Die Welt verdient keinen Weltuntergang

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Ganz offensichtlich waren Celans frühe Gedichte vom französischen Surrealismus (der ja bis Prag und Bukarest ausgestrahlt hatte) beeinflusst, aber dieser Einfluss konnte ihnen nichts anhaben. Celans Sprachmagie war gespeist aus weit älteren Quellen, zurück über Rilke, Trakl, Mallarmé und Hölderlin, die chassidische Mystik (wie sie durch Martin Buber im deutschen Sprachraum vermittelt worden war) bis zu den jüdischen Psalmisten, deren Ton auch Nelly Sachs wieder aufgenommen hatte (an die Paul Celan später eines seiner eindringlichsten Gedichte richten sollte). Es ist aber vor allem anderen doch die Last des Entsetzens, aus der diese Gedichte geboren wurden und die zu tragen sie auf sich nahmen, welche sie mit einer solchen Aura des Unausweichlichen umgab, dass selbst noch Leser, die sich vergeblich mühten, in Celans Gedichtgeheimnisse einzudringen, doch keinen Augenblick lang deren Authentizität zu bezweifeln vermochten. Und auch jene, die an Celans Gedichten zunächst nur das Äußerliche, das Artifizielle oder Artistische, wahrzunehmen in der Lage waren und Celans Anspruch und öffentlichen Auftritt als unschickliches Hohepriestertum missverstanden, konnten sich doch seiner Ausstrahlung und der Beschwörungskraft seiner Verse auf Dauer nicht entziehen. Unübersehbar war ja zudem, dass Celans Gedichten Zweifel und Selbstzweifel tief eingegraben sind und sie unentwegt ihre eigene Möglichkeit oder Unmöglichkeit reflektieren.

Paul Celans lyrische Rede ist stets ein Sprechen in Widersprüchen, »das vor der Scheidung in Affirmation und Negation halt macht und nicht auf den glatten Aussagesatz hinauswill, sondern sich das volle Spektrum der Unentschiedenheit vor den Gegensätzen zu bewahren sucht« (Beda Allemann). Die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein, von Schrecken und Schönheit, von Leben und Tod, von Gottferne und Gottnähe ist innerster Beweggrund dieser Gedichte, was schon im Titel von Celans erstem Gedichtband, »Mohn und Gedächtnis«, anklingt, der die Antinomie des Verlangens nach Vergessen (Mohn) und der Unmöglichkeit, vergessen zu können (Gedächtnis), metaphorisch verklammert.

Paul Celan bestand stets darauf, kein hermetischer Dichter zu sein. Tatsächlich ist bei ihm nahezu jedes Wort zugleich konkret und symbolisch beladen, »jede Dunkelheit hat bei ihm ihre lichte Entsprechung« (Michael Hamburger). Dennoch bleibt seine Poesie, zumal die späte, deren Anspielungsreichtum kaum mehr zu erschließen ist und die an der Grenze des Sagbaren angesiedelt ist, weitgehend kryptisch. Manchmal gerät sie in die Nähe jenes Stammelns, das Celans Hölderlin-Gedicht im Gedichtband »Niemandsrose« (1963) geradezu zur Pflicht erhob: »Käme, / käme ein Mensch, / käme ein Mensch zur Welt, heute, mit / dem Lichtbart der / Patriarchen: er dürfte, / spräche er von dieser / Zeit, er /dürfte / nur lallen und lallen, / immer-, immer- / zuzu. // (›Pallaksch. Pallaksch.‹)« Auf beschränktem Raum über das wahrhaft Unerhörte von Celans Poesie auch nur einigermaßen Substanzielles auszusagen, ist leider ebenso unmöglich wie deren adäquate Übersetzung in andere Sprachen. Es sind da allenfalls Annäherungen möglich oder Echos. Doppelt erstaunlich, dass gerade Paul Celans Stimme außerhalb des deutschen Sprachraums früh Gehör fand und über seine Poesie in fremden Sprachen inzwischen weit mehr gelehrte Abhandlungen verfasst wurden als in Deutschland.

Eine kritische Anmerkung, Celans berühmtestes Gedicht betreffend, scheint an dieser Stelle unerlässlich. Gab Ingeborg Bachmann (die übrigens erst durch die Begegnung mit Celan als Dichterin ganz zu sich selbst kam) mit ihrem Gedicht »Alle Tage« der von der Restauration abgestoßenen deutschen Jugend so etwas wie ein poetisches Manifest an die Hand, so lieferte Paul Celan mit seiner »Todesfuge« den jungen Nachkriegsdeutschen das Gedicht, mit dem sich gleichzeitig die Schuld der Väter grell illuminieren und ästhetisch kompensieren ließ. Was später eine ganze Generation rebellischer Studenten von Herbert Marcuse lernte, nämlich dem »affirmativen Charakter der Kunst« zu misstrauen, hätte sich an der »Todesfuge«, deren allzu verführerische Metaphorik dem unerträglichen Leiden in den Lagern nachträglich ästhetischen Genuss abpresst, bestürzend exemplifizieren lassen. Celan war sich dieser Problematik bald bewusst, weswegen er den Abdruck der »Todesfuge« in Anthologien und Lesebüchern untersagte und sie bei seinen Lesungen nie mehr vortrug.

Ist Paul Celans Lyrik letztlich ein verzweifelter Versuch, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern und zu überschreiten, weswegen etwa Umgangssprachliches in sie so wenig Eingang fand, wie sie den Fundus alltäglicher Banalitäten berücksichtigt, so spielen ebendiese eine beträchtliche Rolle in den Gedichten zweier junger Dichter, die sich 1956 und 1957 erstmals mit Gedichten hervortaten (die ihr Wesentliches später aber in der Prosa, im Roman und im Essay, leisten sollten): Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger. Im Jahr 1956 waren sowohl Gottfried Benn wie Bertolt Brecht gestorben, aber nicht nur deswegen bedeutete dieses Jahr eine Zäsur in der Entwicklung unserer Nachkriegslyrik. Die Bundesrepublik hatte sich wirtschaftlich stabilisiert und ihr sogenanntes Wirtschaftswunder geschaffen, und die DDR, die den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 unbeschadet überstanden hatte, hatte sich politisch konsolidiert und war nicht, wie etwa Ungarn, von einer neuen Zerreißprobe bedroht.

Selbstbewusstsein also hier wie dort, und auffallend war denn auch, mit welchem Selbstbewusstsein der junge Grass und der junge Enzensberger hier und der junge Günter Kunert dort die jeweilige literarische Szene betraten. Schon die Titel der Gedichtbände von Grass und Enzensberger, die beide kurioserweise ein Tier im Wappen führen, signalisierten die neue Stimmung: »Die Vorzüge der Windhühner« (Grass) und »Die Verteidigung der Wölfe« (Enzensberger). Also Groteske und Ironie statt Pathos und Klage: der Titel von Grass ein Plädoyer für kindliche Einbildungskraft und für die Loslösung vom Boden der Tatsachen mittels Phantasie, der Enzensberger-Titel Indiz dafür, wie niederdrückende Betroffenheit nun einer neuen Unbefangenheit und einem Übermut gewichen ist, die den Umstand, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, ziemlich ungerührt ins Gesicht sehen. In der neuen Wohlstandsgesellschaft, so zeigen diese Gedichte, lässt sich wieder hedonistisch und lustvoll amoralisch sein. Beide Dichter verbergen nach Möglichkeit ihren aufklärerischen Impetus hinter der Clowns-Maske (Grass) oder der Zyniker-Maske (Enzensberger), beide geben sich gern vorsätzlich kindlich und liefern sich der Magie der gewöhnlichen Gegenstände und Dinge aus, die sie wie Spielsachen behandeln und durcheinanderwürfeln, nicht ohne gut gespieltes Entsetzen über den üblen Effekt, den ihre Aktivitäten anrichten. Auch dem Vergnügen am schlechten Geschmack lässt sich bereits frönen, es kündigt sich Pop-Art an.

Günter Grass, der in den fünfziger Jahren seinen Wohnsitz noch in Paris hatte und sich primär als Zeichner und Bildhauer verstand, nahm offenkundig den in Paris lebenden Bildhauer Jean Arp zum Vorbild, dessen dadaistische Gedichte damals eine Neuausgabe erlebten. Enzensbergers Vorbilder sind, trotz etlicher Benn- und Brecht-Reminiszenzen, schwerer zu bestimmen. Dieser eminent bewegliche Geist war von Anfang an in der weiten Welt zuhause und brachte von überall her Anregungen mit. Nicht von ungefähr wurde er Deutschlands ergiebigster Anthologist (der uns in seinem 1960 erschienenen »Museum der modernen Poesie« erstmals bekannt machte mit vielen Portalfiguren der Moderne, die wir bis dahin gerade nur dem Namen nach gekannt hatten). Nicht von ungefähr auch, dass Enzensberger den Begriff von der »Weltsprache der modernen Poesie« geprägt hatte (der damals so einleuchtete, wie er heute fragwürdig erscheint). Der gewandte Umgang mit dieser Weltsprache verlieh Enzensbergers frühen Gedichten ihren attraktiven Anstrich, erweist sich von heute aus gesehen aber auch als ihr Handicap. Enzensberger verlässt sich zu oft, übrigens auch im Essay, auf seine Kunst der Überraschung. Anders formuliert: Das Kostüm war ihm stets wichtiger als der Körper. Das verleiht seinem Werk bei aller Brillanz etwas merkwürdig Anämisches und erklärt dessen Hang zur Unentschiedenheit, wie ihn etwa Enzensbergers Bakunin-Gedicht verrät: »Es war damals wohl zu früh, wie immer, / oder zu spät. Nichts hat dich widerlegt, nichts hast / du bewiesen, / und darum bleib, wo du bist, oder, meinetwegen, / kehr wieder«.

Enzensberger hat viele Rollen durchgespielt, er hat ebenso die Autonomie der Kunst verteidigt wie den Tod der Literatur verkündet, er hat in Kuba den Revolutionär und anderswo den Reaktionär gespielt, für den die Apokalypse ein Aphrodisiakum ist. Mit dem jungen Brecht könnte er als Motto über sein Werk schreiben: »In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.« Bei den jüngeren DDR-Dichtern machte zunächst dieser frühe anarchische B. B. Schule, sodann der späte didaktisch dürre Brecht, der vielleicht etwas zu genau zu wissen meinte, in welche Richtung sich der Weltgeist zu bewegen hatte. Was man bei Dichtern wie Grass oder Enzensberger an Entschiedenheit vermissen mochte, hatten die DDR-Dichter der fünfziger Jahre an Entschiedenheit entschieden zu viel. Wo die im Westen allzu selbstzufrieden und narzisstisch den Monolog pflegten, verwechselten sich die im Osten mit Missionaren. Sie hatten von Brecht zwar die Kunst des Verbergens der Kunst zu lernen versucht, kopierten seine Lakonie und sein understatement, aber die meisten ihrer Gedichte hatten sozusagen keine Halt gebende Mitte, weil sie die realsozialistische Realität mit ihren Widersprüchen ausklammerten und entweder nur nach rückwärts oder nur nach vorwärts gerichtet waren, entweder einen bereits besiegten Faschismus oder aber eine rosige sozialistische Zukunft beschworen.

Unfreiwillig verrieten allerdings auch die poetischen Antifa-Pflichtübungen noch etwas über die realsozialistische Misere, die Analogien zwischen beiden Systemen ließen sich auf Dauer kaum ausblenden. Weswegen die über sich selbst erschreckten Dichter sich immer häufiger in jene Sprache flüchteten, die Brecht – mit Blick auf die Innere Emigration der vierziger Jahre – »Sklavensprache« genannt hatte. Sie legten sich antike Masken an, bedienten sich der Parabel und Allegorie, schrieben Epigramme und schufen nicht etwa den offiziell geforderten sozialistischen Realismus, sondern einen sozialistischen Hermetismus.

 

Der eigenwilligste von ihnen, Günter Kunert, 1929 in Berlin geboren, hatte als Sohn einer Jüdin eine »staatlich verpfuschte Kindheit« erlebt. Er empfand die DDR mit ihrer antifaschistischen Führung und Programmgebung zunächst als Alternative zum restaurativen deutschen Weststaat. Seine frühen Gedichte, deren vorherrschendes Thema das Nichtvergehen der Vergangenheit ist, zeigen ihn als freundlichen Skeptiker, der alle großen und erhabenen Worte meidet und seine Gedichte im Sinne Brechts als Gebrauchsgegenstände versteht. Der Hang zum Parabelhaften ist früh ausgebildet bei Kunert und äußert sich, wie etwa im Gedicht »Unterschiede«, in der Form kunstvoller Simplizität: »Betrübt hörte ich einen Namen aufrufen: / Nicht den meinigen. // Aufatmend / Höre ich einen Namen aufrufen: / Nicht den meinigen«. Der Mensch als bloßes Aufruf-Objekt, der entgegen allen Verheißungen auch im Sozialismus entfremdete Mensch, rückt in Kunerts Lyrik dann zunehmend in den Mittelpunkt. Und je tiefer die Kluft zwischen der sozialistischen Verheißung und der sozialistischen Realität wird, desto subjektiver, monologischer und komplizierter wird Kunerts Kunst. Je entschiedener sie alle einmal erlernten Rituale abwehrt, desto mehr geht sie freilich auch ihrer früheren Leichtigkeit und Ironie verlustig. 1977 betitelt Kunert einen Gedichtband, der nicht mehr in der DDR, sondern nur im Westen erscheinen kann, »Unterwegs nach Utopia«, desavouiert aber diesen Titel im gleichnamigen Gedicht gründlich: »Unterwegs nach Utopia / wo keiner lebend hingelangt«. Er empfindet seine DDR-Existenz nun als »Belagerungszustand« und wendet sich im Gedicht dieses Titels implizit ab von Brecht und in Richtung Westen: »dorthin wo das Gespräch über Bäume / kein Schweigen mehr bindet / dorthin wo keiner einem / die Sprache verschlägt«. Der zum Dissidenten gewordene Kunert verlässt die DDR. Schon der Titel seines nächsten Gedichtbandes, »Abtötungsverfahren«, spiegelt die verzweifelte Anstrengung, die seine Auflehnung gegen die eigene Vergangenheit Kunert gekostet hat. In einem der Gedichte dieses Bandes heißt es: »Den Ausgestoßenen allein / gehört der Mut zum nötigen Verrat«.

Zu solcher Art von Verrätern werden mit der Zeit nahezu alle DDR-Dichter von Rang. Und mit Ausnahme von Johannes Bobrowski, Karl Mickel, Heinz Czechowski, Wulf Kirsten und Volker Braun wechseln die meisten von ihnen nach den langen Perioden eines erzwungenen Schweigens in den Westen: Peter Huchel, Reiner Kunze, Kurt Bartsch, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch, Thomas Brasch, Wolfgang Hilbig, Ulrich Schacht. Der älteste und bedeutendste von ihnen, Peter Huchel, hatte sich unter dem Druck der DDR-Verhältnisse, den er besonders massiv zu spüren bekam, fast völlig von der Tradition des naturmagischen Gedichts gelöst und erlangte in seiner späten Lyrik eine schwermütig-abgründige Weisheit, die aus antiken und biblischen Quellen ebenso wie aus mittelalterlicher Mystik und Huchels pantheistischer Privatmythologie gespeist ist. Wo Natur noch erscheint, geht es nicht um das Glück reiner Anschauung, sondern Natur wird zum Zeichen, bekommt gleichnishafte Funktion, wie etwa das auffallend häufig wiederkehrende Bild der Distel. Der lyrische Horizont hat sich gegenüber Huchels frühen Gedichten, die fast ausschließlich in seiner Heimat Mark Brandenburg angesiedelt waren, entschieden erweitert, er reicht von Griechenland und Italien über Frankreich, Schottland und Irland bis in den hohen Norden und nach Fernost und umschließt die Erfahrungen von Gilgamesch oder Odysseus ebenso wie die christlicher Heiliger oder Shakespeare’scher Figuren. Den Bildern der Vereisung, Verfinsterung und Verödung (»Die Öde wird Geschichte«), die in diesen späten Gedichten dominieren, entspricht die gottferne Verlassenheit, von der schon der Titel »Die Neunte Stunde«, den Huchel seinem letzten Gedichtband gab, kündet; die neunte Stunde war jene, in der Christus am Kreuz schrie: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Womöglich nicht weniger als sein alter Freund Huchel vom Gefühl völliger Verlassenheit und von Depressionen heimgesucht, nahm der ebenfalls aus der naturmagischen Schule kommende Günter Eich eine auffallend andere Entwicklung. Auch bei Eich geht ein Riss, ein Bruch durch sein Werk. Sein 1955 publizierter Gedichtband »Botschaften des Regens« markierte einen letzten Höhepunkt des deutschen Naturgedichts, wobei – wie bei Huchel – Natur auch hier vorwiegend Zeichencharakter trägt, rätselhafte Botschaften aussendet, die in der Mehrzahl äußerst beunruhigend sind. Wie fundamental der Bruch mit dieser Art Dichtung war, hat Eich selbst 1971 einmal formuliert: »In meinem Gedichtband ›Botschaften des Regens‹ war ich noch ein Naturdichter, der die Schöpfung akzeptiert hat. Heute akzeptiere ich die Natur nicht mehr, wenn sie auch unabänderlich ist. Ich bin gegen das Einverständnis der Dinge in der Schöpfung. Es ist immer der gleiche Gedankengang: das Nichtmehreinverstandensein.« Hatte Eich in einem seiner frühen Gedichte aus dem amerikanischen Gefangenencamp noch gereimt: »Ungerührt von allem besteht / die Vollkommenheit der Welt. / Gottes eisiger Odem weht / übers Gefangenenzelt«, so äußert sich in seinen späten Gedichten – meist Prosagedichten – das Nichtmehreinverstandensein Eichs mit der Schöpfung in einer anarchischen Lust am Nonsens und Sprachspiel. Je weniger Eich die Natur noch als das »Wörterbuch«, als das Baudelaire sie apostrophiert hatte, empfindet, desto häufiger greift er nun auf wirkliche Wörterbücher, Enzyklopädien und Atlanten zurück und verknüpft deren Inhalte willkürlich zu bizarren Gebilden, die – um ein Adorno-Wort anzuwenden – Chaos in die (vermeintliche) Ordnung bringen. Eich macht sich zum Narren und überspielt so seine Verbitterung. Dass am Ende seine »Maulwürfe« – so der bezeichnende Titel von Eichs letzter Veröffentlichung im Jahr 1968 – nicht nur den subversiven Bedürfnissen der Achtundsechziger-APO-Generation entgegenkamen, sondern gleichzeitig auch ein Maß an Weisheit ausstrahlen, das sie Huchels so anders geartetem Spätwerk ebenbürtig an die Seite stellt, ist so überraschend wie tröstlich. Nur von den ganz Untröstlichen – und Huchel wie Eich zählten zu ihnen – kommt zuletzt Trost.

Eine starke Affinität zu Eichs anarchischer Seite hatte der 1917 in Tilsit geborene Johannes Bobrowski, doch in seinen Gedichten, die 1961 und 1962 in den beiden Bänden »Sarmatische Zeit« und »Schattenland Ströme« erschienen, ist davon rein gar nichts zu spüren. Und auch der Huchel-Einfluss, den Bobrowski selbst bekannte, ist nur ephemer, zeigt sich allenfalls in Bobrowskis melancholisch verschatteter und religiös eingefärbter Naturbeschwörung. In Wirklichkeit jedoch war Bobrowski, der 1965 in Ost-Berlin als Achtundvierzigjähriger starb, einer der eigenwilligsten Einzelgänger der deutschen Nachkriegslyrik, der sich mit Vorliebe der Odenform bediente und mit Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts wie etwa Klopstock – dem »deutschen Milton« – mehr Gemeinsamkeiten hatte als mit Zeitgenossen (von denen er lange Paul Celan massiv ablehnte). Ein Sonderfall war er auch insofern, als er ein relativ unangefochtener Wanderer zwischen zwei Welten war, d. h., die DDR-Behörden gestatteten ihm, seine Gedichte gleichzeitig in Ost- und Westdeutschland herauszubringen. Heißt das, dass sie niemandem wehtaten? Der DDR-Macht hätten sie eigentlich schon deswegen empfindlich wehtun müssen, weil die politische und soziale Realität DDR so rigoros aus diesen Gedichten ausgesperrt ist und in ihnen eine so andere Zeit herrscht – eben die sarmatische Zeit, die Zeit der Nomaden (die Sarmaten waren ein Nomadenvolk, das mit der Völkerwanderung aus der Geschichte verschwand). Die meisten Bobrowski-Gedichte imaginieren jene verlorene und verwüstete östliche Landschaft, der Bobrowski entstammte und in der er als deutscher Soldat Schuld auf sich lud. Es ist die Landschaft der deutschen Ordensritter und der Ikonen, der Pogrome und des Chassidismus, der Pruzzen und Zigeuner, eine Landschaft unheilvollster Geschichte und frommer Legenden. Doch nicht nur auf Landschaften stößt Bobrowski im Labyrinth seiner Erinnerung, sondern auch auf die künstlerischen Gestalten seiner Sehnsucht: Buxtehude, Aleksis Kivi, Petr Bezruč, Joseph Conrad, Adam Mickiewicz, Isaak Babel, die Günderrode, Gertrud Kolmar … Im biografischen Gedicht hat so Eigenartiges wie Bobrowski nur noch der ihm in manchem verpflichtete Wulf Kirsten geleistet. Die Wirkung von Bobrowskis Gedichten beruht neben der beherrschten Trauer, von der sie getränkt sind, vorrangig in etwas Formalem: Die Bewegung des Gedichts wird immer wieder angehalten, gestaut durch überraschende Kommata, Gedankenstriche, neuen Zeilenfall, durch Worte, die Abkürzungen von Sätzen sind. Wenn Bobrowski einmal erklärte, der Vers müsse »wieder mehr Zauberspruch und Beschwörungsformel« werden, so hat niemand so viel für die Einlösung dieser Forderung getan wie er selbst – und Sarah Kirsch, deren Verehrung für Bobrowski sich u. a. in drei auf seinen Tod geschriebenen Gedichten niederschlug und die einen ihrer Gedichtbände ausdrücklich »Zaubersprüche« betitelte.

Die 1935 geborene und 2013 verstorbene Sarah Kirsch war eine unverbesserliche Romantikerin, die mit Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts wie der Günderrode, der Droste, den Arnims oder mit Heine quasi persönlichen Umgang zu pflegen scheint. Ihre Gedichte sind voll von Märchen- und Volksliedmotiven, literarischen Anspielungen und Anverwandlungen archetypischer Muster. Sarah Kirschs Kunst besteht in der angenommenen – also raffinierten – Naivität, mit der sie die Gewalttätigkeiten der Realität auf eine ebenso zarte wie beiläufige Weise ins dichterische Bild bannt, sodass diese gleichsam ihre Schrecken verliert. Der für Sarah Kirsch so charakteristische plötzliche Perspektivenwechsel, der unvermittelte Übergang einer heutigen umgangssprachlichen Diktion in ältere Sprachstile – und umgekehrt – ist bei diesem Verwandlungs- oder Besänftigungsprozess ein effektvoll kalkulierter Anachronismus, bei dem manchmal allerdings – begünstigt noch durch die vielen Diminutive in Sarah Kirschs Gedichten – die Gefahr eines neuen Biedermeier in greifbare Nähe rückt. Sarah Kirschs einzigartige Popularität bei den deutschen Lesern erklärt sich daraus ebenso wie aus der Tatsache, dass diese »Panerotikerin« (Marcel Reich-Ranicki) in ihrer Poesie »grüne« Positionen bezieht und die immer unüberwindlicher werdende Kluft zwischen Mensch und Natur reflektiert, wobei sie ihre Stimme im Namen der missbrauchten und beleidigten Erde erhebt: »… so sieht die Erde am Ende des Tages / Ungewiß wie ein fremder Planet aus / … und ich / Hier auf der Kugel ach wessen Stäubchen / Mit meinen ausgeworfenen Ankern / Kindern Katzen Geliebten einhundert / Tulpenzwiebeln im Erdreich Ranunkel- / Händchen daß ich nicht ausreißen kann / Und mich der Irrsinn nicht anfällt …«

Die Kulturfurcht- und -feindlichkeit der DDR-Machthaber bewirkte, dass sich die Dichter Ostdeutschlands viel enger zusammenschlossen als die im Westen. So war fast die gesamte in den dreißiger Jahren geborene Dichtergeneration nicht nur miteinander befreundet, sondern man bedichtete sich auch gegenseitig, verspottete und verteidigte sich und lebte in einer Art losem Kollektiv, das Sarah Kirsch gern »unsere Truppe« nannte (wobei sie mehr an Akrobaten und Gaukler als an etwas Militärisches dachte). Zu dieser »Truppe« zählte als Jüngster und Auffälligster auch der 1939 geborene Volker Braun, dessen Werk – Dramen, Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays – denkbar größten Gegensatz zu dem Sarah Kirschs darstellt, obwohl auch hier erst einmal die vielen Rückgriffe auf klassische Muster – auf Klopstock, Goethe, Hölderlin, Hegel – ins Auge fallen. Volker Braun bedient sich der Klassiker nicht in affirmativem, sondern in strikt aufklärerischem Sinn, wovon schon ein Buchtitel wie »Training des aufrechten Gangs« Zeugnis ablegt, der dem damals noch in Leipzig lehrenden Philosophen Ernst Bloch verpflichtet ist, dessen »Prinzip Hoffnung« als eine Bibel der Neuen Aufklärung und als Gegenentwurf zu Heideggers »Sein und Zeit« betrachtet wurde.

Von heute aus lässt sich sagen, dass Volker Braun der einzig authentische Dichter des DDR-Sozialismus war – und ist. Denn trotzig insistiert er bis heute auf Einlösung seiner Träume von einer Gesellschaft wahrhaft freier Menschen und ist nicht bereit, seinen Anspruch auf Totalität aufzugeben, auch wenn er erkennen musste, dass dieser total pervertiert wurde in der DDR, die dem westlichen Sozialdarwinismus seinen Sieg nicht gerade schwer machte. Die frühen Gedichte Volker Brauns, mit denen er in den sechziger Jahren sofort auch über die innerdeutsche Grenze hinaus gehört wurde, sind erfüllt von einem Pioniergefühl und einer Aufbruchstimmung, wie sie die Poeme Majakowskis und anderer Dichter der jungen Sowjetunion ausstrahlten. Volker Braun, selbst jahrelang in der Industrieproduktion tätig, spricht da zu denen, die wie er ein neues und besseres Deutschland errichten wollen. Sein Ton ist salopp, drastisch, polemisch, pathetisch. Die spätbürgerliche Welt wird dem Gespött preisgegeben. »Wir und nicht sie« ist ein Braun-Gedichtband betitelt – in Anlehnung an die Klopstock-Ode »Sie und nicht wir« von 1790, mit der dieser die Französische Revolution gefeiert und gleichzeitig betrauert hatte, dass nicht Deutschland »der Freiheit Gipfel« erstieg. Jetzt also soll, nach Braun, wenigstens die östliche Hälfte Deutschlands Klopstocks revolutionären Traum einlösen. Volker Braun bleibt stets ganz nahe an der DDR-Realität und der spezifischen DDR-Sprache, sodass viele seiner Gedichte im Westen geradezu exotisch wirken. Doch gerade weil dieser Dichter sich so genau und unbestechlich auf DDR-Realität einlässt, muss er immer mehr Widersprüche in das Raster seiner Dialektik aufnehmen, deren Scharniere immer schriller quietschen, deren Mechanik rattert und stottert, bis schließlich, nach dem Zusammenbruch der DDR, in Brauns selbstanklägerischem Gedicht »Das Eigentum« die dialektische Volte erfolgt mit dem Eingeständnis: »Und unverständlich wird mein ganzer Text: / Was niemals ich besaß wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen«. Glaubwürdiger und bewegender hat sicher niemand jener Utopie nachgetrauert, der den Totenschein auszustellen heute wie eh und je bequemer ist, als auf ihrer Erfüllung zu bestehen.

 

Im Westen Deutschlands – um noch einmal einen Blick auf die so anders geartete literarische Szene der sechziger und siebziger Jahre hier zu werfen – waren viele der jungen Dichter in den Sog der APO geraten, hatten den Tod der Kunst proklamiert und womöglich sogar zum bewaffneten Kampf gegen das Establishment aufgerufen. Das revolutionäre Posieren entpuppte sich freilich bald schon als fauler Zauber, der über die völlige Entzauberung der Welt hinwegtrösten sollte. Selbst noch die berechtigte Empörung über die Ereignisse in Vietnam diente größtenteils der Kompensation, entsprang dem Überdruss an einer Überflussgesellschaft, der zu entkommen unmöglich schien. Die »Kinder von Karl Marx und Coca-Cola«, wie Jean-Luc Godard sie apostrophiert hatte, hielten sich jetzt wieder mehr an Coca-Cola und ihre ganz privaten Bedürfnisse, zu denen unbedingt auch eine Amerika-Reise gehörte. Es brach die Zeit der literarischen Rückzugsgefechte und der Nachzügler an. Ebenso wie der revolutionäre war ja der avantgardistische Impuls fast verschwunden, »jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug«, dekretierte Hans Magnus Enzensberger.

Gemessen an den lyrischen Leistungen der fünfziger Jahre beherrschte nun eine ziemlich gesichtslose Generation das lyrische Feld, deren Gedichte einander zum Verwechseln ähnlich sind. Die Grenzen zwischen Poesie und Prosa haben sich bis zur Ununterscheidbarkeit verwischt, und so wenig wie sprachliche darf man reflektive oder gar philosophische Anstrengung von diesen grauen und grämlichen Gebilden erwarten. Die unartifizielle Gedichtsprache wird allen Ernstes von verwirrten Veteranen der Achtundsechziger-Bewegung als »Demokratisierung des Gedichteschreibens« (Jürgen Theobaldy) deklariert. »Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist«, fordert Nicolas Born, »weg von Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern«. Entsprechend betitelt er seinen ersten Gedichtband so prosaisch wie denkbar »Marktlage«. Eindimensionalität und Punktualisierung der Wahrnehmung ist Trumpf, es regiert die Tautologie der Trivialität und der Fotorealismus (wie er gleichzeitig in der Malerei aufkommt).

Am überzeugendsten erscheint dieses gleichsam fotografische Sehen in den Gedichten Jürgen Beckers, die sich strikt dagegen sperren, mehr als einen jeweils ebenso zufälligen wie schmalen Ausschnitt der Alltagswirklichkeit wiederzugeben, aber durch die Konsequenz und die Kontinuität, mit der sie diese Art von gleichsam tagebuchartiger Wahrnehmung betreiben, den bloßen Oberflächenphänomenen dann doch einen spröden Reiz abgewinnen. Zweifellos den attraktivsten Appeal haben die Gedichte des 1940 geborenen Ralf Dieter Brinkmann, der in den sechziger Jahren die beiden Anthologien amerikanischer Pop- und Underground-Poesie »Acid« und »Silverscreen« herausgab und selbst mehr als jeder andere deutsche Dichter von den Errungenschaften der darin präsentierten Autoren profitierte. Auch Brinkmanns Gedichte sind meist »snap-shots«, doch diese stammen mehr aus dem medialen Milieu der Subkultur als aus jener Alltagswirklichkeit gesichtsloser deutscher Vorstädte, die Jürgen Beckers sprachliches Objektiv einfängt. Bestürzend ist die unterschwellige Aggressivität dieser Gedichte, die Ausdruck einer nur mühsam maskierten Verzweiflung ist und sich undifferenziert gegen alle und alles richtet. »Monster« und »Mumien« sind für Brinkmann gleichermaßen die oben und die unten, die Linken und die Rechten, er sieht sich umstellt von »Herdenmentalität« und eingesperrt in sprachliche Zwangssysteme, denen zu entkommen nur um den Preis des Verstummens möglich scheint. In seinen besten Gedichten gelang es Brinkmann aber, aus seiner von Ekel, Hass und Selbsthass genährten Abwehrhaltung herauszufinden und ganz luftige, gelöste lyrische Gebilde zu schaffen, in denen die Nichtigkeit und Flüchtigkeit der Dinge dieser Welt ohne Bitterkeit, ja mit einer Art von heiterem Wohlwollen hingenommen wird.

Es ist verständlich, dass in den siebziger Jahren angesichts der inflationären Ausbreitung einer ebenso unartifiziellen wie emotionslosen Lyrik das öffentliche Interesse an Poesie rapide nachließ. Gleichzeitig besannen sich jene wenigen, denen überhaupt noch an Lyrik lag, auf die bewussten Abweichler von der lyrischen Norm, auf Dichter wie etwa Rainer Brambach, Walter Helmut Fritz, Christoph Meckel, Rolf Haufs, Manfred Peter Hein, Alfred Kolleritsch, die unbeirrt durch literarische Moden oder mangelnde öffentliche Anerkennung schon immer das Existenzrecht der Poesie auf jeweils unverwechselbare und unspektakuläre Weise verteidigt hatten. Und es gerieten jetzt endlich auch jene ins Blickfeld, die sozusagen gar keine Wahl hatten und wie unter Diktat ihrer Not und inneren Bewegung ein Ventil im Gedicht schaffen mussten, wie etwa Christine Lavant. Diese 1919 als neuntes Kind eines Bergmannes geborene und zeitlebens schwer kranke und depressive Kärntner Dichterin, die sich und ihrem invaliden Mann mit Stricken den Lebensunterhalt verdiente, schrieb Gedichte von einer geradezu erschreckend elementaren Gewalt und halluzinatorischen Besessenheit. In diesen Gedichten wird Kafkas Wort, dem zufolge das Gebet die höchste Form der Dichtung sei, wahrhaft eingelöst, wenn es sich dabei auch eher um »Lästergebete« handelt (so hat der Trakl-Mentor Ludwig von Ficker diese Lavant-Gedichte umschrieben). In der uralten lazarenischen Sprache – der Sprache der Trunkenen, Irren, Besessenen und Aussätzigen – hadert die Dichterin mit der missglückten Schöpfung, in der Kain gesiegt hat, und mit einem Gott, der gegenüber der wehrlosen Kreatur »als Werwolf haust«. Es war Thomas Bernhard, der zuletzt noch seine ganze Reputation in die Waagschale warf und mit einer von ihm besorgten Lavant-Gedichtauswahl die Aufmerksamkeit auf diese von Gott und den Menschen geschlagene Metaphysikerin zu lenken versuchte.