Lust und Frust der Patchwork-Familie

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Unterschiedliche Lebensläufe

Nicht nur die Lebens- und Familienformen, auch die Lebensläufe der Menschen haben sich vervielfältigt. Jeder Mensch schreibt seine ganz persönliche Lebensgeschichte. Niemand schreibt ihm mehr vor, wie er zu leben hat. Es gibt keine standardisierten Lebensbiografien mehr, auch wenn nach wie vor bestimmte Normen, Traditionen, Konventionen das (Zusammen-)Leben zu regeln und zu ordnen versuchen. Aber sie werden nicht mehr fraglos übernommen, sondern zunehmend kritisch hinterfragt und mitunter infrage gestellt.

So driften die Lebensläufe der Menschen mehr und mehr auseinander. Wenn dann zwei Partner zusammenkommen, stoßen nicht selten „Welten“ aufeinander: bedingt durch unterschiedliche Herkünfte, unterschiedliche Lebensweisen, unterschiedliche Weltanschauungen, unterschiedliche Familienformen, unterschiedliche Lebenserfahrungen ...

 Er kommt aus einer traditionellen Familie, sie aus einer Patchworkfamilie.

 Sie hat die Silberhochzeit ihrer Eltern dankbar erlebt, er Trennung und Scheidung seiner Eltern schmerzlich erfahren.

 Sie ist mit Vater und Mutter aufgewachsen, er nur mit einem Elternteil.

 Er hat mehrere Geschwister, sie ist Einzelkind.

 Sie kommt aus begüterten Verhältnissen, er musste mit dem Geld schon rechnen.

 Er entstammt einem religiösen Elternhaus, ihre Familie hat mit Glaube und Kirche „nichts am Hut“.

 Sie wuchs behütet auf, er hat Gewalt in der Familie „am eigenen Leib“ erfahren.

 ...

Solche markanten Gegenläufigkeiten können das Leben in Partnerschaft, Ehe und Familie belasten oder bereichern, je nachdem, wie die Paare mit diesen Gegensätzen umzugehen verstehen. In der Praxis bedeutet das: Am Anfang einer jeden Partnerschaft stehen zwei grundverschiedene, oft sich sogar widersprechende Beziehungsmuster und Familienbilder. Sie erklären so manche „ungleichzeitige“ Wünsche, Pläne, Vorhaben und so manche vorläufige Unvereinbarkeiten in der Umsetzung. Gut, wenn dann die Paare im gegenseitigen Respekt vor der jeweiligen Lebensgeschichte des anderen sich letztendlich doch zu einem gemeinsamen Lebenskonsens durchringen können.

Kein Abschied von der Familie

Noch die ältere Generation kannte die „klassische Familienlaufbahn“: erst Liebespaar, dann Ehepaar, wenig später Elternpaar. Familie, so viel war klar, war ein Paar, verheiratet, ein oder mehrere Kinder. Es gab Ausnahmen, aber sie fielen aus dem Rahmen und passten nicht ins Bild einer „anständigen Familie“.

Heute ist mehr oder weniger klar: Familie ist da, wo Kinder aufwachsen und Erwachsene sich – hoffentlich liebevoll – um sie kümmern.

Wurden in den Fünfzigerjahren noch 98 Prozent aller Kinder in die klassische Familie hineingeboren, so lebt heute ein knappes Drittel der Kinder in anderen Familienformen. So werden immer mehr junge Leute bereits in ihrer Kindheit und Jugendzeit mit den vielfältigen Lebens- und Familienformen konfrontiert. Diese unterschiedlichen Familienerfahrungen prägen heute weithin „ihr“ Bild von Familie.

Der Wandel bedeutet jedoch keinen Abschied von der Familie. Wohl aber von der „festen Norm“ der Familie, der so genannten „normalen Familie“. Die anderen Familienformen haben sich längst befreien können von lang gehegten Klischees und Vorurteilen. Kaum jemand spricht mehr von „unvollständigen“ Familien, von Teil- oder Ersatzfamilien, von Zweit- oder Drittfamilien. Und schon gar nicht von der rufschädigenden „Stieffamilie“.

Wer die eine Lebensform gegen die andere ausspielt, wird der Sehnsucht der Menschen nach der Familie nicht gerecht. Die einseitige Idealisierung einer Familienform hat oft genug zur Diskriminierung der anderen geführt. Jede Familie, welcher Art auch immer, hat ihre Chancen und Möglichkeiten, aber auch ihre Risiken und Unzulänglichkeiten.

Der Wind gesellschaftlichen Wandels weht in alle Familien hinein, gelegentlich ganz schön stürmisch. Die einen errichten Schutzmauern, die anderen wiederum bauen Windmühlen. Vielleicht sind beide Reaktionen – jeweils zu gegebener Zeit – nötig und sinnvoll. Damit die Sehnsucht nach der Familie nicht verloren geht ...

Nichts in der Welt

geht zugrunde;

es wandelt sich nur

und ändert

seine Gestalt.

(aus Indien)

2.

Wenn aus dem Traum ein Albtraum wird

 Scheidungskinder

 Ein uralter Traum

 Wenn eine® geht

 Kein Makel mehr

 Auftrauern statt nachtrauern

 „Niemals geht man so ganz ...“

 Kein heil-loses Ende

 Eltern geblieben

Scheidungskinder

„Am schlimmsten war es, als der Richter mich fragte, zu wem ich nach der Scheidung will. Ich wollte sie doch beide.“ Lisa, 12 Jahre

„Es hat mich entsetzlich fertiggemacht, als mein Vater weg war. Damals war ich sechs Jahre. Ich habe meiner Mutter, die ich sehr lieb habe, den Tod gewünscht. Ich gab ihr die Schuld, dass der Vater ging. Aber auch auf ihn war ich sauer, weil er mich allein ließ. Heute weiß ich, dass es das Beste war für alle. Ich habe mich mit beiden schon längst versöhnt. Vielleicht habe ich heute viel mehr von ihnen, wo sie nicht mehr zusammen sind.“ Paul, 14 Jahre

„Manchmal habe ich eine Stinkwut auf meine Mutter, die uns einfach verlassen hat. Aber wenn ich bei Freunden zuhause bin und sehe, wie beschissen es dort zwischen den Eltern zugeht und wie die Kinder darunter leiden, dann bin ich doch irgendwie erleichtert.“ Ulrich, 11 Jahre

„Als meine Mutter nach der Scheidung mit ihrem neuen Freund ankam, dachte ich nur: Um Gottes willen, jetzt geht es wieder von vorne los! Aber es läuft ja ganz gut an. Hoffentlich bleibt es so.“ Susanne, 13 Jahre

Ein uralter Traum

Alles beginnt ja mit einem Traum: dass man irgendwann einen Menschen findet, der zu einem passt. Mit dem man glücklich werden könnte. Den man dann heiraten würde, mit ihm Kinder bekäme und Familie leben würde „auf Gedeih, nicht auf Verderb“. Und mit dem man ein Leben lang zusammenbleiben würde und gerne miteinander alt werden wollte. So wie bei der Hochzeit versprochen: „bis dass der Tod uns scheidet ...“

Ein uralter Traum, der Traum vom „großen Glück“, endlich zu finden in der eigenen Ehe und der eigenen Familie. Ganz unschuldig geträumt von Menschen über Generationen hinweg. Ein Traum, so tief im Menschen fest verwurzelt, dass ihm nicht einmal die radikalen gesellschaftlichen Umbrüche etwas anhaben können.

Mit jeder Liebesgeschichte beginnt eine neue Hoffnungsgeschichte. Diese Hoffnung steht auch am Beginn einer jeden Ehe ganz groß da. Und diese Hoffnung trägt später ganz wesentlich das Eheleben. Sie wird bestätigt und bestärkt durch den Zusammenhalt über Konflikte und Krisen hinweg. So halten manche Ehen ewig, ein Leben lang.

„Trenne dich nie von deinen Träumen und Illusionen! Sind sie verschwunden, so magst du noch existieren, aber du hast aufgehört zu leben.“ (Mark Twain)

Andere wiederum nur ein paar Jahre, wenn aus der Hoffnung mit der Zeit schleichende Hoffnungslosigkeit geworden ist. Jede Trennung, jede Scheidung ist das bittere Ende einer Hoffnungsgeschichte und der Beginn einer oft unendlichen Leidensgeschichte.

Wenn eine® geht

bleibt eine® zurück, und oft auch ein oder mehrere Kinder. Wer mag da ermessen, was da alles zerbricht an Lebensmut, an Lebensfreude, mitunter auch an Lebenswille. Trennung und Scheidung sind nun mal dramatische Ereignisse und radikale Einschnitte im Leben der Menschen, gleich welchen Alters. Zwei, fünf, zehn oder gar zwanzig und mehr Jahre gemeinsamer Lebensgeschichte sind tief eingeschrieben in die Lebensbiografie aller Familienmitglieder. Diese Kapitel mit ihren vielen „gedruckten Seiten“ hinterlassen ihre Eindrücke und Spuren, oft ein Leben lang. So schnell und so leicht lassen sie sich aus dem „Lebensbuch“ nicht herausreißen ...

In Deutschland werden jedes Jahr um die 200000 Ehen geschieden. In den letzten Jahren war die Zahl der Scheidungen allerdings rückläufig – ebenso wie die der Eheschließungen – und lag 2010 bei 185800. In den Jahren davor – von 1993 bis 2004 – war die Zahl der Scheidungen hingegen rasant von 135000 auf 214000 angestiegen. Etwa 160000 Kinder sind Jahr für Jahr betroffen von der elterlichen Scheidung. Das Statistische Bundesamt zählt nur die verheirateten Paare und ihre leiblichen Kinder. Auffallend ist der Anstieg der Scheidungen in den späteren Ehejahren, oft noch nach der Silberhochzeit.

Nachruf

Seit du weg bist

weiß ich

wonach ich suchte

als du da warst

(Friedrike Frei)

Scheiden tut weh, ganz gleich, wie lange der „Bund fürs Leben“ gehalten hat. Kaum jemand geht so leichthin, schon gar nicht so leichtfertig aus seiner Ehe heraus, wie gelegentlich unterstellt wird. Auch wenn die gesellschaftlichen Normen diesen Schritt heutzutage zu erleichtern scheinen. Die endgültige Trennung ist und bleibt ein schwieriger und zugleich schwerwiegender Entschluss, oft erst nach jahrelangem Ringen, Zögern und Zaudern gefällt. Und wie oft sind mit diesem Schritt finanzielle Einbußen und sozialer Abstieg verbunden!

Noch viel gravierender als alle materiellen Verluste sind die psychischen Folgen einer „enttäuschten Liebe“. Wer sich in seiner Liebe verraten fühlt, wird verbittert um seine Ansprüche kämpfen. Denn die Kränkung des Ichs, die Entwertung der Person, die Verletzung des Selbstwertgefühls schlagen tiefe Wunden. Wie oft arten Trennung und Scheidung letztendlich in einen zerstörerischen „Rosenkrieg“ aus ...

 

Kein Makel mehr

Ließ man sich früher scheiden, war das ein Makel. Nicht allein die öffentliche, von der Kirche maßgeblich beeinflusste Moral hielt die Ehen zusammen. Auch ökonomische Zwänge verhinderten den vollzogenen Bruch der Beziehung. Ehe war damals reiner Überlebenskampf in den Handwerksbetrieben und auf den Bauernhöfen. Da waren auch Kinder willkommene Arbeitskräfte. Man blieb auf ewig zusammen wegen der Existenz, der Moral, der Tradition. Weil man nicht anders konnte ...

Heute ist Scheidung kein Tabu mehr. Trennung, Wiederheirat und Patchworkfamilie sind längst gesellschaftsfähig geworden. Niemand wird mehr verbannt oder ausgeschlossen. Man hat viel Verständnis für die menschlichen Nöte und Probleme des Scheiterns. Schließlich kann es ja jede(n) jederzeit treffen, sei es ganz persönlich, sei es in der eigenen Familie.

Seit das gemeinsame Leben weniger von materiellen Bedingungen, sondern zunehmend von immateriellen Werten, wie Liebe und Vertrauen, zusammengehalten wird, ist die Ehe immer anfälliger und fragiler geworden. Und die Menschen, Erwachsene wie Kinder, werden immer verletzlicher und verwundbarer. Bei Trennung und Scheidung sind alle gemeinsam die „Leidtragenden“: die, die bleiben, aber auch die, die gehen. Mag die Ehe auch rechtlich geschieden sein, bleibt doch die Frage offen, ob und inwieweit die Partner und vor allem die Kinder sich auch emotional voneinander „scheiden“ können ...

„Wenn einer geht, bleibt einer da, und wer bestimmt, von welchem nun das Herz zerrissener ist?“ (Bettina Wegner)

Auftrauern statt nachtrauern

„Nie hätte ich im Traum daran gedacht, dass es mit uns einmal so enden würde. Ich bin todunglücklich.“ Wie diese Frau empfinden viele Menschen. Trennung und Scheidung erleben sie wohl zurecht als „Tod“ ihrer Beziehung. Liebe kann sterben, sie kann lieb-los werden. Menschen können sich auseinanderleben, wenn Leben aus der Liebe und Liebe aus dem Leben auswandern ...

Scheidung ist wie Sterben! Nichts polstert gegen den Schmerz, gegen die Traurigkeit, gegen das vermeintliche Versagen. Die Gefühle sind im Sturzflug. Die Seele verwundet. Es braucht seine Zeit, mit dem Scheitern fertig zu werden – eine wirkliche Zeit der Trauer. Wer nicht auftrauert, wird ständig nachtrauern. Er wird den Verlust nicht verkraften und alle Kraft darauf verwenden, sich zu rächen – oft genug auf Kosten der Kinder! Wenn die Eltern zu Feinden werden, können sie nicht mehr Freunde der Kinder sein.

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