Finsterdorf

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9.

Etwas stimmte nicht. Es war ihm nicht sofort klar und es dauerte eine Weile, bis er dahinterkam. Radek saß beim Frühstück am Fenster, so, dass er nach draußen auf den Hauptplatz blicken konnte. Er war der einzige Gast, zumindest war kein anderer Tisch gedeckt. Die Kellnerin brachte ihm ein üppiges Frühstück. Wurst, Käse, Butter, Marmelade, reichlich Gebäck und eine große Thermoskanne mit Kaffee. Er bestellte ein weiches Ei. Er liebte es, ausgiebig und lange zu frühstücken. Er hatte sich von der Theke einige Tageszeitungen geholt und blätterte sie mit mäßigem Interesse durch. Manchmal warf er einen Blick aus dem Fenster nach draußen.

Und während er aß und ab und zu auf den Hauptplatz hinaussah, begann ihn etwas an dem Bild zu stören.

Es war ein schöner Morgen. Er hatte hervorragend geschlafen und es war kurz nach 9 Uhr. Die Herbstsonne schien mild auf den menschenleeren Platz vor der Kirche.

Das war es: keine Menschen vor der Kirche. Das störte ihn.

Radek war nicht religiös. Ein Arbeiterkind, seine Familie war sozialdemokratisch aus tiefster Seele, da gab es keinen Platz für die Kirche. Seine religiöse Erziehung beschränkte sich auf die katholischen Pflichtübungen: Taufe, Erstkommunion, Firmung. Gerade so viel, dass ein Kind in der Provinz überleben konnte, ohne ins soziale Aus gedrängt zu werden, in einem Land, das von Kirche nur so triefte und in dem sogar die Sozialisten katholisch waren, wie es sein Vater verächtlich ausdrückte. Aber auch keinen Fingerzeig mehr. So war es nur eine logische Konsequenz, dass Radeks erste eigenständige politische Handlung – als solche sah er es – nach Erreichen der Volljährigkeit darin bestanden hatte, aus der Kirche auszutreten.

Deshalb hatte er keine Erfahrung mit der Kirchenpraxis und war ein wenig verunsichert. Möglicherweise täuschte er sich. Aber er wusste, dass die Leute am Sonntagvormittag in die Messe gingen, davor und danach vor der Kirche standen, tratschten. Anschließend marschierten die Männer ins Wirtshaus, während die Frauen sich auf den Weg nach Hause machten, um das Mittagessen zu kochen. Doch vielleicht war das nur ein Klischee, alles nicht mehr wahr, längst überholt. Trotzdem fand am Sonntagvormittag der Gottesdienst statt. Daran hatte sich noch nichts geändert.

Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, und je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Er brauchte Gewissheit.

Er trank seine Tasse Kaffee aus und gab der Kellnerin Bescheid, dass er schnell etwas erledigen müsse, aber gleich wieder zurück sei und sie das Frühstück noch nicht abräumen solle. Dann eilte er über den Platz zur Kirche. Er trug nur einen Sweater, darunter ein T-Shirt, er hatte nicht vor, lange wegzubleiben, und in der milden Sonne war es ohnehin nicht kalt.

Neben dem Kirchenportal sah er eine Tafel mit der Aufschrift »Heilige Messe« und den Uhrzeiten, zu denen sie stattfand. Er blickte auf die Uhr. 9.30 Uhr, die Messe müsste vor 15 Minuten begonnen haben. Er hatte jedoch seit gut einer Stunde den Platz vor der Kirche im Blick. Möglicherweise gab es einen Seiteneingang, den er übersehen hatte.

Vorsichtig öffnete er die schwere Holztür, er wollte nicht stören. Er zog die Tür einen Spalt weit auf, schlüpfte hinein, schloss sie leise hinter sich und blickte sich überrascht um. Die Kirche war – leer. Oder – beinahe leer. Über die ersten beiden Bankreihen verstreut saßen drei alte Frauen und ein Paar, ebenfalls weit im Rentenalter. Vorne beim Altar stand ein einsamer Pfarrer, kein Messner, keine Ministranten, niemand. Außer diesen sechs Personen war kein Mensch in der Kirche. Radek hatte noch nie in seinem Leben eine so leere Kirche gesehen, nicht einmal jene, die er im Urlaub als Sehenswürdigkeiten besucht hatte.

Der Priester bemerkte ihn, zögerte einen kurzen Augenblick und fuhr dann mit seiner Messe fort.

Radek blieb noch einige Minuten neben der Tür stehen, ließ die Liturgie und ihre Rituale, die ihm vor den wenigen Besuchern völlig sinnentleert erschienen, auf sich wirken. Anschließend verließ er die Kirche so leise, wie er gekommen war, und kehrte zurück ins Gasthaus »Falk«.

Eine leere Kirche, ein Gottesdienst ohne Menschen. Das war ihm nicht geheuer.

Radek hatte sich vorgenommen, eine Wanderung auf den Schneekogel zu machen. In der Broschüre, die ihm Falk am Vortag gegeben hatte, war eine einfache Rundtour mit einer Dauer von vier Stunden beschrieben, das erschien ihm ein überschaubarer Ausflug zu sein. Der Berg selbst wurde mit einer Höhe von etwas weniger als 1.400 Metern ausgewiesen. Er nahm nicht viel Ausrüstung mit. Einen kleinen Rucksack mit einem Regenschutz, Wasser und einen Apfel.

Dann machte er sich auf den Weg, verließ das Dorf am Nordende, fand hinter der Kirche den markierten Wanderweg, der durch den Wald auf den Schneekogel führte, und folgte ihm in gemächlichem Schritt. Er hatte es nicht eilig. Es war halb elf, er rechnete damit, spätestens um 15 Uhr zurück zu sein.

Er war etwa eine halbe Stunde unterwegs, als ihm ein Reiter in leichtem Trab entgegenkam. Das verwunderte Radek, da er nicht vermutet hätte, dass auf einem Wanderweg Reitausflüge unternommen wurden. Der Weg stieg sanft an, war nicht allzu breit und erschien ihm für einen Ausritt wenig geeignet.

Der Reiter trug hohe Stiefel, Breeches und einen kurzen Lodenmantel mit Halstuch. Auf dem Kopf hatte er eine Mütze fest in die Stirn gedrückt, unter der angegraute Haarlocken hervorlugten. Er hielt die Zügel in der rechten Hand, in seiner linken, die er auf die Hüfte stützte, trug er eine Reitgerte. Er verlangsamte sein Tempo nicht, machte auch keine Anstalten, das Pferd nur eine Handbreit auf die Seite zu führen. Radek musste in den Wald hinein flüchten, um den Reiter passieren zu lassen. Wäre er nicht ausgewichen, hätte der Typ ihn geradewegs umgeritten. Das Recht des Stärkeren, dachte der junge Polizist, und fragte sich, ob es nicht irgendeine Vorschrift gab, die das Reiten im Wald verbot.

»Aufpassen! Fußgänger!«, rief Radek dem Mann mit provokantem Ton hinterher, doch der schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er saß gerade aufgerichtet, aber entspannt im Sattel und sein Oberkörper wippte im Takt der Schritte des Pferdes. Den Blick starr nach vorne gerichtet, ritt er wie in Trance an Radek vorbei. Er verhielt sich, als hätte er den Wanderer gar nicht gesehen oder als würde der Weg ihm gehören und jeder Besucher ein lästiger, bestenfalls geduldeter Gast sein.

Arrogantes Arschloch, dachte Radek, du meinst wohl, der Wald ist für dich alleine da. Er wollte dem Mann eine entsprechende Bemerkung nachrufen, doch der trieb das Pferd durch einem schnellen Schlag mit der Gerte an und entfernte sich in scharfem Trab. Er hätte Radeks Unmut nicht mehr mitbekommen, deshalb schluckte dieser ihn hinunter und versuchte, den Zwischenfall zu vergessen. Er wollte sich den schönen Tag nicht durch einen blasierten Kavalleristen vermiesen lassen.

10.

Als der Friesenbichler-Bauer aus dem Wirtshaus kam, hatte er ordentlich getankt. Einen Moment lang musste er nachdenken, wo sein Auto geparkt war, bis ihm einfiel, dass er es gegenüber dem Gasthof »Zur Linde« abgestellt hatte, weil vor dem Lokal kein Parkplatz frei gewesen war und er sich darüber geärgert hatte. Ohne darauf Acht zu geben, ob ein Auto unterwegs war, torkelte er über die Straße. Dabei versuchte er sich halbwegs zusammenzureißen, nicht, weil er Angst davor hatte, gesehen zu werden oder aufzufallen, sondern weil er sich selbst nicht eingestehen wollte, so betrunken zu sein, dass er seinen Gang nicht mehr unter Kontrolle hatte. Die Leute im Dorf scherten ihn einen Dreck, die sollten denken, was sie wollten, diese Feiglinge, er würde nicht vor ihnen kuschen, und schon gar nicht würde er sich so benehmen, dass sie nicht in ihrem Anstand gekränkt waren. Sollten sie sich ruhig das Maul zerreißen, ihm war das egal. Von 9.30 Uhr bis jetzt am Nachmittag war er beim Stadelmaier gesessen und hatte gut eineinhalb Liter Wein getrunken, aber er fühlte sich noch fahrtauglich. Außerdem waren die Polizisten am Sonntag sowieso mit anderen Dingen beschäftigt: Mittagessen, Kaffeetrinken und ähnliche Sachen. Um Schandau scherten sie sich kein bisschen, das hatten sie noch nie getan, ganz egal, was hier alles passiert war. Warum sollten sie gerade heute damit anfangen?

Der Friesenbichler hatte einige Schwierigkeiten, den Wagen aufzusperren, seinen dicken Bauch hinters Lenkrad zu quetschen, das Zündschloss zu finden und zu starten. Aber dann fuhr er im Retourgang aus dem Schrägparkplatz, ohne nach hinten zu schauen.

Um diese Zeit fährt sowieso niemand auf der Straße, auch sonst läuft keiner herum, die sitzen alle zu Hause vor dem Fernseher und trauen sich nicht heraus. Es könnte ja irgendwer sehen, dass sie was Verbotenes tun. Feiglinge, allesamt, miese Feiglinge.

Das Getriebe krachte undankbar, als er den ersten Gang hineinwürgte. Weil er die Kupplung zu schnell kommen ließ, schoss der Wagen mit einem Sprung nach vorne, bevor der Friesenbichler gemächlich aus dem Dorf hinausrollte.

Etwa einen Kilometer nach dem Ortsende zweigte die Straße ab, die zu seinem Hof führte. Seine Alte würde maulen, weil er nicht zum Mittagessen gekommen und schon wieder besoffen war. Aber das interessierte ihn genauso wenig wie das Gerede der Leute im Dorf. Er arbeitete die ganze Woche wie ein Ochse, zwölf, vierzehn Stunden am Tag, trotz seiner 58 Jahre. Da konnte er sich wohl ab und zu einen richtigen Rausch gönnen. Und dafür war der Sonntag genau recht.

Langsam schlängelte er sich den Weg höher. Er kam durch ein Waldstück und musste abrupt bremsen. Quer über der Straße lag ein Mountainbike. Er schaffte es gerade noch, den Wagen anzuhalten, wobei er dem Fahrrad gefährlich nahekam. Einen Moment lang überlegte er sogar, einfach drüberzufahren, mit seinem alten Nissan Terrano wäre das sicher kein Problem, aber er hatte Angst, sich den Tank oder den Auspuff zu beschädigen. Deshalb blieb er stehen und stieg laut fluchend aus.

 

»Was für eine Scheiße ist denn das? Jetzt lassen diese Arschlöcher ihre verfluchten Drahtesel schon mitten auf der Straße liegen, wenn sie im Wald pinkeln.«

Er war bei dem Fahrrad angekommen und bückte sich ächzend, um es hochzuwuchten und in den Straßengraben zu schmeißen. Doch bevor er danach greifen konnte, wurde er zur Seite gerissen und mit dem Rücken auf die Kühlerhaube seines Autos geschleudert.

Ein maskierter Mann drückte ihm den Unterarm unter dem Kinn auf den Hals, und die Spitze eines Jagdmessers zielte auf sein rechtes Auge. Überrascht und unfähig, einen Ton zu sagen, starrte er zunächst auf die Messerspitze und dann auf das mit einer Sturmhaube maskierte Gesicht vor ihm.

»Was willst du von mir, du blöder Saubub?«, presste Friesenbichler hervor, als er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte. »Lass mich in Ruh und schleich dich zu deinen beschissenen Kumpanen.« Der Druck des Unterarms an seinem Hals wurde stärker und sperrte ihm die Luft ab.

»Halt dein Maul«, sagte der Maskierte leise, aber bestimmt, »und spiel auf deine alten Tage nicht den Helden, sonst lass ich dir die Luft raus.«

Die Messerspitze befand sich plötzlich an Friesenbichlers Hals, er konnte sie deutlich unter seinem Kehlkopf spüren.

»Scheißhund«, würgte er heraus, »was willst du von mir?« Doch als der Druck der Messerspitze stärker wurde, entschied er, nichts mehr zu sagen.

»Friesenbichler, du bist ein alter sturer Bauernschädel. Es würde mir großen Spaß bereiten, ihn dir einzuhauen. Aber leider müssen wir noch ein bisschen miteinander im Geschäft bleiben. Deshalb bring ich dich nicht um.«

»Geh scheißen!«, fluchte der Bauer. »Mit uns gibt’s kein Geschäft.«

Der Mann stieß dem Friesenbichler das Knie zwischen die Beine, und der Bauer winselte vor Schmerz, den er trotz seines Alkoholspiegels spürte.

»Halt einfach die Schnauze und hör mir zu. Du schneidest morgen am Geißkogel ein paar Bäume um?«

»Na und, was geht dich das an?«

Der Maskierte ignorierte die Frage. »Und du hast mit dem Kienberger verhandelt und willst ihm das Holz verkaufen?«

Woher wusste der Kerl das? Diese Abmachung war still und heimlich getroffen worden. Niemand sollte das mitbekommen. Friesenbichler würde das Schlagen der Bäume beaufsichtigen, und wenn es so weit war, würde er den Kienberger informieren, damit sie die Stämme wegbringen konnten. Der Kienberger zahlte weitaus besser als die anderen Sägewerke. Aber Friesenbichler wusste, dass das nicht ausreichte. »Na und? Das geht dich einen Scheißdreck an, du blöder Rotzbub!«, schimpfte der Bauer weiter.

Erneut ein Stoß mit dem Knie, Friesenbichler stöhnte.

»Sei froh, dass du so besoffen bist«, sagte der Maskierte. »Weil, wenn du nüchtern das Maul genauso aufreißen tätest, würd ich dir deine Zähne so weit hineinhauen, dass sie dir beim Arsch wieder rauskommen.«

Friesenbichler zweifelte keinen Moment daran, dass der Maskierte das ernst meinte, und wurde nun doch etwas kleinlauter. Sein Gesicht verlor trotz des vielen Weins die rote Farbe und bekam eine fahle Blässe. Ihn ergriff eine unbestimmte Angst, sie drängte sich durch die dicke Decke, mit der der Alkohol seine Gedanken dämpfte. Im selben Maße, mit dem sein Kopf klarer wurde, erkannte er die Gefahr, in der er schwebte.

»Hör mir zu, du versoffenes Schwein«, der Maskierte kam nun zur Sache. »Du kannst so viel Wald umholzen, wie du willst, aber verkauft wird das Holz im Ort und nirgendwo anders. Hast du verstanden?«

Der Bauer antwortete nicht. Der Maskierte wurde ungeduldig. Er richtete sich auf, ließ das Messer auf der Motorhaube liegen und schlug Friesenbichler mit einer Links-rechts-Kombination mehrmals in den dicken Bauch. Dem Bauer blieb die Luft weg, er sackte stöhnend auf die Knie, begann zu würgen und zu keuchen und kotzte vor sich auf die Straße. Als er fertig war, packte ihn der Maskierte am Hals und zog ihn hoch.

»Hast du das kapiert?«, wiederholte er. »Oder soll ich es dir noch einmal erklären?«

Mit tränenden Augen nickte der Friesenbichler-Bauer und würgte ein »Hab’s verstanden« hervor.

»Gut so. Wenn wir dir draufkommen, dass du uns bescheißt, fackeln wir deinen Heustadel ab. Ist das klar?«

Wieder nickte Friesenbichler.

Zum Abschied gab der Maskierte dem Mann eine kräftige Ohrfeige. »Die war fürs Verarschen. Und jetzt: Komm gut heim.«

Damit schnappte der Maskierte sein Messer, war mit zwei Schritten bei seinem Mountainbike, hob es auf, schwang sich hinauf, radelte mit einigen schnellen Tritten in die Pedale die Straße hinunter und verschwand hinter der nächsten Kurve.

Der Friesenbichler-Bauer sackte leise wimmernd und weinend auf der Straße zusammen.

11.

Die Angaben in der Broschüre hatten genau gestimmt. Die letzte halbe Stunde, bevor er den Gipfel erreichte, war Radek aus dem Wald herausgekommen, und erst da hatte sich ihm ein wunderbarer Ausblick auf die Bergwelt der Umgebung geboten. Er war eine ganze Weile auf dem Gipfel geblieben und hatte die Sonne genossen, bevor er sich auf den Rückweg gemacht hatte.

Jetzt, am Nachmittag, saß er wieder mit einem kalten Bier auf der Terrasse des Gasthofs »Falk«. Er trank es mit dem Genuss des durstigen Wanderers.

Bis auf den Reiterrüpel hatte er niemanden getroffen, was ihn zunächst nicht gestört, dann auf dem Rückweg allerdings doch verwundert hatte. Eigentlich, dachte er, hätte er im Wald mehr Spaziergängern begegnen müssen.

Als er auf der Terrasse saß und über den leeren Hauptplatz blickte, wurde ihm bewusst, dass auch im Dorf niemand unterwegs war. Gut, mit 560 Einwohnern war Schandau keine Metropole, aber es gab eine funktionierende Infrastruktur, zwei Gasthäuser, eine Konditorei, einen idyllischen Hauptplatz, der zum Verweilen einlud, und trotzdem wirkte das Dorf wie ausgestorben.

Da sah er zwei Frauen, in ein Gespräch vertieft, auf dem gegenüberliegenden Gehsteig und über den kleinen Vorplatz der Kirche gehen. Zwei jugendliche Mädchen kamen ihnen entgegen und schienen sie nicht zu beachten. Sie blieben auf Kollisionskurs, die älteren Frauen traten zur Seite, obwohl auch die jungen hätten ausweichen können. Als Radek diese Szene beobachtete, fragte er sich, warum die Mädchen so frech waren und keine Anstalten gemacht hatten, aus dem Weg zu gehen. Ihm fiel die Szene vom Vortag ein, die ganz ähnlich gewesen war, und seine Begegnung mit dem Reiter im Wald, und er zog den Schluss, dass Höflichkeit und Rücksichtnahme offensichtlich nicht die am stärksten ausgeprägten Eigenschaften hier im Ort waren.

Nachdem sie die frechen Gören vorbeigehen lassen hatten, setzten die Frauen ihre unterbrochene Plauderei fort und blieben vor der Kirche stehen.

Karin und Gabi waren beste Freundinnen. Beide waren in Schandau aufgewachsen, gemeinsam in Göstling in die Volksschule und in die Hauptschule gegangen. Immer beste Freundinnen. Dann hatten sie eine Lehre als Verkäuferin absolviert. Karin im Bekleidungsgeschäft Klein, Gabi im Kaufhaus Kroner, beide auf dem Hauptplatz in Schandau. Und zwei von drei Mal waren sie gemeinsam in die Berufsschule nach Theresienfeld gekommen. Die eine in die Sparte Textil, die andere zu Lebensmittel.

Sie teilten sich zwar nicht dieselben Burschen, hatten allerdings immer ausreichend Gesprächsstoff, was dieses Thema betraf. Und weil sie in dieser Beziehung unterschiedliche Geschmäcker hatten, kamen sie sich nie in die Quere. Aber sie lernten voneinander, was die jungen Männer betraf. Wie man sie verführt, was man tun musste, um sie schnell ins Bett zu bekommen, wie man sie befriedigte und wie man sie dazu brachte, das zu tun, womit auch die Frauen auf ihre Kosten kamen. Es fing in der Berufsschule an, dann gingen sie in den benachbarten Dörfern auf Männerfang. Später, als sie selbst Führerschein und Auto besaßen, fuhren sie in die großen Orte, nach Amstetten, Linz oder nach Sankt Pölten und schließlich nach Wien. Immer beste Freundinnen. Eine frühe Krönung hatte ihre Freundschaft erlebt, als Gabi in einer Wiener Diskothek einen wirklich süßen Kerl aufgerissen und sie sich bei ihm in der Wohnung in einem flotten Dreier das halbe Wochenende die Seele aus dem Leib gevögelt hatten. Aber das war lange her.

Sie waren im Dorf geblieben. Später, nach diesen ausschweifenden Zeiten, hatten sie geheiratet, Häuser gebaut und Kinder bekommen. Ihren Männern verheimlichten sie die wilden Abenteuer ihrer Jugend. Sie wohnten nur wenige Gehminuten voneinander entfernt. Karin arbeitete mittlerweile im Personalbüro des Sägewerks, Gabi war immer noch im Kaufhaus Kroner beschäftigt und dort zur Leiterin der Feinkostabteilung aufgestiegen. Nun, Anfang 40, waren sie brave Mütter und Ehefrauen, aber nach wie vor beste Freundinnen. Gabis Tochter ging mit Karins jüngstem Sohn in die gleiche Klasse der Hauptschule in Göstling, wie es schon die Mütter getan hatten, und auch sie waren beste Freunde.

Karin und Gabi sprachen leise und gedämpft miteinander, vorsichtig, als tauschten sie Geheimnisse aus. Tatsächlich redeten sie nur über ihre Kinder. Das bot genug Gesprächsstoff. Doch selbst dabei waren sie achtsam. Man konnte nie wissen. Sie hatten es sich angewöhnt, ihre Angelegenheiten nicht hinauszuposaunen. Das war im Dorf nicht üblich. Nur nicht zu viel erzählen. Nur nicht auffallen. Nur nicht bei den anderen anecken.

Wenn man sich schön ruhig verhielt, gab es keine Probleme. Das wussten sie, das hatten sie gelernt, damit waren sie aufgewachsen. Das akzeptierten sie, und deshalb waren sie in ihren jungen Jahren immer wieder in die größeren Städte abgedampft, um sich dort zu vergnügen.

Sie sprachen zunächst nur über Belangloses. Aber dann musste Karin doch etwas loswerden, was nicht ihre Kinder oder ihre Arbeit betraf, etwas, das wichtiger war. Es gab Gerüchte, schlimme Gerüchte, und darüber wollte sie mit ihrer Freundin reden.

»Hast du gehört, was mit dem Höger Klaus passiert ist?«, fragte sie kryptisch und blickte sich verstohlen um. Sie waren allein, weit und breit war niemand zu sehen, nur auf der Terrasse vom »Falk« saß der Fremde, wie schon gestern Nachmittag.

»Nein.« Die Freundin schenkte ihr sofort die volle Aufmerksamkeit.

»Er hat sich die Hand gebrochen«, erklärte Karin.

»Echt?« Gabi war erstaunt. »Schon wieder einer.«

»Ja«, bestätigte Karin. »Alle Finger und die Knöchel.« Sie zeigte an ihrer rechten Hand, von welchen Bereichen sie sprach.

»Der arme Kerl. Wie ist das passiert?« Gabis Bedauern war aufrichtig. Beide kannten Klaus Höger sehr gut. Er war einer von Gabis Verehrern gewesen, die ihr im Dorf den Hof gemacht hatten. Einmal war sie mit ihm im Bett gewesen, aber dann hatte sie sich für einen anderen entschieden. Klaus hatte ihr das nie nachgetragen und sie waren immer noch gute Freunde. Die Affäre war ihr Geheimnis geblieben, nicht einmal mit Karin hatte sie darüber gesprochen.

»Er hat nicht aufgepasst. Angeblich ist er auf der Terrasse gestürzt und ein großer Keramiktopf mit einer Hortensie ist ihm auf die Hand gefallen.«

»Angeblich.«

»Ja, angeblich.«

Beide wussten, dass etwas ganz anderes geschehen sein musste.

Gabi ahnte, was passiert war. Es war nicht das erste Mal. Die Leute im Dorf verletzten sich häufig, brachen sich den Arm oder die Hände oder die Finger. Es gab Gerüchte darüber. Das kam davon, dass sie unachtsam waren, sagte man, und es stimmte, im übertragenen Sinn. Es war nicht gut, im Dorf leichtsinnig zu sein.

»Man muss aufpassen hier im Ort«, sagte Gabi und blickte sich wachsam um.

»Nur nicht viel fragen«, bekräftigte Karin.

»Und sich nirgends einmischen.«

»Dann stolpert man nicht und bleibt gesund.«

»Ja, dann kann einem nicht so schnell etwas passieren.«

Karin beobachte den Fremden gegenüber auf der Terrasse des Gasthofs »Falk«. »Kennst du den dort?«, fragte sie ihre Freundin und deutete unmerklich mit dem Kopf in die Richtung des Gasthauses. Gabi folgte ihrem Blick. Dort saß der Unbekannte auf der Terrasse und beobachtete sie. Als er merkte, dass die Frauen zu ihm hinübersahen, wandte er sich ab und trank von seinem Bier.

»Nein, das ist wahrscheinlich ein Gast beim Falk.«

»Der ist gestern schon da gesessen«, stellte Karin mit leichtem Unbehagen in der Stimme fest.

»Der wird ein verspäteter Sommerfrischler sein.«

 

»Hoffentlich. Möglicherweise ist er auch aus einem anderen Grund hier.«

»Möglicherweise.«

»Ein komischer Typ, sitzt auf der Terrasse vorm ›Falk‹ und beobachtet die Leute.«

Jetzt fühlte sich auch Gabi zusehends unbehaglich und sie blickte sich misstrauisch um. »Hast du Lust, mit zu mir auf einen Kaffee zu kommen?«, lud sie ihre Freundin ein. »Karl ist nicht zu Hause«, fügte sie rasch hinzu, obwohl sie wusste, dass ihr Mann und Karin sich gut verstanden.

»Ja, gehen wir zu dir. Da sind wir ungestört.«

Sie bummelten betont gelassen davon. Sie hatten Zeit. Es waren nur wenige Minuten bis zu Gabis Haus.