Kalter Krieg im Spiegel

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»Sie meinen die dialektisch-materialistische, wenn ich Sie recht verstehe?«

»Es gab Widersprüche, die nicht durch Schönheitskorrekturen zu beseitigen waren. Wissen Sie – «, er dachte nach und lächelte, »das Ganze ist im Grunde nichts weiter als eine Art romantische Welt- und Gesellschaftsschau, wonach es den Menschen in ein gottloses und feindlich gesinntes Universum verschlagen hat, das er nun wie Prometheus in ewiger Anstrengung und heroischem Trotz durch Arbeit und Revolution verwandeln soll – allein durch Erkenntnis und durch die Kraft seines Willens. Dabei handelt es sich weniger um Wissenschaft, als um säkularisierte Prophetie, eine atheistische Religion. Aber die wirklichen Widersprüche liegen natürlich tiefer.«

»Aus alledem entnehme ich, dass Sie …«

»…an Gott glauben? Vielleicht glaube ich eher an die Kraft des Guten.«

»Welcher Art sind diese – nun, ja, sagen wir mal tieferliegenden Widersprüche?«

»Die gesellschaftliche Entwicklung ist gesetzmäßig nicht bestimmbar. Zu viele nicht auf Regeln bestimmbare Faktoren. Eine Ordnung, eine naturgesetzliche Entwicklung vom qualitativ Schlechteren zu einem höherwertigen Gesellschaftszustand ist nirgends nachweisbar. Die Parteiendiktatur ist der Totengräber der sozialistischen Gesellschaft. Und das Menschenbild des dialektischen Materialismus ist eine lächerliche Simplifikation.«

»Damit gingen Sie auf offenen Konfrontationskurs?«

»Ja, zunächst einmal beschwor man mich, da ich ein Vertreter der moralischen Aspekte des Kommunismus sei, der sich für die Befreiung der unterdrückten Klassen einsetzte:

Abweichlertum und Skeptizismus könnten auf die Dauer keine Weltanschauung der Völker sein. Sie töteten die Kultur und verhinderten jeden Fortschritt. Ich erwiderte: Die Person sei nicht allein Produkt und Funktion der Gesellschaft. Sie sagten: Darüber könne man reden. Der Marxismus habe auch seine individuellen Seiten. Als sich zwei Zirkel an meiner Universität bildeten, bot man mir eine kleine Datscha und den Posten des Bürgermeisters in einem Dorf bei Starachowitze an, von Warschau und Krakau etwa gleich weit entfernt.«

»Man wollte Sie aufs Land abschieben?«

»Sie nannten es eine ‘zuvorkommende Regelung’«, nickte Kofler, »und deuteten an, ein solches Angebot zeuge durchaus vom Wohlwollen der Partei.«

»Wie kamen Sie zur Gewerkschaftsbewegung?«

»Obwohl ich mit ihren Gedanken sympathisierte, war nicht ich es, der den ersten Schritt unternahm. Man trat an mich heran. Ich wurde einer ihrer Berater. Aber nicht für sehr lange. Eines Tages warf man mir die Scheiben ein, verwüstete meinen Garten und zündete mein Auto an. Damals begriff ich, dass ich in ihren Augen zu weit gegangen war, und ich kehrte an die Universität zurück.«

»Sie übernahmen den Lehrstuhl für Sozialpsychologie.«

»Weil ich hoffte, man könne Ideen auch auf andere, weniger augenfällige Weise unters Volk bringen.«

»Und man ließ Sie lehren?«

»Ja … anfangs ließ man mich gewähren.«

»Gut, schließen wir dieses Thema für heute ab.« Ich nahm eine Fotografie aus der Mappe, die vor mir lag. »Gestern konnte ich beobachten, dass Sie Rechtshänder sind? Sie schrieben an Ihrem Buch.«

»Stimmt«, nickte er.

»Auf diesem Foto – es zeigt Sie, wie Sie Ihre Ernennungsurkunde an der Krakauer Universität gegenzeichnen – sind Sie Linkshänder.«

Kofler nahm das Blatt und betrachtete es. Für einen Agenten, der sich durchschaut fühlen musste, hatte er sich erstaunlich gut in der Gewalt. Immerhin schützte er Verblüffung vor. Er musterte die Aufnahme wieder und wieder und schüttelte den Kopf, schließlich nahm er seine dünne Drahtbrille heraus.

»Merkwürdig«, sagte er. »Das überrascht mich in der Tat. Die Aufnahme muss aber fünf Jahre alt sein.«

Es war deutlich zu sehen, dass er mit der linken Hand unterschrieb. Das Bild war von der linken Seite aufgenommen. Seine rechte Hand war verdeckt. Es gab eine Schrift im Hintergrund, die bewies, dass die Schwarzweißaufnahme nicht, wie man hätte argwöhnen können, spiegelverkehrt vom Negativ kopiert worden war.

»Haben Sie dafür eine Erklärung?«

»Ich bin etwas … überrascht«, erklärte er und hob den Kopf.

4

Ich fuhr hinunter in die Tiefgarage und verließ sie durch den Ausgang im Nachbarhaus. Dann ging ich über den Oranienplatz und ein Stück den Legiendamm entlang. Auf der rechten Seite lag die kleine Pension, in der Pysik sich erschossen hatte. Ich kannte das Haus und das Fenster. Sein Zimmer war in der zweiten Etage. Ein schlichter, glatter Nachkriegsbau. Ich blieb manchmal dort stehen und sah zu dem Fenster hinauf, und das nicht nur, wenn ich auf dem Weg zur Telefonzelle war.

Pysik hatte eine großkalibrige alte Schwarzpulverwaffe benutzt, ein Sammlermodell. Ich stellte mir vor, wie er auf der Bettkante saß, erst das Pulver hineinschüttete, dann die Bleikugel nachstopfte, das Zündhütchen aufsetzte und sich den Lauf in den Mund hielt …

Mit ihrem Knall hatte alles seinen Anfang genommen. Oder sollte ich es das Ende nennen?

Man war der Frage nachgegangen, wieso ein relativ mildes Urteil – er hatte zweieinhalb Jahre bekommen – und ein vergleichsweise harmloser Fall (nicht einmal ein Gewaltverbrechen) zum Selbstmord führen konnten. Pysik war Assistenzarzt in einem Westberliner Krankenhaus gewesen – und er hatte mir Valessa ausgespannt.

Zu jener Zeit trieb in den Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof ein Scheckbetrüger sein Unwesen. Er arbeitete mit verschiedenen Euro-Scheck-Karten und nachgedruckten Scheck-Formularen. Die Summe, um die er kleinere Geschäftsinhaber und Unternehmen geprellt hatte, ging in die halbe Million.

Es existierten gute Beschreibungen, aber der Täter sah – wie Pysik – von der Statur und vom Gesicht her unauffällig aus, er war eine Dutzenderscheinung. Außerdem wechselte er ständig Perücken, Brillen und Bärte. Eines Tages erhielt ich einen anonymen Anruf.

Die Stimme – eine Frauenstimme (womöglich eine eifersüchtige Freundin) sagte:

»In Doktor Pysiks Wohnung finden Sie Hinweise auf den Scheckbetrüger von Kreuzberg, Scheckkarten und dergleichen.«

Ich ließ Pysik zunächst beschatten, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Doch er musste den Braten gerochen haben: vom selben Tage an hörten die Scheckbetrügereien auf.

Pysik hatte sich zu der Zeit krank gemeldet, er verließ das Haus nur noch, um Valessa zu treffen. Ich muss gestehen, dass der Verdacht mir nicht ungelegen kam. Wen lässt es schon gleichgültig, wenn ein Rivale plötzlich tatverdächtig ist?

Doch nicht im Traum hätte ich daran gedacht, daraus Profit zu schlagen!

Er hatte Valessa teure Geschenke gemacht. Er fuhr ein weißes Mercedes-Kabriolett. Wir hatten festgestellt, dass ein weißer Mercedes auffallend oft am Tatort beobachtet worden war, nicht vor der Geschäftstür, aber in Seitenstraßen und auf Parkplätzen. Daraufhin ließ ich Pysiks Wohnung durchsuchen.

Es war ein voller Erfolg. Wir fanden Scheckkarten, Blankoschecks und eine Nummern-Druckmaschine, jedoch weder Geld noch Waren. Pysik musste sich ein Lager und ein Geheimkonto eingerichtet haben.

Er gab es auch vor Gericht nicht preis, sondern leugnete seine Schuld bis zuletzt. Eine Gegenüberstellung ergab wegen der Verkleidungen des Täters keine eindeutige Gewissheit. Mir genügten die übrigen Indizien zur Anklageerhebung. In der kurzen Zeitspanne zwischen der Urteilsverkündung und dem Haftantritt beging Pysik Selbstmord. Als Arzt war er ruiniert, als Mensch offenbar tief verstört.

Und dann brach plötzlich ein Presserummel über mich herein, der seinesgleichen suchte: Der Scheckbetrüger hatte seine Arbeit fortgesetzt! Reporter gingen den Einzelheiten der Beweisaufnahme nach.

Sie entdeckten, dass ich es – zugegeben: im Eifer des Gefechts und in einer gewissen Voreingenommenheit gegen Pysik – versäumt hatte, Schichtpläne des Assistenzarztes mit weit zurückliegenden Auftritten des Scheckbetrügers zu vergleichen. Die Zeiten stimmten nicht überein. Selbst die Verteidigung hatte das übersehen.

Zu allem Überfluss fand man heraus, dass die Nummern der Schecks nicht mit Pysiks Nummern-Druckmaschine hergestellt worden waren. Sie besaß zwar die gleiche Schrifttype, aber eine Vergrößerung der Druckbilder ergab Unterschiede. Wegen des Verdachtes der Voreingenommenheit aus persönlichen Motiven und schweren Versäumnissen enthob man mich meines Amtes.

Der Verdacht – wenn auch unausgesprochen – ich hätte das Belastungsmaterial aus Eifersucht selbst in Pysiks Wohnung geschmuggelt, stand wie ein Monolith zwischen mir und meiner Zukunft.

Damals begann ich zu trinken. Ich trieb mich auf den Großmärkten herum und ernährte mich von Abfällen, als ich meine Wohnung nicht mehr bezahlen konnte. Ich landete in der Gosse. Es war eine schreckliche Zeit (doch ich habe dort einige der bemerkenswertesten Menschen kennengelernt). Valessa verließ mich endgültig wegen dieses Türken: sie war von meiner Schuld überzeugt …

Ich wählte F.s Nummer. Sie lief über den Zwischenanschluss in einer Rechtsanwaltspraxis. Er hob sofort ab.

»Es ist etwas Merkwürdiges passiert«, sagte ich. »Ein Stromausfall gestern Abend an der Grenze. Als das Licht wieder da war, fuhr ein grüner Kastenwagen ab – könnte ein Messwagen gewesen sein.«

»Wir überprüfen das bereits«, sagte er. »Keine Sorge. Wie steht‘s mit Kofler? Er ist schuldig, oder?«

»Ich denke schon.«

»Ja oder nein?«

»Lassen Sie mir noch etwas Zeit. Es spricht vieles dafür. Momentan bin ich nicht gut zurecht. Wenn ich an der verdammten Pension vorüberkomme …«

 

»Befallen Sie Zweifel. Gebranntes Kind scheut das Feuer«, lachte er und verschluckte sich leicht (vermutlich an den Gummibärchen, die er ständig vertilgte). »Gehen Sie durch eine Nebenstraße. Nehmen Sie eine andere Telefonzelle. Sie sind doch kein Psychopath, der magisch vom Ort seines letzten Verbrechens angezogen wird«, dröhnte seine Stimme durch die Leitung.

Ich war wütend und wollte den Hörer in die Gabel knallen.

Er schien meine Gedanken zu erraten. »Legen Sie nicht auf«, sagte er. »Das eben war geschmacklos von mir. Tut mir leid. Buchen Sie‘s unter Verluste …

Also: Ich gebe Ihnen eine Woche, in aller Ruhe, um jeden Zweifel auszuräumen. Er ist schuldig, und Sie bestätigen es durch eine lückenlose Beweiskette. Sie sind kein Henker, Sie fällen auch kein Todesurteil.

Alles, was Sie tun, ist, ein paar verborgene Zusammenhänge zu rekonstruieren. Sie haben einen Fehler gemacht und sind empfindlich geworden, sensibel. Ich kann das verstehen. Im Grunde ist es mir recht. Wir sind nicht auf Unschuldige aus.«

Er hatte eine seelsorgerische Ader, die mir manchmal auf die Nerven ging.

»Spannen Sie einen Tag aus«, fuhr er fort, »und gehen Sie nicht wieder über den Legiendamm. Pysik ist tot. Es stand ihm frei, seine Lösung zu wählen. Wir haben sogar die verdammte moralische Pflicht, sie ihm zuzugestehen, das ist meine unmaßgebliche Meinung.

Wenn er nicht frei war, wenn Sie und ich und all die anderen nur Marionetten an den Fäden des großen alten Puppenspielers da oben sind, dann ist es ohnehin müßig, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. Ich besorge Ihnen ein Mädchen. Sie treffen es morgen Abend in – schreiben Sie mit …?«

»Ja, zum Teufel …«

»Krampnitzer Weg, Ecke Grimmelshausen. Es liegt unten in Kladow. Im Eckhaus ist eine Gaststätte.«

»Warum so weit aus dem Zentrum?«, fragte ich.

»Weil sie dort wohnt. Erwarten Sie etwa, dass sie zu Ihnen heraufkommt?«

»Nein, ich …«

»Pünktlich um sieben. Sie wird an einem Fenstertisch links vom Eingang sitzen. Ein Dummerchen, aber hübsch. Fällt auf unter den Kladowern«, lachte er. »Spazieren Sie mit ihr über die Pfaueninsel, wenn Ihnen nicht besseres einfällt. Das Wetter ist ja noch danach. Ach, übrigens, ich habe Ihre Bezüge erhöhen lassen. Machen Sie ihr ein hübsches Abschiedsgeschenk. Aber nicht so, dass sie sich wie eine Nutte vorkommt. Etwas Taktgefühl, wenn ich bitten darf. Und berichten Sie mir gelegentlich, wie es war. – Sonst noch was?«

Ich verschwieg, dass ich sein Notizbuch gefunden hatte.

»Sind Sie noch dran?«, polterte er mit lauter Stimme. Ich entfernte den Hörer ein Stück von meinem Ohr.

»Ja, aber wenn ich Sie reden höre, kommen mir Zweifel – vielleicht ist alles doch nur ein Albtraum …«

»Bin ein Scheusal, stimmt‘s? Rau, aber herzlich. Auf mich können Sie rechnen. Würde Sie persönlich aus dem Todesstreifen retten, wenn Sie sich im Stacheldraht verheddert hätten. Aber Sie legen‘s ja wohl kaum darauf an, die Seiten zu wechseln, oder? Und vergessen Sie nicht – wir waren es, die Sie aus der Gosse geholt haben. Keiner von Ihren sogenannten Freunden. Ihr Mädchen hat Sie wegen dieses Türken verlassen. Ohne uns würden Sie jetzt mit einer Rotweinflasche im Arm unter den Großmarktständen liegen …«

Nach dieser Unverschämtheit legte ich auf …

Draußen vor der Telefonzelle hatte ich mit einem Male das Gefühl, nicht zurückgehen zu müssen.

Ich bog in die Bergfriedstraße ein. Ein Mädchen mit langen Haaren und einem safrangelben Kattunkleid fütterte von ihrem Fenster aus Tauben auf dem Garagendach; einige Körner rollten herab, und die Tauben flatterten vor meine Füße.

Das Lächeln des Mädchens erinnerte mich an Valessa, sie war die Tochter eines im Rheinland stationierten englischen Offiziers und ihr Frohsinn hatte seine griesgrämige Soldatenart bei weitem aufgewogen. – Nicht wegen des Türken, dachte ich. Er war nur eine Gelegenheitsbekanntschaft und eine Chance, problemlos den Standort zu wechseln. Izmir oder Kairo – völlig gleichgültig. Sie hätte sich auch einem Hottentotten an den Hals geworfen. Nur weg aus dieser Stadt, weg von ihren Zweifeln, ihrem Misstrauen, ihrem schlechten Gewissen. (Als wenn ein paar tausend Kilometer daran etwas ändern könnten.) Ohne viel von dem Prozess gegen Pysik zu verstehen, hatte sie mit sicherem Instinkt erkannt, was der Grund für seine übereilte Verurteilung gewesen war.

Die Sonne schien, eine niedrig stehende Herbstsonne. Immer noch warm genug, um im Wannsee schwimmen zu gehen. Das Licht auf dem glatten gelben Verputz der Hauswände schien von einer Freiheit zu reden, die ich lange nicht verspürt hatte.

Was, zum Teufel, gingen mich F.s Probleme an?

Sicher: ohne ihn würde ich unter den Marktständen faule Äpfel sammeln. Ich hatte schon immer ein Faible für die für die Gosse und die unteren Gesellschaftsschichten besessen. Neben der Fähigkeit zu unbegrenzter Melancholie vielleicht meine bemerkenswerteste Eigenschaft, wie Valessa zu spötteln pflegte.

Es fiel mir leicht, mich in den Unrat zu Fischabfällen und leeren Obstkisten zu legen.

Meine Leber würde durch billigsten Alkohol verhärten, das Gesicht rotäderig und von der Sonne gegerbt werden, und womöglich würde ich dank meiner Bildung und der Fähigkeit, besser als sie mit Worten umzugehen, zu einem ihrer Anführer werden. Falls es so etwas unter diesen Leuten überhaupt gab? Ich glaube, bei ihnen hat die Hierarchie endlich ein Ende.

Und wenn ich nicht in die Wohnung zurückkehrte, mir irgendwo eine Reisetasche, eine Zahnbürste und ein paar andere Kleinigkeiten besorgte und verschwand? Es war, als braue sich etwas über mir zusammen, als könne ich ihm ausweichen, indem ich jetzt einfach geradeaus ging, immer weiter geradeaus.

Ich hatte noch ein wenig Geld auf dem Konto. Die Mädchen, die mir entgegenkamen, sahen hübsch aus. Etwas von einer beneidenswerten Ausgelassenheit und Unbekümmertheit war in der Art, wie sie gingen, den Arm um die Schultern einer Freundin legten oder mit der dicken Frau schwatzten, die im Hauseingang die Stufen wischte.

Ich dagegen erledigte für F. die Drecksarbeit, die moralische Drecksarbeit, ich bewahrte ihn vor den Anfechtungen seines schlechten Gewissens: ein »Spezialist« hatte schließlich über ihre Schuld befunden, ein Fachmann im Aufdecken dunkler Machenschaften. Er segnete die Todesurteile ab, die sie ohnehin längst beschlossen hatten. Aber konnte nicht noch mehr dahinterstecken?

Und während ich die sonnenüberflutete Straße überquerte, wurde mir plötzlich klar – zum ersten Mal klar seit zweieinhalb Jahren –, dass es noch einen weiteren Grund für meine Arbeit geben konnte:

Wenn sie es darauf anlegten, sich im Ernstfall der Verantwortung zu entziehen, würden sie mich womöglich als Verantwortlichen ausgeben …?

Dazu führte man mich einfach in jenen Unterlagen, die irgendwo über die Hierarchie der Organisation existieren mussten, als den maßgeblichen Mann. Dieser simple Trick erlaubte es zumindest, den größeren Teil der Schuld abzuwälzen.

Nicht ich hatte von F. die Anweisungen bekommen, sondern er sie von mir!

Es gab schließlich genügend Untersuchungsberichte, die meine Arbeit bestätigten. Natürlich würde ich, wenn es soweit war, meine Verantwortlichkeit leugnen: gegenseitige Beschuldigungen, Ausflüchte … die übliche Prozedur.

Niemand erwartete ernsthaft ein Geständnis von mir. Und weder F. noch seine Hintermänner und Helfershelfer würde an einer derart gefährlichen Zuspitzung der Ereignisse interessiert sein, sondern alles tun, um es zu verhindern. Sie sorgten nur für Eventualitäten vor.

Sie hatten die Lehre des Schreibtischtäters aus den Nürnberger Prozessen gezogen, sie hatten – auf ihre Weise – aus der Geschichte gelernt und für den Tag vorgearbeitet, an dem ihre Tätigkeit mehr Publizität erfuhr, als ihnen lieb sein konnte. Selbst ein Regimewechsel war nicht undenkbar, besonders in Berlin, dieser ungeliebten Enklave des Kapitalismus (wer glaubte schon daran, dass die Amerikaner für Berlin einen Atomkrieg riskieren würden?). Bei einem Machtwechsel waren sie die ersten, an denen ein Exempel statuiert wurde.

Der Gedanke erschreckte mich. Sicher war es nicht mehr als ein Verdacht. Dass eine derartige Institution auch ohne diesen Hintergrund in den Augen F.s und seiner Leute ihre Notwendigkeit besaß, daran bestand kein Zweifel.

Es gab genügend Fälle, bei denen man sich in der Tat fragen konnte, ob Mord nicht die einfachste und sicherste Lösung war. Beispielsweise wäre Wolters, ein Österreicher, der mit Ostgeldern ein Motorenwerk in Bayern aufkaufte, dann die Konkurrenz bei der Vergabe von militärischen Aufträgen unterbot und so die Entwicklung eines leichten Kampfpanzers um zwei Jahre zurückwarf – er hatte systematisch Konstruktionsfehler in das Aggregat geschmuggelt –, mit Sicherheit F.s Opfer geworden. Seine Leute hatten ihn nur zu spät enttarnt.

Da die Finanzierung des Projektes durch Moskau kaum schlüssig nachzuweisen war, hätte kein Gericht der Welt ihn verurteilen können. Erst seine Flucht nach Ost-Berlin bestätigte unseren Verdacht.

Weniger unbefriedigend war der Fall Balkowski ausgegangen. Balkowski war gebürtiger Schlesier und arbeitete im Brüsseler Sekretariat. Man hatte ihn unschädlich gemacht, weil er in dem Verdacht stand, geheime NATO-Berichte an den Osten verkauft zu haben. In der Amtshierarchie galt er als Senkrechtstarter mit eindeutiger politischer Haltung und untadeliger Vergangenheit.

Ehe man ihn kaltstellte, waren vier Berichte des Military Committee, des obersten militärischen Organs, aus der Standing Group weitergegeben worden.

Es gab nur drei Personen, die Zugang zu dem Safe besaßen, und wir verhörten sie der Reihe nach und kamen zu dem Schluss, dass es Balkowski sein musste. Doch die Indizien reichten nicht aus für eine Verhaftung. Man hätte ihn zwar von dem Posten entfernen können, aber dann wäre er höchstwahrscheinlich mit seinem Wissen in den Osten gegangen.

Das Dilemma, in dem sich auch wohlmeinende Mitarbeiter der betroffenen Organisationen in so einem Fall befanden, war offenkundig:

Die Gesetze ließen wenig Raum für Spürsinn und Intuitionen. Im Zweifelsfalle für den Angeklagten; was der sogenannte gesunde Menschenverstand sagte, interessierte nicht.

Man hätte ein Geständnis aus ihnen herausprügeln können – doch das wäre lediglich eine Bestätigung dessen gewesen, was wir ohnehin schon wussten und hätte vor Gericht keinerlei Beweiskraft gehabt. Insofern gab es keinen Zweifel an den praktischen Vorteilen, die F.s Methode boten.

Es waren dreizehn Fälle bisher, und nach seiner Überzeugung befand sich kein Unschuldiger darunter.

»Glauben Sie mir«, versicherte er bei jeder Gelegenheit, »wenn auch nur die geringste Chance besteht, sie durch ein ordentliches Gerichtsverfahren aus dem Verkehr zu ziehen, dann wählen wir diesen Weg …«

Bevor ich in die Wohnung zurückkehrte, warf ich einen Blick in den Eingang des ehemaligen Fahrradgeschäftes, dessen Schaufensterauslagen mit Packpapier verhängt waren: Der Arm des hölzernen Radfahrers, den man durch die staubige Türscheibe erspähen konnte, hing herab. Es bedeutete, dass in der Tiefgarage und in der Wohnung alles in Ordnung war. Sein Arm wurde über einen elektrischen Mechanismus ferngesteuert. Der Mann auf dem Fahrrad trug die Kleidung und den Hut eines Radfahrers der Jahrhundertwende. Die Spitzen seines aufgezwirbelten wilhelminischen Schnurbarts waren aus echtem Menschenhaar, und er sah mich unverwandt und freundlich lächelnd an.

Das Lächeln eines glücklichen Radfahrers, dem Beweglichkeit und Freiheit alles bedeuten. Er trat in die Pedale, aber er kam nicht voran …

Ich ging an der Hausfront entlang und durch die Toreinfahrt. Es dämmerte bereits. Der Lichtschein der Lampen jenseits der Mauer fiel bis in den Hof.

Ein hünenhafter Mann mit krausem, hellem Haar kam mir vom anderen Ende der Toreinfahrt entgegen. Er sah mich nicht an, sondern starr an mir vorbei, und versenkte eine Hand in der Jackentasche, als er an mir vorüberging.

Am Ende der Einfahrt, schon fast auf dem Gehsteig, blieb erstehen und wandte sich zu mir um.

»Hallo«, sagte er. »Wohnen Sie in diesem Haus?«

Bei seinen Worten zögerte ich kurz. Es schien, als klinge in seiner. Stimme ein irgendwie bedrohlicher (oder drohender?) Unterton mit. Dann schüttelte ich den Kopf und ging weiter. Während ich die Außenwand umrundete, hörte ich plötzlich seine raschen Schritte hinter mir.

»Sind Sie … Mahler?«, fragte er und legte seine Hand auf meine Schulter.

 

Ich warf einen prüfenden Blick zu den Schatten des Trümmergrundstücks hinüber, auf dem hohes Unkraut wuchs. Es begann an der Hofgrenze. Rechts davon war die Zufahrt zur Tiefgarage des Nachbarhauses. Der ideale Platz, um jemandem aufzulauern. Dann wandte ich mich langsam um und sah ihm ruhig in die Augen.

»Nein, wieso?«

Er musterte mich ungläubig. Er schien etwas kurzsichtig zu sein. Sein Blick wanderte forschend in meinem Gesicht umher. »Schon gut«, meinte er. »Entschuldigen Sie.«

Er kehrte mit langsamen, ein wenig stelzenden Schritten zur Toreinfahrt zurück.

Ich betrat die Tiefgarage, in der nur eine grüne Deckenleuchte brannte, und suchte nach dem Schalter. Als die Neonlampen aufflammten, ging ich zum Fahrstuhl hinüber, schloss das Eisentürchen in Höhe der Scheibe auf und tippte den Kode ein.

Mahler? überlegte ich, während ich nach oben fuhr. Der Name erinnerte mich an jemanden … richtig: So hieß der »ostdeutsche Botschafter in Venezuela«, für den mich F. einem seiner Mädchen gegenüber ausgegeben hatte.

Ich erinnerte mich noch gut an sie. Ein etwas pummeliger und anhänglicher Typ. Auch ein wenig einfältig. Wie den meisten ihrer Genossinnen – vielleicht den Menschen überhaupt – fiel es ihr manchmal schwer, Wirklichkeit und Einbildung auseinanderzuhalten.

In unserem Gewerbe wird diese Unsicherheit zu einer Berufskrankheit; aber im Grunde ist sie so verbreitet wie die Atemluft. Es gibt gewisse Auffassungen, die als wahr gelten. Mehr weiß niemand. Offenbar haben sie die Funktion, sich selbst und andere zu manipulieren. Das junge Mädchen glaubt an die glückliche Ehe, der Marxist an die Ewigkeit der Welt; F. glaubt, dass er auf der richtigen Seite kämpft, und ich bin davon überzeugt, dass ein weiterer Fehler mich physisch und seelisch ruinieren könnte.

Vermutlich ist nichts davon wirklich wahr (es ist tröstlich, das für einen Augenblick zu glauben). Wäre es nicht denkbar, es ließe mich völlig kalt? Doch Regina – so hieß das pummelige Mädchen – schien noch verwirrter als alle, die ich vorher gekannt hatte.

Wir lebten zwei Wochen lang in einer winzigen Mansardenwohnung voller gehäkelter, gefärbter, selbst bemalter, geklebter, gestanzter, gezeichneter Dinge und unzähliger Bücher, deren Inhalt für sie ebenso wahr zu sein schien wie die üblichen Lügen, denen wir glaubten.

Wenn wir rauchend auf der Couch lagen, versuchte ich ihr manchmal Dinge weiszumachen, die dazu angetan waren, ihr konfuses Weltbild noch weiter zu verunsichern. Was, zum Beispiel genau, ließe sie eigentlich glauben, dass diese ganze verdammte Wohnung mit ihrem Selbstgehäkelten mehr sei als ein Bild, das sich in ein bloßes physikalisches Substrat auflöse, sobald man die Augen schließe oder um die Straßenecke verschwinde?

Aber ihre Sorgen waren anderer Art. Zu jener Zeit hatte sie gerade Bölls Ansichten eines Clowns gelesen und einen tiefen Hass gegen den rheinischen Katholizismus entwickelt. Sie nahm die Literatur für Realität, und wenn sie in Bonn gelebt hätte, wäre sie womöglich nachsehen gegangen, ob der Clown mit seinem weißgeschminkten Gesicht tatsächlich auf der Bahnhofstreppe saß und Gitarre spielte.

Ich versuchte ihr klarzumachen, dass es, wenn überhaupt, höchstens einige aufschlussreiche Parallelen gab und dass man die Details nicht allzu ernst nehmen durfte. Sie sah es auch ein, einfältig wie sie war (sie sah fast alles ein, wenn es nur im Brustton der Überzeugung vorgetragen wurde); doch als sie Jongs Angst vorm Fliegen las, erklärte sie, die Autorin (und nicht etwa Isadora Wing, die Ich-Erzählerin) sei ein Schwein und so phallozentrisch wie nur irgendwer (ich weiß nicht, wo sie das Wort aufgeschnappt hatte), und das Ganze sei lediglich ein PR-Trick und ein billiger Henry-Miller-Aufguss.

Vielleicht hatte sie recht, aber es erschreckte mich doch, mit welcher Leichtigkeit sie Literatur und Wirklichkeit verwechselte.

Das machte sie zu einem leichten Opfer für F.s Erzähltalent. Den ostdeutschen Diplomaten nahm sie mir ohne weiteres ab. F. war schließlich die Autorität in dem Laden und ihre Wahl durch ihn eine Auszeichnung. Es war eine der großen Krankheiten, an der wir alle litten: ständig Wirklichkeit und Vorspiegelung zu verwechseln. Natürlich um so mehr, als wir glauben wollten, was wir uns vorlogen.

Meine Aufgabe beruhte in nichts anderem, als Realität und Erfindung zu trennen.

Wahrscheinlich war es das, was mich daran gereizt hatte, als ich weder die Verteidiger- noch die Richterlaufbahn einschlug, sondern Staatsanwalt wurde: die menschliche Tragödie zu entschleiern, zu entwirren, genauer gesagt. Denn überall war Nebel.

Was genau das heißt? Ich glaube, um dies besser zu verstehen, muss man eine Zeit lang Wissenschaftstheorie und Rechtwissenschaft studiert haben. Und besser noch: sprachanalytische Philosophie.

Die ganze Demokratie – ich war weiß Gott nicht gegen sie – war ein Kompromiss und ein Bluff, der auf der Vorspiegelung zweckdienlicher politischer Fiktionen beruhte.

So abgegriffen das Wort vom »politischen Welttheater« auch sein mochte, es traf die Verhältnisse im genauesten und wahrsten Sinne, hüben wie drüben. F. gegenüber hätte ich diesen Mangel an ideologischer Solidarität und Überzeugung nie zugegeben.

Einen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen, war ein Vergnügen, das ihn vermutlich so wenig interessierte wie den Marxisten die Widersprüche des DIAMAT. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass er ernsthaft glaubte, die Ost-West-Malaise ließe sich durch »richtiges« Handeln überwinden.

Dass es so etwas wie richtiges Handeln gab – diesen Glauben musste ich bereits im Alter von vier Jahren verloren haben, als ich einem Spielkameraden im Sandkasten von meiner Limonade abgab, die ich zu Hause stibitzt hatte, und er nach dem ersten Schluck entdeckte, dass es sich um Trichlorethan handelte, ein Reinigungs- und Lösungsmittel …

Als ich den Fahrstuhl verließ und die Wohnung betrat, reichte mir Kruschinsky eine Nachricht aus dem L.D.A.

»Eben eingetroffen«, meinte er. »Sie stimmt mit den Daten überein, die ich aus der Zentrale erhalten habe. Übrigens scheint sich das Ding hier heißzulaufen.« Er klopfte gegen die Blechwand des Datenaustauschers. »Wahrscheinlich ist ein Kühlaggregat ausgefallen.«

»Dann schalten Sie den Apparat um Gottes willen ab«, sagte ich. »Es ist eine Sicherung gegen unbefugtes Öffnen eingebaut, wegen der technischen Neuerungen. Hat man Ihnen das bei der Ausbildung nicht gesagt?«

Kruschinsky musterte mich überrascht – und zuckte die Achseln. »Ich bin ermächtigt, die Verkleidung abzuschrauben und die Frequenzen anhand der Skala nachzustellen. Von dem übrigen Zeug soll ich die Finger lassen.«

Ich versuchte den Stecker aus der Wand zu ziehen.

»Vorsicht – «, warnte er. »Man hat mir gesagt, das sei nicht gut für den Apparat. Er brauche auch im Ruhezustand seinen Betriebsstrom. Außerdem wären wir dann nicht empfangsbereit.«

»Ich scheiße auf Ihren Apparat!«, sagte ich. »Das Ding wird abgeschaltet.«

»Wie Sie wollen.«

Ich zog den Stecker aus der Dose. Gleich darauf gab es einen schrillen Läuteton, der sich anhörte, als brause die Feuerwehr durchs Zimmer – nur nervtötender.

Kofler kam aus dem Raum. »Was ist denn passiert?«, fragte er verdutzt. Ich schob den Stecker zurück in die Wandsteckdose. Augenblicklich verstummte das Läuten. Die Explosion, wenn das Ding wegen Überhitzung hochging, würde auch nicht viel lauter sein.

»Eine technische Panne. Gehen Sie nach unten und verständigen Sie F.«, sagte ich, zu Kruschinsky gewandt. »Er soll einen Techniker herüberschicken. Und wir, Professorchen, setzen uns an den Tisch und unterhalten uns ein wenig über Ihre Vergangenheit.«

»Ich würde gern an meinem Buch weiterarbeiten«, wandte Kofler ein.

»Verschieben Sie‘s auf später.«

Er musterte mich von der Seite, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich kopierte seinen Kopftick und ging voran (manchmal konnte ich das gleiche Ekel sein wie F., und mir war klar, dass es sich dabei um eine Art Flucht nach vorn handelte – Vorwärtsstrategie –‚ wenn etwas gegen meine Neigung und mein Gefühl ging. Ich hatte ein ungutes Gefühl, den Mann zu verhören, so etwas, wie Vorahnung.