Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren

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1.2 Leitfragen

Die Aufgabe des Historikers und damit auch des Rechtshistorikers besteht vor allem darin, den überkommenen Stoff zu sichten und zu ordnen. Die Leitfragen schlagen einige Breschen in die Quellenmassen. Sie tragen auf diese Weise dazu bei, das Kurzlehrbuch schlank zu halten. Im Wesentlichen geht es um drei große Fragen: 1. Welche Rolle spielte die Staatsgewalt für die Rechtsdurchsetzung in verschiedenen Zeiten? 2. Wie sah die jeweilige Gerichtsverfassung aus, welche Gerichte gab es, und welche Personen waren dort tätig? 3. Was waren die Prozessmaximen des jeweiligen Verfahrensrechts, und welche Möglichkeiten bestanden, gerichtliche Entscheidungen anzugreifen?

1.2.1 Staatsgewalt

An erster Stelle steht die Frage nach der Staatsgewalt. In welcher Weise sind und waren die Gerichtsverfassung und das Verfahrensrecht an den Staat oder einen Herrscher gebunden? Im modernen Recht fällt die Antwort leicht. Gerade in der älteren Zeit, der sog. Vormoderne, ist aber Vorsicht geboten. Rechtshistoriker und Juristen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis hin zu Eduard Kern und Heinrich Mitteis haben nach Vorformen von Rechtsstaatlichkeit, ja sogar von Demokratie bei den Germanen und im frühen Mittelalter gesucht. Das kann heute nicht mehr überzeugen, weil es damals noch gar keinen Staat gab. Die Leitfrage im Blick ermöglicht es vielmehr, auch Zeiten ohne Staatsgewalt zu erkennen und einzuordnen. Bis weit ins Mittelalter hinein kann von einem Staat im modernen Sinne keine Rede sein. Inwieweit Gerichte [<<14] und ihr Verfahren an einen Herrscher angebunden waren, erweist sich als schwieriges Problem, das nach unterschiedlichen Antworten verlangt. Überhaupt geraten erst dann, wenn man die Abwesenheit von Staatsgewalt ernst nimmt, andere zeittypische Formen rechtlicher Konfliktbewältigung vor das Auge des Betrachters. Gewalt und Konsens als Urformen der Streitlösung stehen am Anfang der Geschichte. Blutrache und Fehde bestimmten über lange Zeiträume die Rechtsdurchsetzung. Ob man sie als rechtliche Verfahren oder eher als tatsächliche Maßnahmen ansieht, ist vor allem eine sprachliche Frage.

Erst im hohen Mittelalter wurde die Fehde nach und nach bestimmten Spielregeln unterworfen. Die Gottes- und Landfrieden beschränkten sie zeitlich, örtlich und personell. Die entstehende Staatsgewalt versuchte, Frieden zu gewährleisten, und ging daher gegen die eigenmächtige Selbsthilfe vor, ohne sie zunächst aber zu verbieten. Der enge Zusammenhang von Fehdebeschränkung und hoheitlicher Gerichtsbarkeit stand den Zeitgenossen klar vor Augen. Besonders deutlich sieht man dies im Mainzer Reichslandfrieden von 1235. Er unterwarf nicht nur die Fehde mehreren strengen Voraussetzungen, sondern stellte mit dem erneuerten Reichshofgericht zugleich auch ein oberstes Reichsgericht bereit, das die königliche Gerichtsgewalt für jedermann sichtbar verkörperte. Erst mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 gab es ein endgültiges Fehdeverbot. Erneut trat mit dem Reichskammergericht ein Gericht auf den Plan, das Landfriedensbrüche ahnden sollte. Im Hinblick auf die erste Leitfrage ist die Zäsur von 1495 gar nicht scharf genug zu ziehen. Auf dem Papier gab es nun das obrigkeitliche Gewaltmonopol, das Verbot jedweder Selbsthilfe, unterstützt durch ein neu organisiertes Gericht. Das hat Konsequenzen für den Aufbau dieses Lehrbuchs. In der Prozessrechtsgeschichte gibt es zwei wesentliche Zeittypen: Die Zeit vor dem staatlichen Gewaltmonopol und die Zeit unter dem staatlichen Gewaltmonopol. Dies erklärt die Zweiteilung des Buches.

Die hier gezogene Epochengrenze beruht auf einer deutschen Sichtweise. Eine deutsche Rechtsgeschichte erscheint manchen Rechtshistorikern inzwischen als verdächtig, teilweise gar als „unerträgliche Fiktion“. Doch wenn sich die Darstellung weithin auf die Rechtsgeschichte des deutschsprachigen Raumes beschränkt, behauptet sie damit nicht, die einheimische Rechtsgeschichte habe sich unbeeinflusst von anderen Traditionen aus ihren urgermanischen Wurzeln zur Blüte des 19. Jahrhunderts hin entwickelt. Zahlreiche Weichenstellungen verdankt das moderne Prozessrecht dem kanonischen Recht der mittelalterlichen Kirche und dann vor allem den französischen Reformen der napoleonischen Zeit. Auf dem Weg zum staatlichen Gewaltmonopol bildet 1495 aber eine Epochengrenze, die vorliegend einen älteren von einem neueren Sachtyp trennt. Auch Graustufen und Übergänge lassen sich mit der Leitfrage erfassen. Letzte Reste [<<15] der Patrimonialgerichtsbarkeit und der Aktenversendung an Universitäten verschwanden erst mit den Reichsjustizgesetzen von 1877/79. Und die staatliche Gerichtsbarkeit begann im 20. Jahrhundert zu zerbröckeln. In den Diktaturen war die Justiz nicht nur Werkzeug politischer Interessen, sondern zugleich beschränkt durch Sonderrechte von Polizei und Parteiorganisationen. Schließlich hat mit dem Verblassen der Staatsgewalt seit etwa 1960 auch die Gerichtsbarkeit weiter Federn gelassen. Europäische und internationale Gerichtshöfe überlagern die staatliche Justiz, Schiedsgerichte umgehen sie, Mediationen und Vergleichsschlüsse schaffen Rechtsfrieden ohne staatlichen Befehl. Das Lehrbuch stellt im Schlusskapitel das klassische rechtsstaatliche Ideal der tatsächlichen modernen Buntheit gegenüber. Daraus folgen mehrfach sehr subjektive Wertungen. Aber Geschichtsschreibung kommt nicht umhin, die Vergangenheit zu deuten. Die Maßstäbe werden freilich nur selten offengelegt, tauchen hier aber an verschiedenen Stellen auf.

1.2.2 Gerichtsverfassung

Die zweite Leitfrage umkreist die Gerichtsverfassung. Untechnisch gesprochen geht es darum, wer Rechtsstreitigkeiten entscheidet. Im modernen Recht hat man es mit unabhängigen Berufsrichtern zu tun, die ein Jurastudium und zwei Staatsprüfungen absolviert haben. Die Gerichtsbarkeit ist horizontal in verschiedene Gerichtskreise bzw. Gerichtssprengel und vertikal auf mehrere Instanzen aufgeteilt. Dazu treten feste Zuständigkeitsregeln. Neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit gibt es andere Zweige, nämlich die Verwaltungs-, Arbeits-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit. Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder vervollständigen das Bild. Doch auch innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind die jeweiligen Funktionen fest zugewiesen. Der Blick in die Geschichte zeigt erneut Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Über- und Unterordnung von Gerichten mit festen Instanzen begegnet zuerst im kirchlichen Bereich und wird im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation seit dem 15. Jahrhundert auch im weltlichen Recht greifbar. Der studierte Berufsrichter taucht ebenfalls seit dem Mittelalter in der Kirche, aber auch in italienischen Kommunen auf. Ganz anders sah die einheimische Tradition aus. Der Richter war hier Leiter des Verfahrens, nicht aber an der Urteilsfindung selbst beteiligt. Laienschöffen, ein sog. Umstand oder in der Frühzeit sogar die gesamte Gerichtsgemeinde fanden dagegen die Antwort auf die zu entscheidende Frage. An eine Gewaltentrennung ist hierbei nicht zu denken. Der Rat vieler mittelalterlicher Städte war zugleich Regierungsorgan und Gericht. In der Neuzeit waren die Universitäten in die Gerichtsverfassung eingebunden. Das Spruchkollegium der Juristenfakultäten entschied Anfragen in Zivil- und Strafsachen [<<16] und beförderte damit zugleich die Professionalisierung der Rechtpflege. Ein besonderes Augenmerk gilt den jeweils obersten Gerichten. Wie waren sie organisiert und worüber entschieden sie?

1.2.3 Prozessrecht

Die dritte Leitfrage umkreist das zeitgenössische Prozessrecht. Hierbei geht es insbesondere um die Prozessmaximen und Rechtsmittel. Das moderne deutsche Gerichtsverfahren ist geprägt durch öffentliche, mündliche Prozessführung, die freilich umfassend schriftlich vorbereitet wird. Im Zivilprozess beherrscht die Dispositionsmaxime das Verfahren. Danach entscheiden die Parteien über die Angriffs- und Verteidigungsmittel und geben dem Gericht den Streitgegenstand vor. Der Verhandlungsgrundsatz besagt, dass die Parteien auch für die Beibringung der Tatsachen verantwortlich sind. Das Gericht ist im Grundsatz auf die Entscheidung der Sache beschränkt. „Da mihi facta, dabo tibi ius“ (Gib mir die Tatsachen, ich werde dir das Recht geben), lautet der lateinische Sinnspruch dazu.

Im Strafverfahren dagegen gilt die Offizialmaxime. Von Amts wegen geht der Staat gegen Straftäter vor und setzt seinen eigenen Strafanspruch durch. Dazu passt die Instruktions- bzw. Inquisitionsmaxime. Denn auch die Ermittlung des Sachverhalts ist hier eine hoheitliche Aufgabe und richterliche Pflicht. Die Entscheidungen aller Gerichte erwachsen in Rechtskraft, wenn sie nicht rechtzeitig angegriffen werden. Doch Rechtsmittel stehen bereit. Berufung und Revision führen den Streit in eine höhere Instanz (Devolutiveffekt) und halten das bereits ergangene Urteil in der Schwebe (Suspensiveffekt). Das Rechtsmittelgericht prüft sodann je nach Rechtsmittel, ob dem Untergericht Fehler bei der Rechtsanwendung oder bei der Ermittlung des Sachverhalts unterlaufen sind. Liegt eine endgültige Entscheidung vor, kommt es zur Vollstreckung. Der Straftäter empfängt seine Strafe, möglicherweise wandert er ins staatliche Gefängnis. Im Zivilprozess steht der Gerichtsvollzieher bereit, den durch Urteil bestätigten Anspruch mit staatlichem Zwang durchzusetzen.

Der rechtshistorische Blick zeigt abermals die Voraussetzungen für verschiedene Prozessformen auf. Eine weitgehend schriftlose (orale) Gesellschaft ohne studierte Juristen gelangt hierbei zu ganz anderen Lösungen als eine von gelehrten Berufsrichtern geprägte Rechtsordnung. Die mittelalterliche Laiengerichtsbarkeit beruht weitgehend auf Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Strafprozess und Zivilverfahren waren lange Zeit nicht getrennt. Ziel des Verfahrens war es auch nicht, abstrakt-generelle Rechtsnormen auf einen Sachverhalt anzuwenden. Die Subsumtion ist vielmehr das methodische Rüstzeug des studierten Juristen. Im ungelehrten Prozess ging es [<<17] demgegenüber darum, den gestörten Frieden wiederherzustellen. Deswegen erlangten Eide der Parteien eine besondere Bedeutung. Als Leumundseide zählten sie zu den sog. irrationalen Beweismitteln, die für die Entscheidungsfindung oftmals wichtiger wurden als die Sachverhaltsaufklärung. Der gelehrte Prozess bewirkte hier die entscheidenden Veränderungen, bezeichnenderweise zunächst im Strafrecht. Kleriker, denen bestimmte Amtsvergehen angelastet wurden, durften sich nicht mehr durch Reinigungseid selbst entlasten. Das Lehrbuch legt daher besonderen Wert auf den Wandel des Prozessrechts, der sich mit der Rezeption des gelehrten Rechts vollzog. Man meint damit traditionell die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Rechts, auch die inhaltliche Anlehnung and römische und kanonische Vorbilder. Das Wort Rezeption und die früher teilweise damit verbundenen Vorstellungen sind inzwischen streitig geworden. Aber die Zunahme römisch-kanonischen Rechtsdenkens und das Universitätsstudium haben doch unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Das gilt in besonderer Weise für die Prozessrechtsgeschichte. Die Verschriftlichung des Verfahrens, feste Vorgaben für den Schlagabtausch zwischen den Parteien und ihren Anwälten, der Trend, hinter verschlossenen Türen zu entscheiden, die Möglichkeit, Urteile anzufechten – dies sind die entscheidenden Punkte, auf die es zu achten gilt. Untrennbar verbunden damit ist die Frage, ob und wie Gerichte ihre Entscheidungen gegenüber den Parteien, der Öffentlichkeit oder der Wissenschaft begründeten.

 

1.2.4 Auswirkungen der Leitfragen

Je stärker die Darstellung den Leitfragen folgt, auch wenn sie weitere Verfeinerungen vornimmt, desto deutlicher treten ganze Bereiche der Rechtsgeschichte in den Hintergrund. Die Rechtswissenschaft mit ihren Lehren spielt eine eher untergeordnete Rolle, ebenso über längere Phasen, vor allem in der älteren Zeit, die normativen Rechtsquellen. Das Lehrbuch wirft Schlaglichter auf die Geschichte der Rechtspraxis und bietet damit nur einen Ausschnitt aus einer allgemeinen Rechtsgeschichte. Vollständigkeit ist insoweit nicht angestrebt, auch nicht in quellenkundlicher Hinsicht. Die Zuspitzung soll es dagegen ermöglichen, die wesentlichen Linien der Prozessrechtsgeschichte zu erkennen, einzelne Stationen der Geschichte miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise ein tieferes Verständnis für die Grundbedingungen der jeweiligen Rechts- und Gerichtsordnung zu schärfen. Damit erhalten Studierende zugleich eine Vorlage, um sich auch in fremde Zeiten und Gebiete der Rechtsgeschichte einzuarbeiten. Das Lehrbuch möchte insofern ausdrücklich zur weiteren Quellenlektüre und zum Selbststudium ermutigen. [<<18]

1.3 Forschungsstand

Ein Lehrbuch zur Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts gibt es bisher nicht, geschweige denn eine umfassende Gesamtdarstellung. Die älteren Werke zur Deutschen Rechtsgeschichte enthalten häufig Kapitel über „Gericht und Rechtsgang“, oftmals aus einer romantischen oder national-rechtsstaatlichen Perspektive. Die Quellenkenntnis von Autoren wie Heinrich Brunner, Richard Schröder oder Eberhard Freiherr von Künßberg beeindruckt noch heute. Das Gesamtbild, das ihre Bücher vermitteln, ist freilich seit Jahrzehnten überholt. Gerade die Sichtweise auf die frühen Phasen der Rechtsgeschichte, auf die sog. germanische und fränkische Zeit bis weit ins Mittelalter hinein, hat sich deutlich gewandelt. Aber selbst jüngere Lehrbücher wie das von Heinrich Mitteis 1949 begründete auflagenstarke Becksche Kurzlehrbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte haben bis zur letzten Neubearbeitung 1992 durch Heinz Lieberich unbeirrt am überkommenen germanistischen Blick auf die Vergangenheit festgehalten.

1.3.1 Lehrbücher

Eine echte Zäsur bedeutete deshalb das ganz eigenständige und neuartige Lehrbuch von Karl Kroeschell, 1972 begründet und nach und nach auf drei Bände erweitert. Den überlieferten Titel „Deutsche Rechtsgeschichte“ behielt dieses Werk bei, verzichtete aber bewusst auf große Linien und ein konstruiertes Gesamtbild. In kleinen Abschnitten kommen einzelne Episoden aus der Rechtsgeschichte, aber auch aus der Forschungsdiskussion daher und führen den Leser detailgenau in ausgewählte Bereiche ein. Zahlreiche abgedruckte Quellen regen zum Selbststudium an, sind freilich mit dem Text des Lehrbuchs kaum verknüpft. Die Prozessrechtsgeschichte nimmt bei Kroeschell einen breiten Raum ein. Gerade für die ältere Zeit hat er damit Maßstäbe gesetzt, hinter die neuere Darstellungen nicht zurückfallen dürfen. Andererseits ermöglichen es die oben angesprochenen Leitfragen, inhaltlich deutlich andere Schwerpunkte als Kroeschell zu setzen, Quellen umfassender einzubinden und stärker ausdrückliche Vergleiche zwischen den Epochen anzustreben. Überdies sind die Schilderungen des Kroeschellschen Lehrbuchs erheblich knapper und oft nur skizzenhaft.

Den ausdrücklichen Anspruch, die Geschichte der Gerichtsbarkeit lehrbuchhaft darzustellen, haben nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nur zwei Bücher erhoben. Im Erscheinungsjahr nur hauchdünn voneinander getrennt, erschienen 1954 eine „Geschichte der Gerichtsverfassung“ von Eduard Kern und 1953 die „Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500“ von Erich Döhring. [<<19]

Kerns Darstellung ist ihrem Anspruch nach ein klassisches Kurzlehrbuch. Es geht nicht um Forschungsfragen oder Literaturdiskussion, sondern um die gedrängte Vermittlung historischen Sachwissens. Der Bogen ist weit gespannt von der germanischen Frühzeit bis zum Nationalsozialismus. Aber nicht nur der methodisch veraltete rein normengeschichtliche Zugriff auf die einheimische Rechtsgeschichte stört aus heutiger Sicht. Viel gewichtiger ist ein anderer Einwand. Kerns Lehrbuch gibt sich überdeutlich als Einführung in das geltende Recht aus, gewissermaßen als erster Teil seines zweiten Lehrbuchs zum geltenden Gerichtsverfassungsrecht. Deswegen stehen die neuere Zeit und die Moderne ganz im Mittelpunkt. Die ältere Rechtsgeschichte muss sich mit wenigen Seiten begnügen, und genau sie beruhen auch nicht auf eigenen Arbeiten des Verfassers, sondern auf den noch älteren klassischen Großlehrbüchern. Kern war kein Rechtshistoriker, und das merkt man seinem Buch an. Für die neuere Gerichtsverfassung bietet sein Werk freilich viel Stoff, an den sich anknüpfen lässt.

Ein zweiter Gesichtspunkt mag nicht entscheidend sein, zeigt jedoch, wie sich der Zugriff auf die Geschichte in den vergangenen sechs Jahrzehnten geändert hat. Für Kern geht es schwerpunktmäßig um die Schilderung einer normativen Rechtslage. Gerichtsordnungen und Prozessgesetze bilden das Rückgrat des Buches. Die Praxis tritt dahinter zurück. Allgemeinhistoriker werfen genau dies der älteren von Juristen betriebenen Rechtsgeschichte gern vor. Der Blick auf die Normen soll den Zugriff auf die historische Wirklichkeit verstellen. Doch hier ist zu differenzieren. Die Existenz einer Norm, ihr Erlass, ihr Inhalt und auch ihre zeitgenössische Auslegung sind als solches genauso historische Tatsachen wie ein Mordfall, eine Folterung oder ein Gerichtsurteil. Je für sich handelt es sich um Gegenstände, die einer rechtshistorischen Erforschung bedürfen. Es darf nur nicht der Eindruck entstehen, die Kenntnis historischer Gesetze eröffne die Sicht auf die Rechtspraxis. Sein und Sollen bleiben auch in der Prozessrechtsgeschichte getrennt. Auf der anderen Seite sind übermäßige Vorbehalte von Rechtshistorikern gegen eine Beschäftigung mit der Geschichte der Rechtspraxis unbegründet. Es gibt kein methodisches Gebot, zunächst eine wie auch immer verstandene Rechtslage zu erforschen, bevor man sich der zeitgenössischen Praxis zuwenden darf. Hier unterscheiden sich schlichtweg persönliche Interessen und auch die jeweiligen Quellengrundlagen. Aber genau deswegen kann ein Lehrbuch wie das von Kern eine moderne Prozessrechtsgeschichte nicht ersetzen.

Erich Döhring legte 1953 mit seiner „Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500“ ein ganz ungewöhnliches und eigenständiges Werk vor. Ob es sich um ein studentisches Lehrbuch oder eher um ein Lesebuch für gebildete Juristen handeln soll, bleibt etwas unklar. Im Zugriff jedenfalls brach Döhring mit vielen Eigentümlichkeiten der Lehrbuchliteratur. Das zeigt sich bereits an der Gliederung. Die überkommene Chronologie [<<20] mit ihren traditionellen Epochenbezeichnungen ist aufgelöst in mehrere Hauptteile, die u. a. verschiedene juristische Berufe wie Richter und Anwälte beleuchten. Und hier geht es Döhring auch nicht nur um die jeweilige Gesetzeslage, sondern zusätzlich um Fragen wie Ausbildung und Einkommen. Mit der weitgehenden Beschränkung auf die Neuzeit schließt sich das Buch anderen seinerzeitigen Darstellungen an, etwa der „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ von Franz Wieacker (erstmals 1952) oder der als Fach im Entstehen begriffenen „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“. Doch die Ausblendung der älteren Geschichte fordert bei Döhring ihren Preis. Denn wie lehrreich der Vergleich zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Prozessrecht sein kann, vermag sein Buch nicht zu zeigen und will dies auch gar nicht. Außerdem haben sich nicht nur zahlreiche Sichtweisen im Laufe eines halben Jahrhunderts geändert. Vor allem hat sich unsere Kenntnis der neuzeitlichen Rechtspflege erheblich verbessert. Dennoch ist Döhrings Werk zu Unrecht in die zweite Reihe getreten. Es handelt sich um einen beherzten und originellen Zugriff, der auch heute noch zahlreiche Einzelheiten vermittelt, die in keinem gängigen Lehrbuch zu finden sind.

Nur der Vollständigkeit halber sei ein weiteres Buch kurz erwähnt, das ein wenig aus dem Rahmen fällt. Es handelt sich um den bekannten und weit verbreiteten Katalog des Kriminalmuseums Rothenburg ob der Tauber mit dem sehr vielversprechenden Titel „Justiz in alter Zeit“. Doch geht es dort gerade nicht um eine Geschichte der Gerichtsbarkeit. Zahlreiche einzelne Beiträge stammen zwar aus der Feder von Rechtshistorikern. Der Schwerpunkt liegt aber auf der älteren Strafrechtsgeschichte mit Ausgriffen auf das frühneuzeitliche Policeyrecht. Die Zeit ab etwa 1800 fehlt vollständig. Im Vordergrund stehen die zahlreichen Abbildungen frühneuzeitlicher Gerichtsszenen, Exekutionen und Schandstrafen. Trotz des sehr günstigen Verkaufspreises wird das Werk wohl kaum als Lehrbuch genutzt.

Rechtshistorische Lehrwerke zur Prozessrechtsgeschichte, zu Gericht und Verfahren sind auch im Ausland eher rar gesät. Wichtige Überblicke stammen von Raoul C. van Caenegem zur Rolle des Richters, aber auch zum Zivil- und Strafprozess. Aus Frankreich gibt es die umfangreiche Übersicht einer Autorengruppe um Jean-Pierre Royer sowie die Bücher von Benoît Garnot und Jean-Marie Carbasse (Lit. zu 1.3.1).