Das Ende der Ausbeutung des Menschen wie des Planeten ergab sich dabei quasi von selbst. Seine »Demokratie« war – der Not gehorchend – eine Expertendemokratie.

Wegen der mangelnden Kompetenz der Massen, die auch bei bestem Willen nicht immer in der Lage sein würden, sich sachkundig zumachen, konnte sich das eigentliche demokratische Ideal nicht erfüllen.

Natürlich leuchtete das, was er über den guten Willen sagte, auch einem Drittklässler ein. Doch wie viel richteten solche Appelle gegen die Übermacht des bösen Willens und unseres natürlichen Egoismus aus?

Als ich an dieser Stelle der Lektüre angelangt war, hätte ich die Schwarte gleich in den nächsten Abfalleimer werfen wollen – wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, sie Barbara zu schenken …

In der Übersetzung Kremiews schloss der gute Wille das Opfer des Einzelnen für die Gesellschaft aus – was den Behörden im Osten ermöglicht hatte, seine Lehre als »reaktionären Subjektivismus« abzuqualifizieren.

In der korrigierten Fassung hoben sich der gute Wille des Einzelnen und der gute Wille der Gesellschaft, wenn sie miteinander konfrontiert wurden, auf gut dialektische Weise in der Synthese des Kompromisses auf (was immer das zu bedeuten hatte).

In Kremiews Übersetzung war der Marxismus-Leninismus ein »Auswuchs« – in der neuen Fassung dagegen eine »notwendige Übergangsphase«.

Der marxistischen Prognostizierbarkeit der Geschichte war bei Kremiew eine völlige Blindheit des Geschichtsablaufs gegenübergestellt; jetzt wurde ein gewisses Maß an Vorhersagbarkeit angenommen.

Vermutlich würde F. die beiden Fassungen als einen raffinierten Schachzug des KGB ansehen, der beides enthielt: eine Alibifunktion und zugleich die Möglichkeit für Kofler Anhänger, sich nach Gutdünken herauszusuchen, was sie glauben wollten.

Ihm schon jetzt mitzuteilen, dass mir Zweifel an Koflers Rolle gekommen waren, hielt ich für verfrüht. Ich würde ihm den Bericht über seine sogenannte »ideologische Position« kommentarlos zustellen.

Bevor ich das Café betrat, hatte ich F. aus einer Telefonzelle in der Nebenstraße angerufen. Er war ungeheuer verärgert gewesen.

»Was, zum Teufel, haben Sie dem Mädchen erzählt?«, brüllte er ins Telefon.

Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, von wem die Rede war. Sie war schwanger geworden und hatte abtreiben lassen. Der Kerl vor der Bäckerei hieß Wenzel und war ihr Freund. Und natürlich hatte sie ihm unser Tete-à-Tete gestanden, als ich nichts mehr von mir hören ließ.

Vermutlich hatte sie sich Hoffnungen über unsere Beziehung gemacht. Da ich für sie der Chef war, der allmächtige Chef, der mit ihr über Gehäkeltes, Erkenntnistheorie und Bölls Ansichten eines Clowns diskutiert hatte, war das kaum verwunderlich.

Gegenwärtig verhörten F.s Leute ihren Freund, um herauszufinden, wie er von der Adresse in der Luckauer Straße erfahren hatte. Bei all der Aufregung schien F. völlig vergessen zu haben, sich danach zu erkundigen, was ich dem neuen Mädchen »angetan« haben könnte. Würde sie womöglich auch schwanger? Ich hatte nicht die Absicht, ihm auf die Nase binden, dass seine Tochter für ihre Freundin eingesprungen war …

Doch mehr als das beschäftigte mich die Frage, wie sich einige andere Merkwürdigkeiten in Koflers Vergangenheit erklären ließen, wenn ich bei meiner augenblicklichen Vermutung blieb, dass er unschuldig war. Schließlich schien sie auf nicht viel mehr als auf einem gefühlsmäßigen Eindruck und der vertrauensvollen Art zu beruhen, mit der er mich darum gebeten hatte, ihm zu glauben.

Vor allem aber: Wer, wenn nicht Kofler, war der echte »rote Kakadu«, den der Leipziger Ring angekündigt hatte? Etwa Amrouche, der gehbehinderte Briefträger in Osnabrück? Oder ein dritter, noch unbekannter Mann, der unbemerkt von F.s Abschirmdienst die Grenze überquert hatte?

Und was würde geschehen, wenn ich F. gegenüber ernsthaft die These von Koflers Unschuld vertrat?

War sein Tod nicht längst beschlossene Sache?

Aber warum sollte man ihn töten, wenn er unschuldig war? Oder gab es Hintergründe, die ich nicht kannte, Motive völlig anderer Art? Zum Beispiel, weil er eine Gefahr für die regierenden Parteien darstellte, eine politische Kraft unabhängig von der Frage, ob der KGB oder das MfS ihn bezahlte?

Sicherlich eine seltsame Vorstellung, wenn man Koflers naiven Glauben an den guten Willen berücksichtigte (der natürlich vorgeschoben sein konnte). Doch man musste die Realitäten sehen: jene Bewegung, die sich nun einmal – ob nur ein Missverständnis seiner Anhänger oder nicht – um ihn gebildet hatte.

Nicht wer er war, sondern für wen man ihn hielt, entschied über seinen Tod.

Mir wurde übel bei dem Gedanken. Auf ähnliche Weise war auch Pysik ums Leben gekommen…

Ich ahnte, dass es Fragen waren, die ich nicht lösen würde. Schon weil die Lösbarkeit aller Fragen ein Mythos ist. Die Realität ist ein Nebel, ein Dunst aus Vagheiten, Ahnungen und Vermutungen. Und eine Tat, für die man Zeugen hat oder ein Täter, der gesteht, ändern an dieser Ungewissheit wenig, denn Zeugen sagen falsch aus und Wirrköpfe belasten sich mit Verbrechen, um sich interessant zu machen.

Ich hatte das Gefühl, dass ich mich entscheiden musste – entscheiden aufgrund genau der gleichen Intuitionen und Unwägbarkeiten, die zum Tode von Koflers Vorgängern geführt hatten. Denn auch das Umgekehrte galt: Gefühl und Intuition – jenseits aller Beweise, die vor Gericht taugten – entschieden über sein Leben.

Sofort hatte ich wieder das Bedürfnis, diesen Schwierigkeiten zu entfliehen. Ich tastete in der Jackentasche nach dem Ampheton. Meine Fingerspitzen umspannten die Schachtel. Ich hörte das Knistern der Folie … und es beruhigte mich.

Der grüne Garten mit den Birnbäumen fiel mir ein, unter denen ich als Kind gelegen hatte. Eine unbeschwerte Zeit. So unwirklich wie die Gegenwart. Es war ein weitläufiger Garten mit abfallenden Wiesen, den meine Mutter meinem Vater abgerungen hatte, kurz bevor sie beide (geplatzter Vorderreifen) mit einem schwarzen Opel bei einhundertzwanzig km/h von der Landstraße abgekommen waren, die am Haus vorbei in die Stadt führte.

Eine alte Haushälterin, die schon zur Familie der Großeltern zählte, als meine Mutter noch unverheiratet war, übernahm meine Erziehung. Ich mochte sie nicht: Sie war streng, hatte ein Raubtiergesicht und trug tagaus, tagein denselben Lodenmantel (als werde sie schlecht bezahlt) und einen braunen Hut mit schwarzer Kordel über dem Haarknoten.

Eines Tages lag ich wieder unter den Birnbäumen im Garten und beobachtete, wie eine Frau im Lodenmantel mit genau ihrem krummen Hexenrücken – diesmal trug sie einen Strohhut über dem Haarknoten – und ein älterer beleibter Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, vorfuhren. Sie blickten sich um, als sie ausstiegen, sahen am Haus empor, dann zu den Wiesen hinunter, wo ich lag, und gingen hinein.

Die Tür war nur angelehnt. Das Auto war ein dunkler Kastenwagen, von dem die Farbe abblätterte. Ich nahm an, dass der alte Kerl ihr Freund war und dass sie ihn mitgebracht hatte, um ihm mit der gleichen Selbstherrlichkeit das Haus zu zeigen (als sei sie seine rechtmäßige Erbin), wie sie auch über mich verfügte, denn es gab niemanden mehr von der Familie, der es ihr verwehren konnte.

Zu meiner Überraschung kamen sie nach einer Weile heraus, halb verdeckt von zwei großen Gemälden, die sie – mit den Bildseiten nach innen – ins Auto trugen. Sie verschwanden damit auf Nimmerwiedersehen …

Nur unsere Haushälterin kehrte am Nachmittag zurück. Angeblich war sie gegen Morgen zum Einkaufen ins Dorf gegangen, und sie habe länger als gewöhnlich dazu gebraucht, weil es ihr wegen des schönen Wetters in den Sinn gekommen sei, um den See zu spazieren.