2
Vorstellungsgespräch
Genau genommen war sie Cesare Hollando gar nicht zum ersten Mal bei seinem Vortrag in Stockholm begegnet, sondern schon früher in einem vollgestopften Fahrstuhl der Universität, wenn auch nur flüchtig, für wenige Sekunden.
Studenten stiegen ein und aus und es war die plötzliche Nähe zu einem dunkelhaarigen Hünen, die sie völlig unvorbereitet traf. Als gerate man in irgendetwas Mysteriöse –
wie ein rätselhaftes Magnetfeld …
„Das ist Professor Hollando“, hörte sie einen Studenten hinter sich flüstern. „Unser kommender Nobelpreisträger und künftiger Lehrstuhlinhaber für Neurowissenschaften.“
Obwohl Carolin im Gedränge so gut wie nichts von ihm sah, war es, als stehe auf einmal ihr Herz still. Und einen Moment später, als sich in der zweiten Etage die Fahrstuhltür öffnete, flüchtete sie – wie um ihr Leben zu retten – ins Treppenhaus und lehnte sich aufatmend an die Wand.
Was war das denn? Doch nicht etwa ein Anfall von Klaustrophobie?
Jetzt im selben Fahrstuhl, kurz vor ihrem Vorstellungsgespräch, fühlte sie plötzlich wieder die gleiche Beklemmung. Als würde sie, sobald sie Hollando erst einmal gegenübersaß, kein Wort herausbringen.
Dabei war sie immer stolz darauf gewesen, nicht besonders ängstlich zu sein. Robert nannte sie gern – wenn auch mit ironischem Unterton – „meinen unbesiegbaren weiblichen Gefechtsstand“ und lobte ihre Furchtlosigkeit und dass sie durch kaum etwas aus der Fassung zu bringen war.
Gib dir selbst einen Tritt in den Hintern
, ermahnte sie sich.
Das ist die Chance deines Lebens!
Du stehst schon fast im Vorzimmer. Und da sitzt auch nur irgendeine bebrillte Schleiereule, die sich nach deinem Termin erkundigt …
Doch in Cesare Hollandos Institut gab es gar kein Vorzimmer. Als sie ohne anzuklopfen die Tür öffnete, saß er kaum fünf Meter entfernt am Schreibtisch, versunken in das Studium von Papieren. Der Raum war überraschend karg eingerichtet. An der einen Wand ein schwarz-weißes Wappen mit Dominikanerkreuz, an der anderen eine Kopie des
Heiligen Dominikus
von Tizian.
„Nein, nein, Sie sind nicht falsch“, murmelte Hollando, ohne aufzublicken – als könne er ihre Gedanken lesen. „Ich richte mich gerade erst ein. Andererseits schätze ich auch die Einfachheit, wie es sich für einen Dominikaner gehört.“
„Man sagt, Sie bewohnten nur ein winziges Zimmerchen drüben im Kloster?“
„Obwohl man bei einem Professor meiner Besoldungsstufe eher an eine opulente Dienstvilla denken würde? Ja, ich lebe bei den Zisterziensern, allerdings nur vorübergehend.“
„Carolin Meyers, wenn ich mich vorstellen darf?“
Hollando sah prüfend in eine Liste und nickte.
„Und nun sind Sie hier wegen der Arbeitsgruppe? Ihr Gesicht kommt mir übrigens bekannt vor. Waren sie im Karolinska-Institut?“
Carolin erstarrte …
Großer Gott, sie war ihm dort aufgefallen …
„Hab im Universitätssekretariat einen der letzten Studienplätze für Ihre Seminare ergattert, weil das Angebot wegen zu großer Nachfrage begrenzt werden musste. In Ihre Arbeitsgruppe aufgenommen zu werden, würde mir einen Traum erfüllen.“
„Einen Traum, aha. Und was, glauben Sie, befähigt Sie in meinem Arbeitskreis mitzuarbeiten? Unter so vielen hoch qualifizierten Studenten?“
Irgendetwas war in seinen Augen, das sie nicht einordnen konnte.
„Nehmen Sie doch Platz, Carolin ….“
„Ja, gern.“
„Also …? Warum sollte ich Sie in meine Arbeitsgruppe aufnehmen?“
„Weil ich besser bin als alle anderen.“
Ihre Antwort schien ihn zu amüsieren. Hollando lehnte sich im Sessel zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
„Sie glauben also nach zwei Semestern Neurowissenschaften, Sie seien anderen Studenten überlegen? Was macht Sie so sicher?“
„Stellen Sie mir eine Frage, Professor.“
Er nickte versonnen und blätterte in seinen Notizen. Aber nichts geschah. Als existiere sie plötzlich nicht mehr für ihn …
Hollando schien mit seinen Gedanken an irgendeinem fernen Ort zu weilen. Doch was viel schlimmer war – sie hatte nicht die geringste Ahnung, mit welcher Frage er sie gleich auf die Probe stellen würde.
Carolin schob langsam ihr rechtes Bein übers linke Knie – ihr heller Kattunrock bewegte sich ein paar Zentimeter in Richtung Oberschenkel – und dabei bemerkte sie, dass sein Blick ihrer Bewegung folgte und kurz auf ihren Beinen ruhte.
Also schwul ist er schon mal nicht
, dachte sie.
Alles halb so schlimm …
„Wenn Sie jemand fragte, welche generelle Intention wir Menschen im Leben haben, Carolin, was würden Sie darauf antworten? Gleichgültig, ob wir uns dessen immer bewusst sind oder nicht. Ungewöhnliche Frage, zugegeben. Aber versuchen Sie Ihre Antwort möglichst auf den Punkt zu bringen.“
„Sie meinen einen generellen Nenner? Etwas, dass auf alle Aktivitäten im Leben zutrifft? Nur einen Nenner oder mehrere?“
„Was auch immer Sie als Antwort für richtig halten …“
„Dann würde ich mich für das Positiv- und Negativsein des Lebens entscheiden, im weitesten Sinne. Auch wenn es ziemlich philosophisch klingt und als Definition noch etwas vage wirkt. Man müsste genauer erläutern, worum es sich dabei handelt.“
Hollando lehnte sich zurück – und nickte.
„Ausgezeichnet, Ihre Antwort überrascht mich …“
„Was nicht weiter schwierig war, weil ich weiß, dass Sie als Vorsitzender die Ethikkommission leiten. Da es mich interessiert, habe ich Ihre Publikationen zum Thema studiert.“
„Inzwischen hat jemand anders den Vorsitz. Hab’s aufgegeben, weil es zu viel Zeit kostet. Und Positiv- und Negativsein haben auch mit Moral zu tun?“
„Als Gut und Böse, laut Ihrer Definition. Aber Positiv- und Negativsein im Leben sind natürlich viel mehr, als solche abstrakten Begriffe ausdrücken können – eben auch Glück, Lust, Spaß und Freude, Lebensqualität, Leiden, Schmerz, Trauer und Depression.“
„Und das lernt man an unserer Universität in den Neurowissenschaften?“, fragte er.
„Nein, nur wenn man umfassend informiert sein will.“
„Seltsam vielseitige Neugier bei einer jungen Frau wie Ihnen, oder?“
„Finden Sie? Nicht jedem Gesicht sieht man sofort an, ob es ein Dummerchen ist.“
Hollando wiegte nachdenklich den Kopf. Es sah aus, als versuche er ein Grinsen zu unterdrücken.
„Ich beginne zu verstehen, was Sie damit meinten, Sie seien besser als alle anderen Kandidaten …“
„Für einen Dominikanermönch ist die kritische Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme sicher eines der wichtigsten Anliegen überhaupt. Es war also nicht allzu schwierig, mich darauf vorzubereiten.“
Hollando lehnte sich mit verschränkten Armen im Drehstuhl zurück – anscheinend besaß das Ding einen Wippmechanismus – und beugte sich gleich darauf unerwartet nach vorn, die rechte Hand über den Schreibtisch ausgestreckt …
„Nennen Sie mich ab jetzt doch einfach Cesare, Carolin! Auf gute Zusammenarbeit in meiner Arbeitsgruppe …“
Sie verspürte ein leichtes Zittern im rechten Arm, als sie kurz mit den Fingerspitzen seine Handfläche berührte.
„Übrigens liegen Sie ganz richtig und ich bin weiterhin Dominikanermönch und keineswegs abtrünnig geworden“, sagte er. „Auch wenn die Zisterzienser mich freundlich aufgenommen haben, weil ihr Kloster so nahe bei der Universität liegt.“
Ja, ich weiß,
dachte sie.
Aber nett von dir, das noch mal zu erwähnen. Ganz so, als wären wir bald beste Freunde …
Carolin fand es faszinierend, wie ihr Bruder an seinen Job heranging. Er schien ein wirklich begabter Ermittler zu sein. Falls man es nicht als zwanghafte Detail- und Spurenverliebtheit bezeichnen wollte. Von seinem Hang, alle nur denkbaren Theorien über einen Tathergang zu entwickeln, ganz abgesehen. Er nannte es
Möglichkeitenanalyse
, ein Begriff, den er in der Wissenschaftstheorie aufgeschnappt hatte. Und der erfolgreichste Ermittler war immer jener, der frühzeitig alle möglichen Abläufe und Motivationen erwog.
Wenn sie beim Frühstück waren, berichtete er ihr manchmal über den letzten Stand seiner Ermittlungen. Er saß nicht etwa in seiner eigenen Wohnung eine Etage tiefer, sondern lieber bei ihr im Halbdunkel unter der Dachschräge.
Seine Hände umklammerten eine Kaffeetasse und von seinem Platz aus, einem Tisch aus der Zeit Martin Luthers, konnte man unten das Seeufer mit der Staumauer und
Al's Dorado See-Kiosk
sehen. Die Sonne schob sich gemächlich über den Hügel, als arbeite sie alle Parzellen aus Wiesen und Laubwald nach einem festlegten Plan ab.
Eine der vier Frauen ohne Gedächtnis war inzwischen verstorben. Man hatte ihr Auge genetisch abgeglichen. Der Gerichtsmediziner vermutete eine Infektion, die von der Augenhöhle ins Gehirn gelangt war. Die Art, wie das Auge entfernt worden war, deutete dagegen eher auf Gewalteinwirkung hin.
Allerdings schien Roberts Vorgehen gar nicht erlaubt zu sein. Er lud die überlebenden Frauen ohne Gedächtnis der Reihe nach in den Verhörraum – und jagte den Rest des Kommissariats in die Mittagspause, damit es keine Zeugen für seine Verhöre gab.
„Gönnt euch mal ein gutes Essen auf meine Kosten. Wir haben in den letzten Tagen vergeblich Daten gesammelt wie Köter, die an jedem Laternenpfahl schnüffeln. Und was ist dabei herausgekommen?“
Es gab zwar Videoaufnahmen von den Verhören der Frauen. Doch die Filme wurden unter Verschluss gehalten und Robert behielt seine Geheimnisse für sich, falls es welche gab. Nur bei ihr wollte er eine Ausnahme machen.
„Aber du sagst niemandem etwas davon, Carolin?“
„Und warum erzählst du es ausgerechnet mir?“
„Weil ich mit jemandem darüber reden muss.“
„Was passiert denn, wenn man von deinen – na ja, Verhörmethoden erfährt?“
„Es könnte mich in Schwierigkeiten bringen.“
Robert zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief den Rauch und blies ihn gedankenverloren zur Decke.
„Großer Gott …“
„Sag nicht dauernd ‚
großer Gott
’, Carolin. Sag zwischendurch einfach mal ‚
lieber Himmel
’ …“
„Hast du nicht kürzlich mit dem Rauchen aufgehört?“
„Diese Frauen reden nur, wenn man sie unter Druck setzt. Es ist, als seien sie blockiert – irgendwie
umprogrammiert
.“
Robert schob seine Kaffeetasse beiseite und ging hinüber zum Schrank.
Das untere Fach war abgeschlossen und er zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Hinter der Schranktür befand sich – wie Carolin jetzt erst entdeckte – ein Schließfach.
„Schau dir das mal an“, sagte er und legte ein Video in das Abspielgerät auf der Anrichte.
„Was denn, du hast Beweismaterial aus dem Büro mitgenommen? Ist das denn gestattet?“
Robert gab keine Antwort. Er drückte die Taste und drehte am Lautstärkeregler. Dann wandte er sich lächelnd nach ihr um … und so wurde sie seine einzige Vertraute bei den Ermittlungen.
3
Vier Frauen
„Wir haben inzwischen alle Opfer identifiziert“, sagte Robert. „Das vierte erst dank deiner Hilfe.
Die Frau mit den blauen Flecken am Körper, die gerade verstorben ist, war Nonne in einem Kloster bei Köln und nur zu Besuch in der Stadt. Ihr Name ist Elisabeth Herschel. Im Orden wurde sie Beta genannt. Es gibt keinen Hinweis auf einen Liebhaber – was ja auch bei jemandem, der sein Leben Gott geweiht hat, eher nicht zu erwarten ist …
Manuela Winters, deine Kommilitonin, dürfte das erste der vier Opfer gewesen sein, denn seitdem sie verschwunden ist, hat sie nach Auskunft von Studienkollegen außerordentlich stark abgenommen. So etwas wäre nicht in einer Woche möglich gewesen. Sie ist das Opfer, das andauernd obszöne Sätze wiederholt, sobald sie mit sich allein ist. Zwanghaft, wohl eine Art Tick.
Das dritte Opfer ist eine Bürger- und Frauenrechtlerin namens Erika Haard – du musst dir all die Namen übrigens nicht merken, Carolin, ich erwähne sie nur der Vollständigkeit halber. Sie hat gelegentlich in den Medien mit unkonventionellen Äußerungen über Menschenrechte Aufmerksamkeit erregt.
Die vierte Frau ist, wie wir durch Hinweise dank des Fotos in der Presse wissen, ein bekanntes Mannequin namens Vanessa Roth. Sie hat mit führenden Modeschöpfern zusammengearbeitet.“
„Ist Vanessa Roth die Frau, der man den Kopf geschoren hat?“
„Und nicht nur den Kopf“, sagte er. „Einer attraktiven und auf ihr Äußeres bedachten Frau wie ihr muss das besonders wehgetan haben.“
„Gibt es denn Zeichen für sexuellen Missbrauch?“
„Nein, bislang haben wir dafür keine Hinweise gefunden.“
„
Nonne
,
Studentin
,
Bürgerrechtlerin
und
Mannequin
– schon merkwürdig, oder?“, fragte Carolin.
„Ja, es könnten zufällige Opfer gewesen sein, die nichts miteinander verbindet.“
„Außer dass es junge, gut aussehende Frauen sind?“
„Falls es sich immer um denselben Täter handelt – was ich wegen ihres Gedächtnisverlustes vermute –, scheiden Frauen in aller Regel aus. Es sei denn, als Mittäterinnen, die ihrem Partner verfallen sind.“
„Oder wesensverwandt?“
„Schau dir mal an, wie viel Zeit sie brauchen, um auf Fragen zu antworten“, sagte Robert. Er spulte den Film zurück, bis die Frau mit dem kahlen Kopf erschien.
Vanessa Roth trug ein abgetragenes graues Kleid, vom Glanz eines Mannequins war nicht mehr viel übrig. Um ihre Augen lag ein fahler Schatten und ihr Blick war seltsam leer und unstet. Sie schien Robert gar nicht wahrzunehmen, obwohl er vor ihr stand.
„Ich habe dich etwas gefragt“, sagte er und griff blitzschnell und unerwartet nach ihrem Hals …
Sein Griff musste schmerzhaft sein, denn sie verzog das Gesicht.
Großer Gott, dachte Carolin entsetzt.
„Wie ist dein Vorname?“
„Ich … weiß nicht …“
„Vielleicht Vanessa?“
„Ja, Vanessa.“
„Und weiter?“
Sie schüttelte hilflos den Kopf.
„Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du Vanessa Roth heißt? Du warst mal ein berühmtes Mannequin. Erinnerst du dich wieder daran?“
„Ja.“
„Und wenn ich dich das in einer Stunde noch einmal frage? Wie lautet dann dein Name? Vanessa Roth, oder?“
„Ja, ich …“
„Wo befandest du dich, bevor du dein Gedächtnis verloren hast? War jemand bei dir? Vielleicht ein Mann?“
„Ein Mann?“
„Ja, ein Mann, oder zwei oder mehrere Männer. Wie sahen sie aus? Groß oder klein, alt oder jung?“
„Ich erinnere mich an keinen Mann …“
„Und wo genau ist das alles passiert? Vielleicht in einem Haus? Falls ja, beschreib mir, wie die Räume aussahen. Und versuch dich an die Adresse zu erinnern.“
Vanessa schüttelte hilflos den Kopf. Dann brach sie unvermittelt in Tränen aus …
„Kein Problem, alles in Ordnung“, sagte er und griff beruhigend nach ihrem Oberarm. „Wir klären schon noch, wer dich so zugerichtet hat. Dafür sind wir da.“
Dabei blickte er kurz in die Kamera und schüttelte unmerklich den Kopf.
Als Vanessa sich abwenden wollte, drehte er sie blitzschnell und unerwartet mit einer groben Handbewegung in seine Richtung. „Und jetzt sag mir auf der Stelle, wer der verdammte Kerl war …“
„Geht das nicht zu weit?“, protestierte Carolin. „Bitte schalte den Film ab, ich kann mir das nicht länger ansehen …“
Robert drückte achselzuckend ein paar Tasten und rief ein anderes Video auf.
„So ging’s mir mit allen drei Frauen. Kein Fortschritt, keine Indizien, keine Hinweise. Wir finden nichts, das auf den Täter hinweist. Womöglich gibt es gar keinen Täter und es kursiert gerade nur so etwas wie ein Lebensmittelvirus in der Stadt, der ein paar Frauenhirne durcheinander gebracht hat?“
„Unsinn …“, sagte Carolin.
„Also hab ich einen zweiten Versuch gestartet und sie alle drei allein in einem Raum zusammengebracht, ohne Zeugen. Schau dir die Aufnahme mal genau an …“
„Allein? Wozu denn allein?“, fragte Carolin.
„Wäre doch möglich gewesen, dass sie sich untereinander austauschen, wenn sie nicht verhört werden.“
„Du meinst, sie verheimlichen dir etwas?“
„Unser Job ist es schließlich, allen denkbaren Vermutungen nachzugehen.“
„Ja, richtig, deine sogenannte Möglichkeitenanalyse aus der Wissenschaftstheorie. Aber ob das auch beim Menschen mit seinen unendlich vielen Motivationen funktioniert? Wenn das mal keine Illusion ist.“
Als erste betrat Carolins Kommilitonin Manuela Winters den Verhörraum. Robert geleitete sie an den Tisch und bat sie, sich zu setzen. Er stellte ihr ein Glas Wasser hin und bot ihr eine Zigarette an. Aber sie schien gar nicht wahrzunehmen, was er von ihr wollte.
Manuela sah erschreckend abgemagert aus. Ihre Bewegungen waren fahrig und ihr Blick wirkte genauso leer wie der Vanessas.
Die eine Hälfte ihres weißen Kragens war abgerissen und an ihrer rechten Schläfe befand sich ein blauer Fleck, der gerade alle Farben des Regenbogens annahm.
Großer Gott!, dachte Carolin … oder lieber Himmel. Er wird sie doch nicht beim Verhör geschlagen haben?
„Ich lasse sie erst mal eine halbe Stunde warten, um sie mürbe zu klopfen, ehe die nächste in den Verhörraum kommt“, erläuterte Robert. „Vielleicht fangen sie ja einfach aus purer Langeweile an, miteinander zu plaudern. Die Pausen habe ich natürlich herausgeschnitten …
Nein, der blaue Fleck an Manuela Winters Schläfe stammt nicht von mir, falls du das denkst?“, fügte er grinsend hinzu. „Den hatte sie schon, als sie unten am Fluss aufgegriffen wurde. Steht alles im Protokoll des Beamten, der sie beim morgendlichen Lauftraining entdeckt hat.“
Als die Bürgerrechtlerin Erika Haard an die Reihe kam, erinnerte sich Carolin, sie schon einmal in einer Fernsehdiskussion gesehen zu haben.
Der Moderator zitierte damals Charles Bukowski, wohl um sie zu provozieren:
„Feminismus existiert doch nur, um hässliche Frauen in die Gesellschaft zu integrieren.“
Worauf sie antwortete: „Kluge Frauen widersprechen hässlichen Männern nicht.“
Auffallend war, dass die beiden Frauen kein Wort miteinander sprachen. Erika Haard nickte nur kurz, als sie den Raum betrat, blickte sich suchend um und setzte sich dann an das gegenüberliegende Ende des Tischs.
„Wieso sprechen die beiden nicht miteinander?“, fragte Carolin.
„Weil sie sich nicht kennen.“
„Aber Erika Haard weiß inzwischen, wer sie ist?“
„Wir haben es ihr gesagt, nachdem sie durch Fotos identifiziert werden konnte.“
„Hat sie denn jemanden, der sich um sie kümmert?“
„Nein, sie lebt allein. Ihre Freundin – es war wohl eine lesbische Beziehung – hat sie verlassen. Dann ein Secondhand-Shop in Paris – vielleicht als Flucht. Gescheiterte Beziehung zu einem Farbigen. Alkoholprobleme. Später hat sie wieder die Kurve gekriegt. Und dann zuletzt diese üble Geschichte mit ihrem Gedächtnisverlust. Ohne fremde Hilfe wäre sie momentan kaum lebensfähig.“
„Wie schrecklich …“
„Den anderen geht es auch nicht besser.“
„Jetzt beugt sie sich vor und flüstert Manuela etwas zu“, sagte Carolin. „Aber es ist nicht zu verstehen …“
„Wir haben die Tonaufnahme im Labor verstärkt. Sie sagt nur:
Scheiße, ich hab meine Zigaretten vergessen …“
„Na, wenigstens daran kann sie sich noch erinnern.“
„Mich wundert, wieso man weiter ganz normal redet, wenn man sein Gedächtnis verloren hat�