Ein Fall von großer Redlichkeit

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Schröder hatte ihn ebenfalls dazu ermuntert. Er war stark übergewichtig, ein gemütlicher Mann, der jedes Kleidungsstück anfertigen lassen musste, und Papst hätte sich keinen besseren unmittelbaren Vorgesetzten wünschen können.

„Sehen Sie sich die Stadt an. Ihre Arbeitszeit in der Bibliothek halten wir flexibel. Außer samstags und sonntags ist der Lesesaal bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet. Selbstverständlich können Sie auch abends arbeiten.“

Er schien ihm die Arbeit in den Abendstunden geradezu aufdrängen zu wollen.

„Im Übrigen kontrolliert Sie niemand.“

Das Hauptgebäude der Universität war in einem Hochhausturm untergebracht, einem einseitig abgeschrägten Obelisken. Über den Aufzug der angrenzenden Halle gelangte man in ein Panoramacafé.

Während sie dort oben saßen und Papsts Blick über die Häuserdächer und kahlen Parkanlagen glitt, kam ihm die Idee, sich zu erkundigen, was Julia veranlasst hatte, in den Osten zu gehen. Es war eine eher beiläufige Frage.

Ihre Reaktion irritierte ihn.

„Weißt du … es wäre zu kompliziert, dir das alles – lass uns ein andermal darüber reden.“

Er hatte geglaubt, ihre Gründe seien ganz ähnlich wie seine.

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„Lass uns etwas trinken gehen“, schlug sie vor. Ihre Stimme klang rau. „lm Merkur nahe beim Hauptbahnhof bekommt man um diese Zeit immer einen Platz.“

Es war das beste Hotel der Stadt, ein gigantischer Bau, innen voller Marmor, getöntem Glas und Chrom. Papst wunderte sich ein weiteres Mal, welchen Standard man trotz aller armseligen, dunkel patinierten und abbröckelnden Fassaden aus der wilhelminischen Zeit zustande brachte, wenn man, wie er an den Gästen bemerkte, auf westliche Devisen aus war.

Die Preise an der Bar glichen denen von London oder Paris.

Zum Glück hatte er sich bereits mit genügend Ostmark eingedeckt. Es war das einzige, was ihm Schröder mit beschwörender Stimme ans Herz gelegt hatte:

„Lassen Sie sich um Gottes willen nicht dazu verleiten, Ihre Westmark schwarz auf der Straße zu tauschen, falls Sie angesprochen werden. Auch wenn der Umtauschkurs wesentlich günstiger ist. Es würde Sie unweigerlich in größte Schwierigkeiten bringen.“

Er war sehr bedacht darauf, dass Papst es ihm hoch und heilig versprach. Schon der bloße Gedanke an diese Komplikation schien seine gewaltigen Fleischmassen in nervöses Zittern zu versetzen.

„Sieh dir diese Mädchen an“, flüsterte Julia an der Bartheke. „Es sind sozialistische Huren, die auf reiche Westler warten. Ihre Hochsaison ist während der Messewochen.“

Papst wandte den Kopf. Die beiden Mädchen am anderen Ende der Theke taxierten ihn; das Gesicht des einen verzog sich zum Lächeln. Sie saßen ohne Begleitung da und nippten an ihren Gläsern.

„Was denn – ich dachte, so was sei im Sozialismus aus der Mode gekommen?“

Eine der beiden, sie war mager und rothaarig, starrte dümmlich über seinen Kopf hinweg.

„Gewöhnlich schon.“

„Warum hast du mich hierher gebracht?“

„Einfach, um dir einen Gefallen zu tun.“

„Mit diesen Mädchen?“

Sie blickte weg – wandte ihm aber wieder das Gesicht zu, als er schwieg. „Du sollst nicht glauben, es sei schwierig, hier Kontakte zu knüpfen, wenn dir danach ist.“

„Wenn mir danach ist?“ Er griff hart nach ihrem Arm. „Wer hat dich dazu beauftragt? Es war Felder, nicht wahr?“

Sie zuckte die Achseln, dann nickte sie.

„Sehr unklug von ihm.“

„Man glaubt, du seiest vom Westen her gewisse Verhältnisse gewohnt“, sagte sie unwillig. „Felder wollte nur, dass du dich wohl fühlst. Nichts weiter.“

5

Es war Papsts Wunsch, einige soziale Einrichtungen zu besuchen, als man ihn fragte, wofür er sich im anderen Deutschland besonders interessiere, und so wurde er von Julia nach Telefonaten Felders an ihren freien Vormittagen in eine polytechnische Schule, einen kleinen Vortrag über das Bildungssystem und eine Kinderkrippe geführt.

Am meisten beeindruckte ihn die liebevolle Art, mit der kleine Kinder untergebracht waren. Sie lebten dort ganztags in überschaubaren Gruppen, von jeweils einer Erzieherin betreut. Um die Mittagszeit wurden Klappbettchen in den Spielraum gestellt, und da es „Schlafstempelchen“ in ein Heft gab, auf die sie sehr versessen waren, tobte keines der Kleinen während der Mittagsruhe herum, sondern alle kniffen fest die Augen zu.

Den Älteren merkte er ein Gefühl gemeinsamer Anstrengung an – mochten sie auch für solche Besichtigungen ausgewählt sein. Die Stimmung des Aufbruchs war vielerorts verbreitet.

Es überraschte ihn ein wenig, endlich zu finden, was er sich vorgestellt hatte …

Einige traten ihm sogar mit ungewöhnlicher Herzlichkeit entgegen.

Dass jemand aus dem Westen kam, schmeichelte vielleicht ihrem Selbstwertgefühl. Gewiss würde es wie überall auch hier Misstrauen, Missgunst, Arbeitsunlust und Desinteresse geben. Ihre Sorgen um die wechselseitige Aufrüstung und die Angst vor dem Gegner klangen aber auf dieser Seite genauso glaubwürdig wie drüben.

Ehe er zur Bibliothek fuhr, stellte er für Heddas Kinder ein kleines Paket aus thüringischem Holzspielzeug zusammen; Wägelchen und Reiter, die noch nach frischer Farbe und Leim rochen. Er packte es in einen vorbereiteten, adressierten Karton und gab es gleich zur Post. Er legte einige Zeilen dazu:

Ankunft wie erwartet. Keine besonderen Vorkommnisse. Wolfhard.“

Sicher interessierte es sie wenig, oh es besondere Vorkommnisse gab oder was er trieb, und sie würde den Zettel achtlos wegwerfen. Trotzdem fühlte er sich zu einem Lebenszeichen verpflichtet.

Danach aß er in einem kleinen Kellerlokal der Altstadt zu Abend.

Am Vortage hatte er, als er mit der Gabel auf ein Salatblatt schlug, aus der kalten Platte, die man frühen Abendbrotgästen im Hotel servierte, einen Kakerlak laufen sehen – und danach noch einen, der eilig die waagerechte Leiste einer spanischen Wand entlang rannte.

Er erinnerte sich, in der Hotelhalle jemanden seinen Nachbarn fragen gehört zu haben, ob es auf seinem Zimmer auch nach Insektenvertilgungsmitteln rieche. Die Antwort war, dass der Kammerjäger im Haus unterwegs sei.

In einem westlichen Hotel hätte er wegen dieses Vorfalls sicher sofort den Küchenchef gerufen; doch hier war es ihm peinlich, wenn sich der Mann vor jemandem aus dem Westen eine Blöße gab. Immerhin verdarb es ihm so weit den Appetit, dass er auf eigene Kosten in einem anderen Restaurant aß.

Das Essen war gut und preiswert; von der Schwierigkeit, einen freien Tisch zu finden und den langen Wartezeiten abgesehen. Selbst die Rechnung wurde zu einem bislang unbekannten Hindernis auf dem Wege ins Freie. Es schien, als sei das Kassieren eine besonders lästige Arbeit. Ein Trinkgeld nahm man aber gerne an. In Zukunft würde er einige Arbeitspapiere einstecken, damit die Zeit nicht so lang wurde.

Felder hatte ihm einen Ausweis beschafft, der ihn zur Ausleihe sämtlicher Werke aus dem Magazin berechtigte, auch jener, für die man gewöhnlich eine Sondergenehmigung benötigte.

„Es wird Ihre Arbeit erleichtern, aber machen Sie um Gottes willen keine Reklame damit. Und lassen sie ihn oder die Bücher nicht unbeobachtet auf den Tischen liegen“, hatte er ihm ans Herz gelegt.

Als Papst die Stufen des Bibliothekseingangs nahm, warf er einen spöttischen Blick zu den goldenen Lettern über dem Portal hinauf, denn sie lauteten:

Freie Statt

Für freies Wort

Freier Forschung

Sichrer Port

Reiner Wahrheit

Schutz und Hort

Es würde wohl noch eine Weile dauern, ehe sich dieser hohe Anspruch uneingeschränkt erfüllen ließ. Aber momentan brannten ihm solche Ungereimtheiten weniger auf den Nägel als früher, denn das Neue Deutschland hatte in einem Leitartikel „weitere Freiheiten beim Bezug ausländischer Buch- und Zeitschriftenpublikationen“ angekündigt.

Schon das Eingeständnis, dass es diese Freiheiten bisher nicht gegeben hatte, musste als eine kleine Sensation bewertet werden. Es bestätigte nur den erstaunlichen Wandel in der Politik der letzten Monate.

An der Pforte hatte er wie gewöhnlich seinen Leseausweis vorzuzeigen. Der ältere der beiden Hausmeister kannte ihn bereits und verzichtete jetzt manchmal darauf. Ein kleines Problem gab es im Garderobenraum, da die einzige Bedienung, eine resolute, magere Frau, den Leserandrang kaum bewältigen konnte und schimpfend verlangte, man solle nicht hintereinander stehen, sondern sich an der Theke verteilen.

Dann befahl sie militärisch barsch jedem „Abholen“, seine Kleidermarke vor sich auf den Tisch zu legen.

Sie sammelte sie ein, ordnete sie nach der Zahlenfolge und brachte so mit wenigen Schritten einen Arm voller Kleider, aus denen sich jeder sein Teil herausziehen musste ...

Es war immer das gleiche entwürdigende Spiel; man ertrug ihre Unhöflichkeiten lächelnd und ohne Protest.

Als Papst seine Unterlagen von der Magazinausgabe geholt und sich an seinen Platz nahe der Holztreppe gesetzt hatte, den er seit zwei Tagen belegte, entdeckte er plötzlich einige Tischreihen entfernt eine bekannte Gestalt.

Kein Zweifel ... schließlich war er wochenlang Nacht für Nacht mit ihm unterwegs gewesen. Er beugte sich vor und fuhr sich ungläubig mit der Hand über die Augen – dieselbe farblose Haut eines Albinos, die wimpernlosen Augen, das strohblonde, glatt zurückgekämmte Haar – Alex Margott!

 

Der andere saß in der entgegengesetzten Saalhälfte und kehrte ihm das Gesicht zu. Er las in einem Buch. Es sah so aus, als habe er Papst noch nicht bemerkt. Ein Stapel anderer Bücher und Unterlagen, in die er ab und zu etwas notierte, lag vor ihm.

Papst erhob sich ungläubig; er ging eilig durch den Mittelgang auf ihn zu. Seine schnellen, lauten Schritte erregten Aufmerksamkeit. Einige Lesende hoben missbilligend die Köpfe, und er verlangsamte seinen Gang.

Als er nur noch wenige Meter von Margotts Tisch entfernt war, blieb er stehen, denn der andere blickte langsam auf. Papst wollte etwas sagen, doch Margotts ausdrucksloser Blick glitt über ihn hinweg, streifte die regungslose blau gekleidete Frauengestalt am Aufsichtspult – und kehrte zu seinen Unterlagen zurück.

„Hallo.“

Der andere schien nichts gehört zu haben. Er trug denselben ungepflegten, an den Taschen und Umschlägen speckig glänzenden Anzug, den sein Bruder bei der Beerdigung getragen hatte.

Doch sein Gesicht wirkte um einige Jahre jünger … wenn Papst auch, je länger er es im Lichtkreis der rötlichen Leuchtstoffröhre betrachtete, Zweifel kamen. Immerhin war es nicht ganz so jung wie das seines verstorbenen Freundes – als sei es künstlich gealtert.

Alex ...?

Der Mann vor ihm hob noch einmal den Blick. Er sah erst ihn, dann fragend seinen Nebenmann am Tisch an, der ohne etwas zu bemerken weiterlas, und erkundigte sich: „Sprechen Sie mit mir?“

„Ich dachte, wir kennen uns.“

„Oh, tatsächlich?“ Seine Aussprache hatte einen kaum merklichen sächsischen Akzent. „Nein, bedaure.“

Es ist Alex‘ Bruder, dachte Papst enttäuscht. Offenbar hatte er sich in den wenigen Wochen seit dem Tode seines Bruders stark verändert.

So etwas kam vor. Dass er Papst von der Beerdigung her nicht wiedererkannte, musste nichts zu besagen haben. Unter solchen Umständen war es verständlich, wenn man die Gesichter von Trauergästen vergaß.

„Bitte, entschuldigen Sie“, flüsterte er und kehrte an seinen Tisch zurück.

Während er in Lenins „Die Basis der sozialistischen Revolution“ blätterte, irrten seine Gedanken ah. Doch so oft er auch prüfend zu Margott hinübersah – ihre Blicke trafen sich nie …

Papst versuchte sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, aber die Gestalt dort drüben hinter dem Bücherstapel ließ ihn nicht mehr los. Gewaltsam zwang er sich, eine Textpassage zu analysieren …

Sie handelte davon, dass die Kommunistische Partei Arbeiter und Bauern an den entscheidenden revolutionären Kampf heranführte.

Der ausschlaggebende Impuls ging von den Ideologen aus. Es kam darauf an, dass die Partei, nach Lenin, eine angemessene Form des Übergangs ausfindig machte.

Das Mittel der Gewalt und des Krieges musste nach seiner Überzeugung die Revolution in den Augen der übrigen unterdrückten und ausgebeuteten Welt diskreditieren und war wenn möglich zu umgehen. Daher propagierte er eine Übernahme des Machtapparats mit anderen Mitteln …

An dieser Stelle hielt Papst inne. Es war eine höchst unglaubwürdige Formulierung. Er wühlte in dem Stapel Bücher, die er sich nach Felders Liste aus dem Magazin besorgt hatte, und nahm die Arbeit Sozialismus und Krieg zur Hand, wo sich der Satz fand:

„ …dass wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit Von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen ...“

Auch an anderen Stellen vertrat Lenin die Überzeugung, eine „gewaltsame Revolution“ sei unausweichlich, so schon in der Schrift „Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie“ aus dem Jahre 1899. Nur in seltenen Fällen seien friedliche Veränderungen denkbar, beispielsweise „in einem kleinen Staat, nachdem im großen Nachbarstaat die soziale Revolution gesiegt hat“. Viel wahrscheinlicher sei es allerdings, „dass auch in den kleinen Staaten der Sozialismus nicht ohne Bürgerkrieg verwirklicht wird“.

Das Mittel der gewaltlosen Übernahme war also eine Fälschung, wollte man nicht annehmen, Lenin habe seine Ansichten zunächst gegenüber früheren und dann wieder in den späteren Schriften geändert. Es war eine Auffassung, die sich der orthodoxen Lehre von Marx und Engels annäherte, wonach zumindest in England und Amerika eine friedliche Übernahme der Macht denkbar sei.

Hingegen fand sich in einem Brief Marx‘ an Kugelmann der Hinweis, es gehe nicht darum, „die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen“.

Hatte Rittmaiers Schwiegersohn möglicherweise nichts weiter beabsichtigt, als diese Widersprüche zu glätten?

Es würde, wie Felder ganz richtig behauptete, nur durch eine sprachvergleichende Untersuchung zu klären sein. Dazu war es notwendig, Satztypen zu klassifizieren, sie nach ihrer Häufigkeit zu ordnen und sie mit Hilfe einer komplizierten Methode zu gewissen Wendungen und Wortarten in Beziehung zu setzen. Eine Arbeit, die Wochen dauern konnte.

Papst machte sich lustlos ans Werk.

Er beobachtete, dass Margott sich jetzt öfter erhob und einzelne Bücher austauschte, nachdem er kurz mit ihnen gearbeitet hatte. Manchmal ging er eine der vier hölzernen Treppen zur Galerie hinauf, blätterte für Augenblicke in einem Band und stellte ihn zurück. Er schien in der Hauptsache den Buchbestand des Lesesaals zu benutzen.

Einmal stand er oben an der Balustrade und sah lange und nachdenklich auf die Lesenden herab.

Als es kurz vor Bibliotheksschluss war, brachte er einige Bände ins Magazin zurück und ließ sie dort unter seinem Namen ablegen. Die Abgabetheken in der Vorhalle waren nach Bereichen aufgeteilt: auf der linken Seite A bis K, rechts L bis Z. So kam es, dass sie sich wegen der Anfangsbuchstaben ihrer beiden Namen an derselben Abgabe begegneten.

Papst hatte das Gefühl, Margott schaue durch ihn hindurch, als er sich von der Theke abwandte; selbst jetzt, nach dem Zwischenfall im Lesesaal, war es, als seien sie sich völlig fremd, und er habe die kurze Episode längst vergessen.

Er holte seinen Mantel aus der Garderobe und folgte Margott die Straße des 18. Oktober entlang.

Der andere ging in Richtung auf das Völkerschlachtdenkmal, hinter dem der Südfriedhof lag. Die Gegend war verlassen, außer ihnen beiden konnte er niemanden entdecken, nicht einmal ein Auto fuhr.

Papst ließ den Abstand größer werden, um nicht aufzufallen. Irgendetwas veranlasste ihn, der schäbigen vorgebeugten Gestalt immer weiter zu folgen …

Dunst breitete sich unter den wenigen rötlichen Straßenlampen aus. Er verpasste die Bordsteinkante und es gab ein schepperndes Geräusch, als sein Fuß abglitt und er auch noch auf eine leere Dose in der Rinne trat …

Doch Margott blickte sich nicht um. Kalter Wind kam aus den Querstraßen. Neben einem freien Baugrundstück schlug er seinen Mantelkragen hoch. Papst hatte das Gefühl, die Finsternis nehme noch zu, obwohl sich der Abstand zwischen den wenigen Straßenlaternen nicht vergrößerte.

„An der Tabaksmühle“, kurz vor dem düsteren Völkerschlachtdenkmal, bog Margott rechts ab, schloss ein niedriges Gartentürchen aus schiefen Latten auf und betrat die Gartenlaube.

Sie lag ein Stück zurückgesetzt hinter kahlen Obstbäumen; nicht viel mehr als vier bucklige, grün gestrichene Wände und ein Dach aus Balken, mit Teerpappe belegt. Das Licht in einem der beiden Fenster ging an. Der Vorhang wurde zugezogen.

Papst stand regungslos im Schatten einer hohen Felssteinmauer.

Bald stieg aus dem kleinen Kamin im Flachdach Rauch auf.

Von weit her bellte ein Hund. Zwischen den abgeernteten Beeten lagen Reste angetauten Schnees. Ein hüfthoher Drahtzaun, der an manchen Stellen löchrig und mit Stücken aus Fliegennetz geflickt war, umspannte das Grundstück. Weiter hinten begann ein Gehölz. Wegen der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, wie tief es reichte. Einmal war aus dem Inneren der Gartenlaube ein kreischendes Geräusch zu hören – wie von einer Küchenmaschine; vielleicht ein elektrischer Handmixer.

Er wartete gut eine Stunde, ohne recht zu wissen warum. Kälte kroch an seinen Beinen hinauf. Trotz des wattierten Mantels begann er zu frösteln.

Nur einmal fuhr ein grauer Wartburg langsam durch die Straße, umrundete den Block aus Parkwald und Gärten, zwischen denen unkrautüberwucherte Grundstücke lagen, und beschleunigte plötzlich, als er zum zweiten Mal dieselbe Stelle passierte und auf Papsts Höhe war. Gegen zwölf erlosch das Licht in Margotts Fenster, und er machte sich auf den Rückweg zum Hotel.

6

Julias Wohnung war an diesem Abend der Schauplatz einer seltsamen Gesellschaft – seltsam nach seinem Eindruck …

Er hatte noch nie so vielen Personen aus dem engeren Kreis der Staatsführung in Tuchfühlung gegenübergesessen. Drei Mitglieder, zwei Kandidaten des Politbüros und mehrere Vertreter des Zentralkomitees befanden sich darunter. Da sie ihre Frauen mitgebracht hatten, schnappte Papst auch die Funktionen einiger anderer Gäste auf, und wenn er sich nicht verhört hatte, gehörte einer sogar dem Nationalen Verteidigungsrat an; andere waren einfache Abgeordnete der Volkskammer.

Couchs und Sessel der geräumigen Altbauwohnung, selbst ein Satz beim Nachbarn geliehener Stühle, wurden von beleibten älteren Herren eingenommen, denen die verdienstvolle Bürde einer lebenslangen Sorge für den Sozialismus im Gesicht stand. Papst kam sich etwas verloren in diesem Kreis vor. Außer Schröder von der Universität kannte er niemanden. Er unterhielt sich mit einem hellblonden, fast weißhaarigen älteren Mann, der Papst den Rücken zuwandte.

Es war Julias dreiunddreißigster Geburtstag – was sie ihm zu seiner Überraschung erst wenige Stunden zuvor durch ein Einladungskärtchen mitgeteilt hatte. So ließ sich nicht einmal mehr ein Geschenk besorgen. Doch sie schien auf alles andere aus zu sein, als sich für die Qual ihrer Geburt durch kleine Aufmerksamkeiten entschädigen zu lassen.

„Es genügt, dass du da bist“, sagte sie strahlend, als er an der Tür auf seine leeren Hände deutete.

„Der Blumenladen an der Ecke hatte wegen Betriebsausflug geschlossen.“

„Und für andere Geschenke war es zu spät, ich weiß.“

„Hättest du es mir nicht früher sagen können?“

„Es sollte eine Überraschung sein.“

„Dann ist sie gelungen …“

Er hatte angenommen, ihre Geburtstagsfeier finde im kleinen Kreis enger Freunde statt. Dass sich bei ihr die halbe Staatsführung versammelte, war ein Phänomen, für das er bis zum Cocktail keine Erklärung fand, sooft er sich auch das Hirn zermarterte. Sie muss es mir verschwiegen haben, weil ich sonst ihre Einladung ausgeschlagen hätte, dachte er. Erst als sie ihm mit dem Glas in der Hand einen schmächtigen älteren Mann vorstellte – Herbert Volkert, Mitglied des Politbüros –‚ begann er zu begreifen.

„Mein Vater …“

„Guten Tag“, sagte Volkert freundlich lächelnd und wandte sich wieder der Gesellschaft am kalten Büfett zu.

„Aber ich denke ... dein Name ist Johannsen?“, erkundigte er sich verwirrt.

„Ich bin unehelich. Meine Mutter wollte ihn nicht heiraten. Sie hatten sich während einer sozialistischen Tagung in Stockholm kennengelernt.“

„Deshalb lebst du hier?“

„Er sorgte für meine Anstellung an der Universität.“ Sie musterte ihn besorgt. „Mach kein Gesicht. Es ist schließlich nichts Ehrenrühriges, die Tochter eines Politbüromitglieds zu sein. Er hat sich immer zu mir bekannt, nur meine Mutter wollte nichts mit ihm zu schaffen haben.“

Sie drückte Papst ein volles Glas in die Hand und zog ihn zu einem kahlköpfigen Mann mit den Augen eines Fisches, der verloren im Sessel unter der Stehlampe saß.

„Herr Franz aus dem ZK. Ein sehr einflussreicher Mann. Stell dich gut mit ihm“, erklärte sie und ließ ihn lächelnd stehen.

Franz erwachte aus seiner Versunkenheit. Als er sich zur Begrüßung halb erhob, wehte Papst eine Alkoholfahne an. Er musste sich schon kräftig aus den Flaschen auf dem Servierwagen bedient haben.

„Sie haben also die Seiten gewechselt, junger Mann?“, fragte er merkwürdig lahm, als strenge ihn das Reden momentan an.

„Ich würde eher sagen, ich habe die Vorzüge und Nachteile beider Seiten kennengelernt.“

„Und können doch nur auf einer Seite stehen?“

„Solange die Mauer dazwischen ist – ja.“

„Sie sind sehr offen“, stellte Franz fest und drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. „Aber das schätze ich an euch Westlern.

 

Kommen Sie, schnappen wir ein wenig Luft auf dem Balkon. Meine Frau macht sich über die kalten Platten her“, fügte er mit einem abfälligen Seitenblick zum Büfett hinzu. Papst konnte nicht erkennen, wer in dem Klumpen aus buntem Taft und Satin die Frau von Franz sein mochte.

Der andere legte schwer die Hand auf seine Schulter …

Und während sie durch das angrenzende Zimmer auf ein Viereck aus wehenden Gardinen zugingen, bemerkte er, dass Franz offenbar nur deshalb wie ein Sack an seiner Seite hing, weil er Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Der Balkon ging auf nachtschwarze Hinterhöfe hinaus. Von der Rückseite wirkten die alten Häuser aus der Anfangszeit des Jahrhunderts noch zerfallener. Manche Fassaden sahen aus, als seien sie mit dunklem Schlamm oder nassem Sand beschmiert worden.

„Wie stehen Sie zu den menschlichen Erleichterungen der letzten Monate?“, fragte Papst.

Der andere bedachte ihn mit betretenem Blick. Seine Fischaugen vergrößerten sich im Dämmerlicht blitzartig, als hätten sie einen Hecht erspäht.

Gleich darauf hatte er sich wieder gefangen.

„Sehen Sie ... meine Eltern kamen 1944 im Konzentrationslager um. Entschlossener Widerstand der Deutschen hätte das verhindert. Die Partei war bisher der Ansicht, dass eine zu weiche Hand in Zeiten der Bedrohung oder des Übergangs eher Schaden anrichtet. Sie versteht es, aus der Geschichte zu lernen.

Bis vor kurzem neigte ich selbst diesem Standpunkt zu. Aber es gibt gewisse Hinweise, dass die Ära der harten Hand auch bei uns ihrem Ende zugeht.“

„Sollte man die Grenzen eines Tages öffnen, so würde das zusammen mit dem bisher erreichten Lebensniveau den Osten in den Augen vieler Westler attraktiver machen.“

„Sie sind sehr optimistisch.“

„Ich meine, dass die bisherige Politik der politisch Verantwortlichen auf zunehmende Einsicht in diesen Zusammenhang hinweist.“

„So? – Nennen Sie es Einsicht ...“, murmelte er zum Geländer gewandt.

Papst konnte der Betonung seiner Worte nicht entnehmen, ob der Rest als Frage oder als Feststellung gemeint war.

„Wie ich in den Nachrichten gelesen habe, soll selbst ein so orthodox marxistisch-leninistisch orientiertes Politbüromitglied wie Gabriel Pfingst sich für eine Einschränkung des Schießbefehls an der Grenze ausgesprochen haben. Es gibt Gerüchte im Westen, dass er die Verwendung von neuartigen Betäubungsgasen empfahl. Können Sie mir verraten, ob an dieser Annahme etwas Wahres ist?“

„Fragen Sie ihn doch selbst“, schlug Franz vor. „Es ist der Mann neben Südhof, einem der Sekretäre des Politbüros.“

Papst kannte keinen von beiden. Aber die Richtung, in die Franz‘ Finger deutete, war leider unmissverständlich.

„Bewahre. Ich würde es niemals wagen, mich ihm so einfach aufzudrängen …“

„Ach was, kommen Sie einfach mit. Ich stelle Sie vor.“

Papst folgte ihm widerstrebend und mehr aus Höflichkeit. Er hatte das Gefühl, zu weit gegangen zu sein. Noch peinlicher war es ihm, dass der Sekretär ein erstaunlich junger Mann in der Riege alter Herren – keine Anstalten machte, die Viererrunde zu verlassen, als Franz ihn Pfingst vorstellte.

„Dieser junge Mann hat eine Frage an dich, Gabriel.“

Papst kam es so vor, als verstumme schlagartig das Stimmengewirr im Raum, ebbe plötzlich ab, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Doch das war sicher nur Einbildung.

Immerhin musterten ihn einige Umstehende interessiert.

„Sie sind ein Freund Julias, nicht wahr?“, fragte Pfingst. Er erinnerte Papst mit seinem unauffälligen Gesicht an den Typ des kleinen Beamten, der sich durch unmerkliche Schritte im Rahmen einer strengen Ordnung in der Hierarchie heraufgearbeitet hatte. (Nur sein etwas zu stahlblauer Anzug aus feinstem Tuch passte nicht zu diesem konventionellen Bild.) Während er sprach, beobachtete Pfingst die aufgespießte Olive im Glas des Sekretärs und folgte ihr, bis sie hinter seinem strahlend weißen Gebiss verschwunden war.

„Er interessiert sich dafür, Gabriel, ob du eine Veränderung der Bewaffnung unserer Grenzsoldaten befürwortest“, erläuterte Franz genüsslich und betonte jedes Wort.

Papst hatte den Eindruck, dass er völlig betrunken war. Er schwankte leicht und sah mit trübem Blick in die Runde.

Zu Papsts Erstaunen vergrößerten sich Pfingsts Pupillen ebenso abrupt zur selben Größe, wie er es bei Franz auf dem Balkon beobachtet hatte. Wenn auch nur für Augenblicke.

Es schien ein heikles Thema zu sein …

Franz wandte sich schwankend ab und ließ ihn mit der Peinlichkeit der Frage allein.

„Es ist hier nicht üblich, solche Probleme in der Öffentlichkeit zu besprechen“, wandte Südhof ein.

„Oh, wenn es die Gelegenheit sein sollte, in irgend jemandes Kopf das Missverständnis zu berichtigen, ich hätte jein als für eine Änderung plädiert“, erklärte Gabriel Pfingst und stellte das Glas auf einer Chippendale-Kommode ab, um seine schlanken weißen Hände vor der Brust falten zu können, „dann gehe ich gern darauf ein. Man erzählt viel dummes Zeug in den westlichen Medien. Glauben Sie immer nur den offiziellen Verlautbarungen. Es bewahrt Sie vor Enttäuschungen. – Und nun entschuldigen Sie uns bitte.“

Papst hatte das Gefühl, einen neuen Feind gewonnen zu haben, denn Pfingsts Miene war eisig, während er mit Südhof zu den Tischen hinüberging.

Sekunden später stand er verlassen inmitten des Menschengewühls. Zu dumm, dachte er, dass ich das Thema angeschnitten habe. Dieser fischäugige kleine Kerl mit der Alkoholfahne hatte ihn leichtsinnig werden lassen. Es war offenkundig, wie wenig er das komplizierte Spiel von öffentlicher Rede und Gegenrede beherrschte, das man auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs pflegte. Es gab Tabus, und in Zukunft würde er sie zu berücksichtigen wissen.

„Sie haben in ein Fettnäpfchen getreten“, bemerkte eine Männer stimme hinter ihm.

Papst wandte sich uni und sah in ein bekanntes Gesicht. Er wusste es nur nicht auf Anhieb unterzubringen.

Es schien derselbe Mann zu sein, der mit Schröder von der Universität gesprochen und ihm dabei den Rücken zugewandt hatte, wie er an seinen hellblonden, fast weißen Haar erkannte. Papst schätzte ihn auf etwa sechzig. Sein Gesicht leuchtete rosig und seine ungewöhnlich großen Hängebacken verzogen sich zu einem verbindlichen Lächeln.

„Franz und Pfingst sind so etwas wie politische Kontrahenten. Franz wirft Pfingst einen völlig unmotivierten Wandel seiner Ansichten vor. Liberalisierung und Öffnung zum Westen. Pfingst bestreitet es und behauptet dasselbe von Franz. Die Herren des ZKs und Politbüros sind leider im Zuge einiger politischer Veränderungen der letzten Monate aneinandergeraten.“

„Meine Frage war sehr unklug.“

„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, junger Freund. Man vergisst hier schnell, weil die Köpfe von politischen Fragen rauchen.

Gestatten Sie, te Breuil – pensionierter Leutnant der Volksarmee …

Ein Künstlername, unter dem Sie möglicherweise schon einmal von mir gehört haben, da ich mich seit einigen Jahren der Malerei widme?“, fragte er.

„Bedaure. Leider bin ich in zeitgenössischer Kunst wenig bewandert.“

„Aber reden wir doch von Ihrer Arbeit. Wie geht es? Haben Sie sich in der Bibliothek eingelebt?“

Papst musterte ihn überrascht. Anscheinend wusste hier jeder über ihn Bescheid.

„Danke, recht gut.“

„Haben Sie schon Kontakte geknüpft?“

„Ich hatte wenig Gelegenheit dazu.“

„Ja, diese Bücherseelen blicken selten über den Rand ihres bedruckten Papiers hinaus. Alfons Margott scheint jetzt regelmäßig dort zu arbeiten? Er hat seine Gartenlaube verlassen, was nur geschieht, wenn man wieder mit einer bedeutenden wissenschaftlichen Veröffentlichung rechnen darf. Es ist immer ein nationales Ereignis. Ein glänzender Kopf – vielleicht der bedeutendste Gelehrte des Landes.“

„Ich konnte ihn bei der Arbeit beobachten“, bestätigte Papst, um irgendetwas zu sagen.

„Leider habe ich schon länger nicht mehr mit ihm gesprochen. Wie geht es meinem alten Freund Alfons? Plagen ihn noch immer seine zahllosen Zipperlein?“

„Er hat sich verändert, seit ich ihm auf einer Beerdigung im Westen begegnet bin.“

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