Finsterdorf

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

6.

Die beiden Männer warteten im hinteren Teil der Kirche, bis die alten Weiber im Beichtstuhl gewesen waren und sich ihre Absolution geholt hatten. Sie fragten sich, wofür wohl? Für unkeusche Gedanken? Dafür, dass sie gemeinsam mit der einen Nachbarin über eine andere Nachbarin hergezogen waren? Dafür, dass sie ihr Gift über ein junges Mädchen verspritzen, auf das sie neidisch waren?

Sie warteten, bis die Letzte der Alten vorne am Altar ihr Vaterunser heruntergebetet hatte und danach mit schlurfenden Schritten aus der Kirche verschwunden war.

Einer der beiden kniete sich in den Beichtstuhl. Es roch modrig und ein bisschen nach Weihrauch.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, hörte er den Pfaffen sagen und konnte durch das rautenförmige Holzgitter sehen, wie der Alte ein Kreuz schlug.

»Vater, ich habe gesündigt«, begann er unaufgefordert zu reden.

»Und worin bestehen deine Sünden, mein Sohn?«

»Ich habe eine verheiratete Frau gefickt«, sagte er. »Und es hat mir Spaß gemacht und ihr auch, und jetzt denke ich ständig darüber nach, wie ich ihren Alten kaltmachen kann. Dafür möchte ich Absolution.« Er konnte förmlich spüren, wie es dem Pfaffen die Sprache verschlug. Bevor sich der Alte wieder gefangen hatte, fuhr er fort: »Ihr seid doch an das Beichtgeheimnis gebunden, Vater, nicht wahr?«

»Ja«, stammelte der Priester und fügte hinzu: »Was du mir da erzählst, ist ungeheuerlich.«

Doch der Mann ließ ihn nicht mehr weiterreden. »Halt den Mund, Pfaffe! Und hör mir gut zu: Vor einigen Tagen ist mit der jungen Lindner etwas Komisches passiert.«

Jetzt blickte der Pfarrer das erste Mal hoch, er wollte sehen, wer ihm im Beichtstuhl gegenübersaß. Aber der Mann war maskiert. Der Pfarrer spürte Entrüstung und Zorn, die seinen ersten Schrecken verdrängten. »Was fällt dir ein«, empörte er sich, kam jedoch nicht weiter.

»Schnauze«, schnitt ihm der Besucher das Wort ab. »Ich hoffe, das, was du mit ihr gemacht hast und was du ihr gesagt hast, fällt unter das Beichtgeheimnis, so wie es sich gehört. Sonst könnte möglicherweise noch mehr passieren.«

»Das höre ich mir nicht länger an. Wenn du nichts zu beichten hast, dann verlass meine Kirche.«

»Einen Dreck werde ich tun. Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?«

»Aus – kein Wort mehr«, sagte der Priester und wollte den Beichtstuhl verlassen. Als er die schmale Holztür öffnete, stand ein anderer Mann vor ihm, ebenfalls mit einer schwarzen Sturmhaube maskiert. Dieser Mann drängte ihn zurück auf seinen Sitz.

»Was fällt euch ein? Ihr Teufelsbrut!«, protestierte der Pfarrer erneut.

»Halt dein Maul!«

Ein Messer kam zum Vorschein und die Klinge funkelte matt im düsteren Zwielicht der Kirche. Der Pfarrer hatte Angst. Eine kräftige Hand packte ihn am Hals, die Messerspitze war gefährlich nahe an seinem Auge.

»Wenn so etwas wie mit der Lindner noch einmal vorkommt, schneiden wir dir deine Ohren ab oder vielleicht was anderes«, drohte der Mann im Beichtstuhl. »Und wenn nur ein Wort von dem, was dir die Kleine erzählt hat, nach außen dringt, auch. Hast du kapiert?«

Der Pfarrer nickte mit bleichem Gesicht.

»Schön, dann war’s das. Bete ein Vaterunser für mich und vergib mir meine Sünden – Amen!«

Die beiden Maskierten verschwanden wie ein böser Spuk.

7.

Mit dem Weg veränderte sich auch die Landschaft. Nach der Autobahn dominierten zunächst noch größere Städte mit Industrieanlagen, Einkaufparks und Autohändlern an den Stadträndern und langen Geschäftszeilen im Zentrum. Hohe Wohnhäuser prägten die Stadtbilder, die typischen Bauten der Genossenschaften, umrahmt von Wohnsiedlungen mit Einfamilienhäusern.

Seit Radek auf die Bundesstraße abgefahren war, verfolgten ihn großflächige Werbeplakate mit lachenden und vergnügten Menschen. Wanderer in grünen Bergwelten, einmal dynamisch über einen Bach setzend, ein andermal rastend und voller Ehrfurcht die Landschaft bewundernd und alles versehen mit dem in leuchtendem Gelb gehaltenen Titel »Wanderbares Niederösterreich«.

Dann wurden die Ortschaften kleiner, die Häuser niedriger. Die Berge rückten näher an die Straße, gewannen an Höhe und zeigten sich dicht bewaldet. Anstelle der Industrieanlagen waren nun holzverarbeitende Betriebe zu sehen. Sägewerke mit weit ausladenden Holzplätzen oder Zimmereien und Tischler. Die Lokale verloren ihren mondänen Charakter, waren nicht mehr Restaurants, sondern Gasthäuser, nicht mehr Cafés, sondern Konditoreien. Die Werbetafeln wurden spezifischer. Nicht mehr das ganze Bundesland wurde angepriesen. Die regionalen Ausflugsziele gewannen an Bedeutung. »Erlebniswelt Ötschergräben« konnte er auf einer Tafel lesen und wenige Kilometer weiter: »Ski- und Wanderparadies Hochkar«.

Die Straße zog sich in sanften und langen Kurven durch das Tal, folgte dabei dem Lauf eines Flusses und querte ihn immer wieder, sodass er einmal zu Radeks Linken floss und wenig später zu seiner Rechten.

Der Altweibersommer zeigte sich von seiner schönsten Seite, schenkte den Menschen noch einige Tage sommerlicher Wärme und ließ die Wälder in zarten Rottönen, in Gelb und Ocker leuchten.

Als er die Hinweistafel mit der Aufschrift »Wanderarena Schandau« sah, wusste Radek, dass er am Ziel war. Aber das hätte er auch ohne diese Hilfe bemerkt, denn das Erste, was ihm auffiel, war eine Burg, die linker Hand auf einer felsigen Anhöhe über dem Ort thronte wie der düstere Wächter eines Feldlagers. Die Burg selbst schien nicht allzu groß, keine stattliche Festung. Die Anlage wurde von einem gedrungenen, jedoch mächtig wirkenden Bergfried dominiert, der ihr einen bedrohlichen Charakter verlieh, flankiert von schroffen, hoch aufragenden Mauern mit Wehrgängen, schnörkellos, ohne Türmchen oder Erker.

Am Fuße der Burg präsentierte sich Schandau wie erwartet als ein kleiner, überschaubarer Ort. Die Hauptstraße führte zum Zentrum. Der Hauptplatz war ein längliches Oval, mit einer Grünfläche und drei großen Laubbäumen in der Mitte. Darunter standen mehrere Sitzbänke. Am hinteren Ende beherrschte eine gotische Kirche den Platz, an der breitesten Seite stand ein massiges Rathaus.

Rundum fädelten sich Geschäfte auf, ein Wirtshaus, eine Bäckerei, eine Tabak-Trafik, eine Papier- und Schreibwarenhandlung, eine Konditorei, ein Friseur, ein Kaufhaus und ein weiteres Wirtshaus.

Einige der Häuser machten den Eindruck, als wären sie ebenfalls Überbleibsel aus der gotischen Hochblüte oder der frühen Neuzeit, jedenfalls schienen sie sorgsam restauriert worden zu sein und bildeten ein traditionelles Ensemble mit altmodischem Charme. Neuere Gebäude fügten sich perfekt in die Gebäudefront.

Radek gefiel die altmodische Bescheidenheit, die von diesem Hauptplatz ausging. Es kam ihm vor, als sei die Zeit stehen geblieben, sogar die Aufschrift »Kaufhaus« schien aus vergangenen Jahrzehnten in die Gegenwart gerettet worden zu sein. Es überraschte ihn, dass sich hier bisher keine Lebensmittelketten oder Drogeriemärkte angesiedelt hatten. Vielleicht war der mögliche Kundenkreis zu klein für die großen Konzerne.

Ein idyllisches Plätzchen am Ende der Welt, dachte Radek. Das war ein Ort für gestresste Manager, um ein paar Tage abzuschalten und zu verhindern, dass sie ins Burn-out kippten. Oder für Schriftsteller, die eine ruhige Ecke suchten, um ihren nächsten Roman zu schreiben. Aber sicher nicht, um hier zu leben. Und schon gar nicht, um hier als Jugendliche aufzuwachsen. Er verstand plötzlich, dass Bernadette abgehauen war, um in der Stadt einen draufzumachen.

Er bezweifelte, ob er hier überhaupt Empfang für sein Handy hatte.

Das Gasthaus »Falk«, in dem Radek ein Zimmer reserviert hatte, befand sich schräg gegenüber der Kirche. Er parkte neben dem Haus.

Vor dem Lokal befand sich eine große Terrasse mit Tischen, Stühlen und aufgespannten Sonnenschirmen. Drei junge Männer saßen an einem Tisch, unterbrachen ihr Gespräch, als Radek die Treppe hochstieg, und beobachteten ihn schweigend, als er in das Lokal ging. Dann stand er in einem Gang, an dessen Ende eine Treppe hochführte, links eine Tür mit der Aufschrift »Gaststube«, rechts eine zweite mit dem Schild »Speisesaal«.

Er ging in die Gaststube, ein langer Raum, der sich um die Ecke zog, im Stil der 80er-Jahre mit viel Holz an Decke und Wänden eingerichtet. Gleich rechts neben der Tür war ein großer Ausschank, der erste Teil als Rezeption gestaltet, mit einem Schlüsselboard und Postfächern sowie einer Art Schreibtisch mit Computer. Ein Mann saß davor, blickte kurz auf, als er Radek bemerkte, erhob sich und begrüßte ihn freundlich.

»Ich habe ein Zimmer reserviert«, sagte Radek und nannte seinen Namen.

Der Mann reichte ihm die Hand und stellte sich als Herr Falk, der Wirt, vor. Er war Anfang 40, untersetzt. Mit seiner Trachtenweste, der Lesebrille auf der Nase und dem schütteren Haar machte er den Eindruck eines gemütlichen und umgänglichen Landbewohners, der fernab von Stress und Hektik ein beschauliches Dasein fristete.

Wie ein Klischeebild aus dem Prospekt des örtlichen Tourismusverbands, dachte Radek.

Falk gab ihm einen Schlüssel. »Zimmer 105, im ersten Stock«, erklärte er. Dann reichte er ihm den Block mit dem Meldeformular über den Tresen. »Vielleicht können wir die Formalitäten gleich erledigen«, sagte er. »Wie lange wollen Sie bleiben?«

»Ich weiß noch nicht, aber ich denke, mindestens bis Dienstag. Möglicherweise auch noch ein paar Tage länger.«

Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Kein Problem, lassen Sie das Feld für die Abreise frei und bleiben Sie, solange Sie wollen.«

»Nicht viel los in der Nachsaison?«, fragte Radek.

 

»Das ist unterschiedlich. Hängt vom Wetter ab. Momentan ist es ein bisschen ruhiger. Im Sommer allerdings waren wir gut belegt.«

Radek begann das Meldeformular auszufüllen. »Ich nehme an, Ihre Gäste sind Wanderer und Städter auf Sommerfrische?«

»Da nehmen Sie richtig an. Sie sind aus Wien?«

Der spöttisch-verächtliche Tonfall in der Stimme des Wirtes entging Radek nicht. »Aus Niederösterreich. Sankt Pölten«, erklärte er.

»Ja, nett«, sagte Falk. »Kenn ich. Da gehen viele von uns hin. Oder nach Wien. Es ist hier ein großes Problem, dass die Jungen lieber in die Stadt ziehen, weil es dort die besseren Jobs gibt. Den Jungen ist das Dorf nichts mehr wert.«

»Schade. Die Gegend ist wunderbar.«

»Zum Wandern schon«, sagte der Wirt bitter. »Aber nicht zum Arbeiten.«

Falk wirkte immer verdrießlicher, daher wollte Radek dieses Thema nicht länger strapazieren. »Haben Sie eine Empfehlung, welche Wanderungen lohnenswert sind?«, fragte er.

»Sicher.« Falk suchte aus einem Ständer unter dem Schlüsselboard eine Broschüre und schob sie Radek über das Pult.

»Wenn Sie sich die Gegend ansehen wollen, finden Sie hier drinnen bestimmt die richtige Wandertour dafür.«

Radek blätterte in der Broschüre, auf deren Titelseite ein großes Logo des Tourismusvereins Schandau prangte und die eine Kombination von Fremden- und Wanderführer war. »Danke«, sagte er. »Ist die Burg Rotenstein eigentlich zu besichtigen?« Er fragte es beiläufig, obwohl er aus dem Internet wusste, dass es dort keinen Zutritt gab. Aber möglicherweise wurde es vor Ort anders gehandhabt, er wollte sich diesbezüglich noch einmal erkundigen.

Der Wirt wurde hellhörig und warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als wäre es verboten, über die Burg zu sprechen. Schon einen Moment später entspannte sich seine Miene wieder, als schien es ihn nichts anzugehen, und er antwortete in gleichmütigem Ton: »Nein, eine Besichtigung ist nicht möglich. Die Burg ist bewohnt und der Herr Baron wünscht das nicht.«

Damit war für ihn die Sache erledigt. Er drehte sich um, begann den Spüler für die Gläser auszuräumen und nahm von Radek keine Notiz mehr, als hätte sich sein Gast in Luft aufgelöst.

Der Herr Baron wünscht das nicht, dachte Radek. Offensichtlich wollte er nicht gestört werden. Und offensichtlich funktionierten hier in der tiefsten Provinz die Untertänigkeit der vergangenen Jahrhunderte und die Autoritätshörigkeit des alten Österreichs noch immer problemlos, hatten sich vererbt und fortgesetzt bis ins digitale Zeitalter. Die Leute kommunizierten zwar mit ihren Smartphones rund um die Welt und buchten über das Internet Abenteuerurlaube in Kanada, aber wenn der Herr Baron seine Ruhe haben wollte, dann waren alle ganz artig und folgsam.

Radek füllte das Meldeformular fertig aus. Als er im Feld mit dem Beruf angelangt war, überlegte er einen Moment, ob er Polizist angeben sollte, entschied sich jedoch dagegen und schrieb »Beamter«.

Radek nahm den Schlüssel. »Im ersten Stock, sagten Sie, ist das Zimmer?«

»Ja, erster Stock links.« Der Wirt bestätigte das, ohne sich umzudrehen oder seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Frühstück von 7.30 Uhr bis 11 Uhr im Speisesaal.«

Den hatte Radek beim Hereinkommen auf der anderen Seite des Gangs gesehen. Er holte seine Reisetasche aus dem Auto und ging hinauf in sein Zimmer. Das war so einfach, aber gemütlich, wie er es aus anderen Gasthäusern auf dem Land kannte. Ein kleiner Vorraum, Kasten, Bad und WC, Tisch mit zwei Stühlen, eine Ablage für die Reisetasche, ein Fernseher mit Museumsreife. Auf dem Balkon ein alter Gartensessel und ein kleiner Blechtisch mit einem Aschenbecher.

Radek richtete sich im Zimmer ein, räumte seine Tasche aus, und als er sein Gewand im Kasten verstaut hatte, ging er wieder nach unten. Er setzte sich auf die Terrasse vor dem Gasthaus und bestellte eine Tasse Kaffee. Die Gäste von vorhin waren mittlerweile gegangen. Er genoss den warmen Herbstnachmittag. Auf dem Hauptplatz waren keine Leute unterwegs. Es war kurz nach 14 Uhr und die Geschäfte hatten bereits geschlossen.

Nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, entschied er sich, spazieren zu gehen. Er zog im Zimmer seine Wanderschuhe an und machte sich auf den Weg. Wie magisch zog es ihn hinauf zur Burg Rotenstein. Lag es daran, dass er sich durch das geplante Studium beinahe als Historiker fühlte und die geschichtlichen Orte ganz automatisch seine Aufmerksamkeit erregten und einen unwiderstehlichen Reiz entwickelten?

Er stieg die Zufahrtsstraße hoch. Oben, hinter der Burg, vom Dorf aus nicht zu sehen, befand sich ein großer Parkplatz, von niedrigen Hecken umgeben und mit Bäumen bewachsen. Am Ende des Parkplatzes sah er eine Garage und ein Wirtschaftsgebäude. Auf dem Parkplatz standen mehrere Autos.

Hinter der Burg führte eine Wiese zunächst flach und dann etwas ansteigend hinauf zum Waldrand. Ein Teil der Wiese, nahe den Gebäuden, war als Koppel abgezäunt, Radek sah dort zwei Pferde grasen. Ein idyllisches Fleckchen.

Die Burg überragte die Landschaft, und der mächtige viereckige Bergfried, der Radek schon aufgefallen war, als er in die Ortschaft kam, klotzte vor ihm wie ein unüberwindbares Hindernis. Die Burg war auf einem Felsmassiv aus rötlichem Stein erbaut. Jetzt wusste er auch, woher sie ihren Namen hatte.

Bevor sich Radek weiter der Betrachtung des gewaltigen Bauwerks hingeben konnte, stand plötzlich ein Mann vor ihm. Schwarzes Hemd, Jeans, ein dunkles Sakko. Groß, kräftig gebaut, kurz geschorenes Haar. Er trug einen Ohrhörer, ein Spiralkabel führte unter sein Jackett.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann bestimmt, aber nicht unhöflich. »Das hier ist ein Privatgrund.«

Radek war überrascht. Der Typ sah aus wie ein Bodyguard oder der Türsteher einer Diskothek in der Großstadt und passte überhaupt nicht in diese Gegend.

»Ich wollte mir die Burg ansehen«, sagte Radek wahrheitsgemäß, dennoch alarmiert. »Und ich dachte, es gibt einen Weg rundherum.« Er machte auf naiven Touristen, das konnte nie schaden.

»Nein, es gibt keinen Weg um die Burg. Die Burg ist bewohnt und Privatbesitz. Der Herr Baron wünscht nicht, dass sich Leute hier herumtreiben.«

Aha, wieder der Herr Baron, der was nicht wünscht, dachte Radek.

»Sie müssen zurück ins Dorf. Von dort haben Sie mehrere Möglichkeiten, um im Wald oder auf den umliegenden Bergen zu wandern«, erklärte ihm der Mann. Er sprach wie mit einem ungezogenen Kind und baute sich vor Radek auf.

Radek war klar, dass der Parkplatzwächter ihn ohne zu zögern mit Gewalt am Weitergehen hindern würde. »Danke für die Auskunft«, sagte er deshalb und warf noch einen Blick auf die Autos. Euer Hochwohlgeboren wünscht gewiss, mit seinen Gästen ungestört zu sein, lag ihm auf der Zunge. Aber er schluckte die Bemerkung hinunter, weil er den Großen nicht unnötig provozieren wollte. Er machte brav kehrt, ging die Straße zurück ins Dorf und suchte sich von dort einen Wanderweg in den Wald.

8.

Der herbstliche Wald lud nicht nur zum Wandern ein, sondern auch zum Fotografieren. Die Sonne in den Bäumen, die unterschiedlichsten Farbtöne der Blätter, die im sanften Gegenlicht aus jedem Blickwinkel anders wirkten, diese spätsommerliche Stimmung lockte nicht nur Spaziergänger in die Natur, sondern auch so manchen Hobbyfotografen.

Deshalb fiel der Mann nicht auf, der mit einer kleinen Fototasche durch den Wald schlich. Ja, es war ein Schleichen, kein Gehen. Er wollte nicht gesehen werden. Und leise zu sein war dafür die erste Voraussetzung. Aus diesem Grund hatte er nur das Nötigste dabei: das Gehäuse seiner Canon EOS 2000D, zwei Zoomobjektive, einen Telekonverter, ein Stativ. Und ein Nachtsichtgerät. Er durfte kein Licht verwenden. Er legte Wert auf wenig Ausrüstung, wollte nicht mit einer riesigen, schweren Fototasche herumlaufen, damit auffallen und von ihr behindert werden. Er musste beweglich bleiben. Er war nicht gekommen, um Bäume oder Blätter zu fotografieren.

Der Fotograf wusste genau, wohin er musste. Er war nicht zum ersten Mal hier. Alles war vorbereitet. Er hatte ihre Autos gesehen, als sie durch das Dorf fuhren, und hatte gewusst, es war wieder so weit. Er bemerkte nicht immer, wenn sie kamen. Sie trafen sich unregelmäßig, wahrscheinlich vereinbarten sie bei jedem Treffen bereits ihren nächsten Termin. Aber er sah sie häufig, das genügte ihm.

Er hatte sein Zeug geschnappt und war in den Wald hinaufgegangen. Seine Frau wunderte sich nicht mehr darüber. Er hatte erst vor wenigen Jahren mit dem Fotografieren begonnen, und sie war froh gewesen, dass er ein Hobby gefunden hatte, welches ihm Freude bereitete und ihn darüber hinaus noch dazu bewegte, in die Natur zu gehen. Und seine Kinder scherten sich sowieso nicht um das, was er machte, solange er sie nicht damit nervte oder es ihnen peinlich wurde.

Langsam und vorsichtig bewegte er sich durch den Wald. Niemand durfte ihn sehen oder bei dem, was er tat, erwischen. Er hatte keine Ahnung, was sie dann mit ihm tun würden, aber er wusste, dass es nichts Angenehmes sein würde.

Immer wieder verharrte er still und lauschte wie ein Jäger. Im Grunde war er das auch – ein Jäger. Aber ohne Gewehr und nicht hinter Tieren her.

Ohne Probleme fand er die Abzweigung vom Pfad, die nur er kannte. Hinein in den Wald, weg von den Wanderern und Spaziergängern, die sich selten um diese Zeit noch im Wald herumtrieben.

Immer tiefer drang er in das Dickicht vor, bis er an den Waldrand kam. Dahinter lagen eine leicht abfallende Futterwiese, die Burg und darunter das Dorf. Der Waldrand war dicht verwachsen mit wilden Hecken und Büschen, mit Brombeer-, Haselnuss- und Holundersträuchern. Er hätte auch über die Futterwiese zu seinem Platz gehen können, aber dabei lief er Gefahr, vom Dorf oder von der Burg oder von der Straße, die zum Friesenbichler-Bauern führte, gesehen zu werden, und das hätte alle seine Pläne zunichtegemacht.

Er war schon oft hier gewesen, sehr oft sogar, und hatte mit einer Heckenschere eine Nische in das beinahe undurchdringliche Dickicht geschnitten, sodass er nahe genug an den Wiesenrand kam, um einen freien Blick nach unten zu haben.

Eine perverse Neugier befiel ihn, als er die Fotoausrüstung auspackte. Er stellte das Stativ mit einem kräftigen Ruck auf den Boden, schraubte das Kameragehäuse fest und drehte den Zweifach-Telekonverter mit dem 70-300er Zoomobjektiv auf den Fotoapparat. Er steckte den Fernauslöser an.

Dann spähte er durch den Sucher und aus dem Dickicht. Ja, das war gut, viel besser als beim letzten Mal. Er veränderte die Brennweite und machte die ersten Fotos von dem Pärchen, das eben mit dem Auto unter ihm die Straße hochfuhr und auf dem Parkplatz anhielt. Perfekt, es war perfekt! Eine unbestimmte Erregung ergriff ihn.

Während er fotografierte, überlegte er bereits, ob sein Versteck für die Bilder sicher war. Denn er musste sie verstecken, wie die anderen Fotos auch, die er von hier aus geschossen hatte. Niemand durfte sie finden. Daher vertraute er auch keinem. Weder seiner Frau noch seinen Kindern. Sie waren keine schlechten Menschen, im Gegenteil, aber sie waren genauso verführbar wie die anderen. Deshalb traute er ihnen nicht über den Weg. Und den Leuten im Dorf sowieso nicht.

Er bereute es, den Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben. Der Herbst, der sich im Wald in strahlenden Farben präsentierte, hätte eine Menge schöner Fotomotive geboten. Radek hatte eine der Wanderrouten aus der Broschüre, die ihm Falk gegeben hatte, ausgewählt und war eine lange Runde im Wald gegangen, bei der er fast zwei Stunden unterwegs gewesen war.

Jetzt saß er auf der Terrasse vom Gasthaus »Falk«, hatte ein herrlich kühles Bier vor sich auf dem Tisch und blätterte in der Broschüre, um eine Wanderung für den nächsten Tag zu suchen.

Schräg gegenüber vor einer Fleischhauerei standen zwei ältere Frauen auf dem Gehsteig und tratschten. Offensichtlich hatten sie eine ganze Menge zu besprechen, denn als Radek das Bier halb ausgetrunken und für morgen eine Tour gefunden hatte, waren sie noch immer dort. Während er überlegte, was wohl so interessant sein könnte, dass es die beiden Frauen dazu brachte, ein zufälliges Treffen derart auszudehnen, kam ein etwa 20-jähriges Mädchen in einem langen dunklen Mantel den Gehsteig entlang. Bevor sie die beiden Frauen erreicht hatte, unterbrachen diese ihr Gespräch, wichen zur Seite, senkten in einer unterwürfigen Geste die Augen und ließen die Jüngere vorbeigehen. Danach setzten sie ihr Gespräch fort, allerdings steckten sie nun die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt. Immer wieder blickten sie verstohlen der jungen Frau nach, als hätten sie Angst, dass das Mädchen sie hören und zurückkommen könnte. Radek wunderte sich, warum die beiden Klatschtanten sich vom Auftauchen der jungen Göre so einschüchtern ließen, einfach zur Seite traten, ohne ein Wort zu sagen, jetzt aber ihr Gift über die Jugendliche und das eben Geschehene verspritzten.

 

Immer das gleiche Spiel, dachte er, zuerst kuschen, sich nicht trauen, aufzustehen, und sich dann das Maul zerreißen. Er trank sein Bier aus. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden und es wurde kühler. Zeit, hineinzugehen.

Zwei Stunden später saß er in der Gaststube, und während er aß, füllte sich das Lokal. Männer setzten sich an die Theke, tranken Bier oder Wein, gingen wieder, machten damit Platz für andere. An den Tischen sammelten sich einige Jugendliche. Es war Samstagabend und das Schandauer Nachtleben ziemlich bescheiden, vermutete Radek. Wer nicht mit dem Auto in eine der größeren Städte in der Umgebung fahren konnte, musste sich wohl oder übel mit den beiden Gasthäusern hier im Dorf zufriedengeben.

Das hier war also das Lokal, in dem Bernadette Lindner am Abend ihres Verschwindens gewesen war. Radek überlegte, ob er Falk gleich befragen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Noch war er hier auf einem Wochenendurlaub und nicht im Dienst.

Radek hatte ein Buch mitgenommen, das ihn interessierte und das er sicherlich auch für die Uni gebrauchen konnte, sowie einen Schreibblock. Er wollte sich angewöhnen, seine Lektüre, die er in Zukunft zu lesen hatte, gewissenhaft zu exzerpieren, um sich damit später Zeit und Arbeit zu ersparen. Er las intensiv und konzentriert, obwohl er sich bemühte, keinen der Gäste, die kamen und gingen, zu übersehen. Er versuchte die Leute zu sondieren, ohne dabei aufdringlich zu wirken, sie einzuschätzen und sich ein Bild von den Bewohnern des Ortes zu machen.

Irgendwann im Laufe des Abends kam eine junge Frau ins Lokal und setzte sich an den Ausschank. Sie fiel ihm auf, weil sie hübsch und alleine war. Die Männer an der Bar begrüßten sie freundschaftlich, ebenso die Kellnerin, sie war also keine Unbekannte. Radek bemerkte sofort ihren dunklen Lidschatten, der ihr mit dem halblangen brünetten Haar und ihrer schwarzen Kleidung ein beinah mondänes Erscheinungsbild verlieh, das viel besser in ein Wiener Szene-Lokal als in dieses Dorfgasthaus gepasst hätte.

Sie bestellte ein Glas Rotwein, zündete sich eine Zigarette an, blickte sich im Lokal um und registrierte, dass Radek sie beobachtete. Es schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil, Radek hatte den Eindruck, als würde sie ihre Wirkung auf ihn genießen. Sie wandte sich der Kellnerin zu, die gerade an der Espressomaschine hantierte. Schnell wechselten sie einige Sätze, sie erkundigte sich nach dem fremden Gast. Dann drehte sie sich wieder zu Radek, schlug die Beine übereinander und musterte ihn mit interessiertem Blick. Sie lächelte. Ihr Verhalten war nicht verführerisch, eher neugierig, als ob sie fragen wollte: Na, was bist denn du für einer? Radek wusste, dass er nicht hässlich war, und kannte seine Wirkung auf Frauen. Trotzdem war es ihm beinahe peinlich, so direkt in Augenschein genommen zu werden, vor allem, weil das Verhalten des Mädchens auch die Aufmerksamkeit der übrigen Männer an der Bar auf ihn lenkte und sie ihrem Blick folgten. Plötzlich starrten ihn vier weitere Augenpaare an. Sie beobachteten ihn allerdings nicht freundlich, sondern argwöhnisch. Aus Verlegenheit nahm Radek sein Bier und prostete den Leuten an der Bar jovial zu, aber die Männer ignorierten es. Das Mädchen allerdings hob das Glas und erwiderte seine Geste mit einem Kopfnicken und einem Lächeln.

Radek versteckte sich wieder hinter seinem Buch und las weiter.

Später am Abend leerte sich das Gasthaus langsam. Auch das Mädchen an der Bar verschwand bald, nachdem sie das Glas Wein ausgetrunken hatte. Als Radek bemerkte, dass er mittlerweile der letzte Gast war und die Kellnerin ihn gelangweilt beobachtete, ging er in sein Zimmer hinauf.