Entführung in eine bessere Zukunft

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Als es anfing, dunkel zu werden, legte er sich auf sein Bett und ruhte aus. Die anderen saßen schweigend vor dem Haus, Kes rauchte und die beiden anderen tranken Tee. Sue war nirgends zu sehen, wahrscheinlich war sie in ihrem Abteil und weinte. Er verfluchte sich, ihr von dem Fernsehbericht erzählt zu haben. Er versuchte zu meditieren, aber seine Meditation ging bald ihn bloßes Dösen über. Er war zu aufgeregt, um zur Ruhe zu kommen, und er dachte sich alle möglichen Strategien für seinen Ausflug aus. Um schätzungsweise zehn Uhr stand er auf. Die andern lagen inzwischen in ihren Betten und schliefen oder stellten sich schlafend. Er ging leise hinaus und schloss die Tür hinter sich. Er legte das auf ellenlänge aufgerollte dünne Seil aus Lianen über seine Schulter und nahm die vorbereiteten Stöcke auf den Rücken. Die Sicht war gerade richtig, dunkel genug, um nicht aufzufallen, aber genügend hell, um sich zu orientieren.

Am Ende der Lichtung ging er zu Boden und begann langsam zu kriechen. Er bewegte sich nur zentimeterweise vorwärts und hielt immer wieder an, um die Umgebung mit unendlicher Vorsicht abzutasten. Nach etwa einem halben Meter fühlte er beim Absetzen seiner Handfläche plötzlich einen stechenden Schmerz. Im ersten Moment glaubte er, von einer Schlange gebissen worden zu sein und er verfiel wieder einmal in Panik. Zum wievielten Mal in den letzten zwei Tagen, es wurde langsam zur Gewohnheit. Die Panik ließ nach, als er feststellte, dass es sich lediglich um einen Stachel handelte, der aus dem Boden ragte. Er konzentrierte sich jetzt darauf, seine Hände nur noch schleifend über den Boden fortzubewegen. Die nächsten zwei Meter überwand er ohne weitere Zwischenfälle, er benötigte dazu etwa eine viertel Stunde. Doch dann fühlte er plötzlich auf seinem Unterarm einen leichten Widerstand. Er zog seine Hand vorsichtig zurück. Eventuell lag die Lösung für das Warnsystem direkt vor ihm. Er wurde ungeduldig und zwang sich erst mal dazu, tief durchzuatmen. Nur jetzt keinen Fehler machen! Er nahm eine stabile Position ein, auf keinen Fall durfte er jetzt aus dem Gleichgewicht kommen. Die linke Hand flach auf dem Boden bewegte er seine rechte Hand millimeterweise vorwärts. Er betastete den Draht, ohne Kraft auszuüben. Er war etwa zwanzig Zentimeter straff über den Boden gespannt und verlief parallel zum Rand der Lichtung. Offenbar umrundete er das gesamte Areal. Etwas passte nicht ins Bild. Bei seiner Ankunft im Camp hatten er und seine Begleiter die Lichtung beschritten, ohne auf ein Hindernis zu treffen, offenbar gab es eine offene Stelle, deren Position nur ihnen bekannt war. Andererseits glaubte er nicht, dass die Planer des Verstecks eine solche Sicherheitslücke zugelassen hätten. Was hätte er getan, um sie zu schließen? Es gab nur eine Lösung, es musste einen zweiten Ring geben, dessen Öffnung zum Durchgang des ersten etwas versetzt war. Seine Erinnerung an seine Ankunft bestätigte seine Vermutung. Seine Begleiter hatten ihn kurz vor Erreichen der Lichtung grob zur Seite geschoben, er hatte das in diesem Moment lediglich als Schikane empfunden, aber jetzt erkannte er den Sinn. Zur Bestätigung kroch er zu der bewussten Stelle und fand seine Vermutung bestätigt. Eine tiefe Zufriedenheit erfüllte ihn. Er markierte die Stelle mit einigen seiner Stöcke, die er schief in den Boden stieß, damit es möglichst natürlich aussah. Er schuf so eine Reihe von genau fünf Stöcken vom Durchgang bis zum Lichtungsrand. Er schlief diese Nacht so ausgezeichnet wie schon lange nicht mehr.

Er spürte ihren Blick für einen Moment, aber sie senkte ihn wieder und sah weiterhin zu Boden. Er hatte beim Frühstück ausführlich berichtet, was er herausgefunden hatte. Er hatte ihnen die Durchgangsstelle gezeigt und die Bedeutung der Stöcke als Wegweiser erläutert, nach dem fünften Stock befand sich der Draht, zwei Handbreit über dem Boden, aber im Gras kaum zu erkennen.

Er hatte vor, in der folgenden Nacht auch den zweiten Eingang auf dem gegenüberliegenden Durchlass zu kennzeichnen und anschließend die nähere Umgebung zu erkunden. Zu diesem Zweck ergänzte er seinen Vorrat an Stöcken und fertigte ein weiteres Seil aus Lianen, das er ebenfalls in Schlaufen legte. Ben und Kees boten sich an, ihn zu begleiten, aber er lehnte ab. Kees war zu alt für ein solches Vorhaben und Ben erschien ihm zu ungeduldig für eine Mission, die absolute Konzentration erforderte. Jörg bevorzugte, allein zu handeln, nur für sich verantwortlich zu sein und sich nur auf sich selbst zu konzentrieren. Sie verstanden dies, als er ihnen erklärte, mit welcher Vorsicht er jeden einzelnen Schritt vorbereitete, sie begannen, ihm zu vertrauen, er war in der Gruppe angekommen.

Kes instruierte ihn weiter. „Weißt du, unser größtes Problem ist natürlich die Ungewissheit über unsere Zukunft, aber gleich danach kommt die Langeweile. Es klingt in dieser Situation paradox, aber wir haben seit Wochen keine Abwechslung außer Kochen und das Haus sauber zu halten. Es gibt kein Licht, die Abende sind daher besonders lang. Wenn wir früh ins Bett gehen, wachen wir nachts auf und können nicht wieder einschlafen. Mit dir ist das ganz anders, und in gewisser Weise beneiden wir dich. Du bist tagsüber mit Vorbereitungen beschäftigt, die wir nicht verstehen, es scheint dich vollständig auszufüllen, und wenn du von deiner Erkundungstour zurückkommst, schläfst du wie ein Stein.“

Jörg war neugierig. „Habt ihr nicht versucht, den Tag und den Abend zu strukturieren?“

Kes antwortete. „Das haben wir tatsächlich. Ich habe zum Beispiel vorgeschlagen, dass wir uns gegenseitig unterrichten. Praktisch jeder von uns hat ein Talent, eine Fähigkeit oder ein Wissen, über das die anderen nicht verfügen. Die letzten beiden Tage haben wir es schleifen lassen, du warst interessanter.“

Jörg war neugierig. „Welche Aktivitäten habt ihr gefunden und wie habt ihr es organisiert?“

Kes zählte auf. „Es ist ein interessantes Spektrum, Ben zum Beispiel ist ein hervorragender Jongleur, wir haben aus unseren Essensvorräten Äpfel entnommen und tragen nun Wettkämpfe aus, wer am längsten zwei Äpfel in Bewegung halten kann, wir gehen inzwischen sogar auf drei über. Ben hat uns erklärt, wie durch diese Tätigkeit völlig neue Verknüpfungen im Gehirn entstehen, er ist wirklich ein toller Motivator. Sue führt uns in den achtfachen Weg des Buddha ein. Sie ist überzeugte Buddhistin und hat auf diesem Gebiet ein fundiertes Wissen.“

Jörg war begeistert. „Wahnsinn, ich versuche mich auch auf diesem Wege.“

Kes war interessiert. „Du willst Buddhist werden?“

Bernd dachte nach. „Das weiß ich eigentlich gar nicht, ich habe die Art kennengelernt, wie die Mönche leben. Ich liebe ihre ruhige Art, ich meditiere mit ihnen, aber ich könnte auf keinen Fall längere Zeit so leben. Immerhin gibt es mir so etwas wie einen Ersatz für meinen verlorengegangenen Glauben an Gott.“

Kes fragte bedauernd. „Du glaubst nicht an Gott?“

Jörg konterte. „Tust du es?“

Kes antwortete nur zögernd. „Ich weiß nicht, die Schilderungen in der Bibel halte ich für erfundene Geschichten, die wohl irgendeinen wahren Kern haben. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass Jesus wirklich gelebt hat, aber ich stelle ihn mehr als eine Art Che Guevara vor, der die Welt verändern wollte und sich damit den Unwillen der herrschenden Klasse zuzog. Die angeblichen Wunder können auch tatsächlich einen logischen Kern haben, vielleicht haben ja die Fischer auf dem See Genezareth eine Luftspiegelung gesehen, als Jesus über das Wasser lief. Auch seine Auferstehung halte ich für möglich, vielleicht war er nicht ganz tot und seine Jünger haben ihn im Grab gesund gepflegt, als er dann entkommen ist, erschien die wie eine Himmelfahrt.“

Jörg unterbrach ihn: „Es gibt tatsächlich gewisse Hinweise darauf, dass er bis Indien gekommen und dort gestorben sein soll. Ich selbst kann natürlich nicht ausschließen, dass es wirklich eine Art Gott gibt, aber wenn er existiert, dann sicherlich nicht mit den Attributen, die ihm zugesprochen werden, das wäre unlogisch.“

Kes folgerte. „Du bist offenbar ein großer Logiker, der jedes Problem zerpflückt, bis nichts mehr übrigbleibt.“

Jörg bestätigte. „Wenn du es so nennen willst. Was ich meine ist, dass ein Gott, der uns geschaffen haben will, solche grausamen Dinge zulässt, wie sie Tag für Tag und Jahrhundert für Jahrhundert passieren. Man sagt, er sei allmächtig, warum verhindert er es nicht? Er will am jüngsten Tag über uns richten und die Bösen bestrafen, lächerlich. Er selbst wäre der Schöpfer dieser Bösen. Er müsste selbst in die Hölle. Ich habe mit Theologen über diesen Widerspruch gesprochen und sie sind mir entweder ausgewichen, glauben heißt einfach glauben, oder sie haben mit dem freien Willen argumentiert, nicht Gott, sondern der Einzelne selbst entscheidet, ob er böse oder gut ist.“

Kes bestätigte. „Klingt doch plausibel.“

Jörg widersprach. „Überhaupt nicht, warum hat er Menschen erschaffen, denen er über den freien Willen die Möglichkeit zu dieser Entscheidung gibt. Und haben wir überhaupt einen freien Willen. Oder stimmt die These von Descartes vielleicht doch, dass der Ablauf des ganzen Geschehens abläuft wie ein Billardspiel, jeder Stoß hat eine bestimmte Richtung und eine bestimmte Geschwindigkeit, aus diesen beiden Werten lässt sich mit absoluter Präzision der weitere Verlauf der Kugeln bestimmen, dazu genügen die Anwendung ganz einfacher Rechenvorschriften aus der technischen Mechanik. Dies würde bedeuten, dass bereits seit dem Urknall alle Abläufe absolut unverrückbar festgelegt sind, ein beklemmender Gedanke, und für Gott bleibt überhaupt kein Spielraum mehr.“

Kes wurde sehr nachdenklich. „Ich bin zwar kein Physiker, aber kommt da nicht die Quantenmechanik zu ganz anderen Ergebnissen?“

Jörg dachte nach. „Ja, aber was ist die Wahrheit?“

 

Kes hatte eine Idee. „Das ist eine gute Gelegenheit für unsere Freizeitgestaltung. Du kennst die Methode der Dialektik?“

Jörg bestätigte. „Vage, in meinem Job habe ich es mehr mit der Eristik zu tun.“

Kes blickte fragend. „Wie geht die denn?“

Jörg erklärte. „Das ist ebenfalls eine Diskussionsmethode, allerdings nicht mit dem Ziel die Wahrheit zu finden, sondern mit dem Ziel, die eigene Meinung durchzusetzen, unabhängig davon, ob sie die richtige ist.“

Kes zweifelte. „Und das ist eine Wissenschaft?“

Jörg bestätigte. „In der Tat, sie geht auf die Zeit des Perikles im alten Griechenland zurück. Damals war es eine Art Volkssport, Mitbürger wegen irgendwelchen erfundenen oder tatsächlichen Delikte anzuzeigen. Da die Institution des Verteidigers damals noch nicht erfunden war, war es lebensnotwendig, sich für die Selbstverteidigung schulen zu lassen. Diese Aufgabe übernahmen die sogenannten Sophisten, die sich ihre Lehre gut bezahlen ließen. Der bekannteste war übrigens ein Herr namens Protagoras, ein Meister in der Anwendung spitzfindiger Argumente. Bei ihm meldete sich eines Tages ein Schüler mit einem überraschenden Angebot. ‚Ich zahle dir das Doppelte des üblichen Honorars, sobald ich meinen ersten Prozess gewinne.‘ Protagoras war einverstanden. Nachdem ein Jahr verstrichen war, wurde er ungeduldig und klagte auf Zahlung seines Honorars.“

Kes musste lachen. „Lass mich raten: egal, wie der Prozess ausging, der Schüler kam um die Bezahlung herum.“

Jörg bestätigte. „Richtig, die Methode der Dialektik ist da bestimmt ehrlicher.“

Kes führte aus. „Sie funktioniert nach einem sehr einfachen Prinzip. Jemand formuliert eine These, beispielsweise die Definition: Gerechtigkeit ist, wenn alle gleichbehandelt werden. Die führt dann zur Antithese: Es kann nicht gerecht sein, wenn ein Verbrecher und ein guter Mensch gleichbehandelt werden. Die Antithese ist einsichtig und erfordert eine Modifizierung zur sogenannten Synthese: Gerechtigkeit ist, wenn jeder gemäß seinem Beitrag zur Allgemeinheit behandelt wird. Dies könnte dann zur nächsten Antithese führen, dass Kranke oft nicht in der Lage sind, ihren vollen Beitrag zu leisten, und so fort. Wenn sich dann im Laufe der weiteren Diskussion keine weiteren Einwände ergeben, kann man annehmen, der Wahrheit recht nahe gekommen zu sein.“

Jörg war beeindruckt. „Eine tolle Methode, vielleicht sollten wir sie mal darauf anwenden, die Wahrheit über unsere Situation herauszufinden.“

Kes stimmte zu. „Keine schlechte Idee, aber dazu bräuchten wir noch mehr Informationen.“

Jörg hatte das Bedürfnis, seine Einstellung zu Gott mit einem anschaulichen Beispiel zu demonstrieren. „Ich habe übrigens einen Lehrauftrag an der TU Darmstadt, um dort praktisches Wissen über die Anwendung technischer Lehrinhalte zu geben. Meine Studenten sind angehende Mechatronik Ingenieure und ich habe für sie einen Lehrsatz formuliert: ‚Wenn du einen Roboter mit künstlicher Intelligenz programmierst, stelle sicher, dass er später stolz auf dich ist.‘“

Kes musste lachen. „Klingt wie ein höchst intelligenter Witz.“

Jörg bestätigte. „Das soll auch so sein, aber dennoch mit einem ernsten Hintergrund. Ich möchte meinen Studenten klarmachen, welche Verantwortung sie mit der Programmierung übernehmen, schließlich erheben sie sich damit selbst zum Schöpfer.“

Sie merkten plötzlich, dass Sue und Ben ihrem Gespräch aufmerksam gefolgt waren, Pierre saß wie meistens abseits und schien gelangweilt. Es war Sue, die das Wort ergriff. Alle waren freudig überrascht, sie schien zumindest wieder für einen Moment ins Leben zurückzufinden. Ihre Stimme klang aufgeregt, sie war aufmerksam und hoffnungsvoll zugleich.

„Ich möchte unbedingt mehr darüber wissen, wie Menschen der westlichen Kultur den Buddhismus erleben, was sie empfinden, was ihnen fremd bleibt, was ihr Denken und Verhalten ändert. Bitte, ich bitte dich.“

Jörg fühlte ein angenehmes Gefühl der Wärme in sich aufsteigen. Wie konnte es sein, dass dieses herrliche zerbrechliche Wesen genau die gleichen Fragen stellte, die er mit seinem Freund im Tempel diskutieren wollte. Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen, nur so, nichts mehr, nur ihre Wärme spürend. War da mehr in ihm als nur Interesse am Buddhismus? Die Drei schauten ihn erwartungsvoll an. Er zögerte, er wollte sie nicht durch zu viel Nähe erschrecken und wandte sich deshalb an alle drei.

„Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass man solche Fragen nicht mit einigen Sätzen beantworten kann. Ich betrachte den Buddhismus nicht als Religion, sondern als Philosophie. Religionen erschaffen einen Gott, der ihnen dazu dient, die Menschen zu manipulieren, sie zu unterdrücken und auszubeuten, sie morden zu lassen, in seinem Namen. In seinem Namen! Mit dem Versprechen, dafür im Jenseits zig Jungfrauen schwängern zu dürfen. Und die sogenannten Gläubigen glauben diesen Scheiß. Entschuldige, Sue.“

Sie nickte nur, blickte ihn weiterhin erwartungsvoll an.

„Der Buddhismus versucht, die Welt zu verstehen und zu erklären, wie die Welt wirklich ist. In seiner reinen Form dient er nicht der Unterdrückung, sondern zeigt Wege auf, die auf der Erde zu einem besseren Leben und später zu einem friedlichen Abschluss führen. Dies ist ein Ansatz, der in völligem Gegensatz zu den drei monotheistischen Religionen steht, es ist der Gegensatz zwischen Wissen und Glauben. Auch in unserer Kultur gab und gibt es Denker, die die Welt erkennen wollen, wie sie wirklich ist. Die meisten davon finden wir im antiken Griechenland, ich habe mich mit ihren Gedanken eingehend beschäftigt und war immer wieder fasziniert.“

Inzwischen hatte sich auch Pierre zu ihnen gesellt, er schien wie immer gelangweilt, konnte sich eine Bemerkung allerdings nicht verkneifen. „Aber heute wissen wir doch, das war alles Quatsch.“

Die anderen erschraken, sie hatten Angst, die Stimmung könnte kippen und Sue wieder in ihre alte Lethargie verfallen. Jörg war ebenfalls verärgert, ließ sich aber nichts anmerken, wer auf Aggression mit Aggression reagiert, lässt sich die Spielregeln des Aggressors aufdrängen, keine gute Methode.

„Ich verstehe, was du meinst, tatsächlich ist vieles durch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften überholt, aber um die Leistung dieser Denker zu begreifen, müssen wir uns in ihre Zeit versetzen. Die Beschreibung des kleinsten nicht mehr teilbaren Teilchens, das Demokrit Atom nannte, war eine großartige Leistung. Auch wenn wir heute wissen, dass sich auch Atome weiter zerlegen lassen, und dass selbst Elektronen nicht die kleinsten Teilchen sind, bleibt die Kernaussage dennoch gültig, irgendwann stoßen wir auf etwas, dass das wirklich Kleinste ist, seien es Quarks oder was auch immer.“

Sue konnte es kaum abwarten. „Du hast es genau so beschrieben, wie wir es von einem Menschen deiner Kultur erwarten würden, und im Wesentlichen stimme ich dir zu. Ich bin unheimlich neugierig, mehr über eure alten Denker zu erfahren, und am erstaunlichsten finde ich, dass sie sich solche Fragen überhaupt stellten.“

Jörg stimmte ihr dankbar zu. „Du hast den Punkt erfasst, das Stellen von Fragen ist das wesentlichste Merkmal der Philosophie, die Antworten rangieren erst an zweiter Stelle.“

Dieser Punkt verwirrte Sue etwas, offenbar waren für sie Antworten wichtiger. Sie verfiel in Nachdenken, aber ihre Körpersprache verriet, jetzt waren es positive Gedanken.

Schließlich brach Kes wieder das Schweigen. „Ich denke, wir haben in dir etwas gefunden, das unser Strukturprogramm ungemein anreichern wird.“

Sue nickte stumm. Ihre Augen glänzten. War da ein Lächeln? Sie sahen sich an, zufrieden und entspannt. Für eine Stunde hatten sie ihre Situation vollständig vergessen, waren eingetaucht in eine andere Welt.

Jörg riss sich mit Gewalt wieder in die Wirklichkeit zurück. Heute Nacht wollte er das Camp seitwärts verlassen und eine größere Strecke zurücklegen. Er wollte wissen, wie weit sich die Insel nach Südosten erstreckte, auch wenn er die Küste nicht erreichen würde, gäbe seine Exkursion doch zumindest eine untere Grenze der Ausdehnung. Sein einziges Problem war die Orientierung, er brauchte eine Methode, wieder zurückzufinden. Die Angst, entdeckt zu werden, war praktisch Null, dafür war die Insel einfach zu groß.

Und da war noch etwas, er glaubte mit ziemlicher Sicherheit, den Zweck ihrer Mission zu kennen, und für die Organisation hinter dieser Mission gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Es war völlig egal, welche der beiden wirklich verantwortlich war, die Konsequenzen waren sowieso die gleichen. Aber er war auch sicher, selbst wenn sie ihn erwischen würden, würden sie ihn nicht töten, er war für ihre Mission unentbehrlich. Er rechnete schlimmstenfalls mit Schlägen oder einer Scheinhinrichtung. Er hatte beschlossen, seinen Gefährten nichts von seinen mehr als begründeten Verdacht zu sagen, es war einfach zu furchtbar um sie zu beunruhigen, dabei dachte er vor allem an Sue. Er dachte immer öfter an sie.

Nach dem Abendessen legte er sich wieder zwei Stunden hin, um auszuruhen und seinen Ausflug mental vorzubereiten. Er hatte beschlossen, die Untersuchung des zweiten Zugangs aufzuschieben, die Erkundigung der Umgebung schien ihm wichtiger. Eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit machte er sich auf den Weg. Sue begleitete ihn bis zum Durchgang und berührte ihn leicht am Arm: „Bitte pass auf dich auf.“

Die Bemerkung erfüllte ihn mit Wärme, am liebsten wäre er jetzt geblieben. Nach passieren der Durchgangsstelle umrundete er die Lichtung um neunzig Grad. Da die Entfernungen zum Meer in den Richtungen Süden und Norden auf Grund seiner Schrittmessung und der Berichte seiner Gefährten etwa bekannt waren, wollte er heute Nacht versuchen, die Entfernung in Richtung Westen zu messen. Er steckte einen Stock in den Boden und befestigte daran mit Hilfe einer Schlaufe ein Seilende, dann riss er noch einen Zweig von einem Baum und steckte ihn neben den Stock. Es war Halbmond, Licht genug, um die Umgebung zu erkennen, jedoch dunkel genug, sich verbergen zu können. Er ging Richtung Westen, bis das Seil zu Ende war. Jetzt hatte er genau hundert Meter zurückgelegt. Er zog an dem Seil und die locker gebundene Schlaufe ging auf. Er steckte den nächsten Stock in den Boden, befestigte das Seil erneut und platzierte den nächsten Zweig. Dann ging er weiter nach Westen und am Ende des Seiles peilte er über die beiden Zweige und bestimmte so die gerade Verlängerung des ersten Abschnitts. Das Verfahren stellte sicher, dass er wieder zurückfinden würde und dass er den zurückgelegten Weg messen konnte. Nach einigen Seillängen hatte er Routine und bewegte sich immer schneller vorwärts. Es gab zum Glück wenig Unterholz, so dass er die Zweige meistens gut erkennen konnte. Auf dem Weg gab es einen Sumpf, den er umgehen musste, aber seine Abmessung lag innerhalb einer Seillänge und stellte somit kein Problem dar. Er merkte sich die bis jetzt zurückgelegte Strecke und setzte seinen Weg fort. Nach etwa zwei Kilometern glaubte er Meeresrauschen zu hören. Als er schließlich den Strand erreichte, hatte er ziemlich genau zweieinhalb Kilometer zurückgelegt. Er setzte sich an den Strand, er war erschöpft, aber mit sich selbst höchst zufrieden. Es war wie im Urlaub, er wäre am liebsten liegengeblieben und eingeschlafen. Der Rückweg erfolgte viel schneller und ohne Zwischenfälle. Die Zweige waren gut zu erkennen, wirkten dabei ziemlich natürlich und unauffällig, er beschloss, sie stecken zu lassen. Der ganze Ausflug hatte über vier Stunden gedauert, er war total fertig und schlief im Anschluss wie ein Stein.

Sie konnten seinen Bericht kaum glauben. Dass er wirklich bis zum Meer gekommen war, die Entfernung angeben konnte und wieder zurückgefunden hatte, erschien ihnen wie ein Wunder. Jörg erklärte seine Vorgehensweise und machte dabei eine Skizze: „Was wir bis jetzt wissen, ist Folgendes: Wir sind entweder auf einer Insel oder einer Halbinsel. Die Ausdehnung nach Norden ist etwa zweieinhalb Kilometer, wie ich aus meiner Schrittzahlrechnung berechnet habe. Die Ausdehnung nach Süden liegt nach eurer Schätzung bei etwa einem und nach Westen auf Grund meiner Messung wieder zweieinhalb Kilometer. Heute Nacht bin ich bei auf einen Sumpf gestoßen“, er zeichnete die Position in die Skizze ein und ergänzte sie um die Entfernung von vierhundert Metern. „Es handelt sich um Süßwasser, durch Stoff gefiltert kann es zum Waschen dienen, gekocht auch als Trinkwasser.“

Pierre gab seinen üblichen Kommentar ab. „Wir haben genug Trinkwasser, und wozu soll eine Karte gut sein? Wir können sowieso nicht weg.“

Jörg blieb gelassen. „Du hast recht, aber ich weiß grundsätzlich gern über meine Situation Bescheid, ob es irgendwann von Nutzen ist, kann ich auch nicht sagen. Ich werde heute Nacht einen Ausflug nach Osten machen, dann wissen wir vielleicht mehr.“

 

Pierre zweifelte. „Nur wenn du bis zu einer Küste kommst, wenn nicht, wissen wir immer noch nicht, ob es sich um eine Insel handelt.“

Jörg erwiderte ruhig. „Stimmt, aber immerhin kennen wir dann die minimale Ausdehnung in dieser Richtung. Ich plane weitere Ausflüge in verschiedene Richtungen, vielleicht finde ich auf diese Weise den Aufenthaltsort unserer Aufpasser.“

Sue zuckte zusammen: „Aber damit könntest du dich in große Gefahr begeben.“

Die anderen stimmten ihr zu.

Jörg beruhigte sie. „Ich werde mich mit größter Vorsicht bewegen, wenn ich eine Strecke zum ersten Mal zurücklege, außerdem bin ich überzeugt, dass sie mich im Ernstfall nicht umbringen werden.“

Kes fragte überrascht: „Wie kannst du da so sicher sein, nach der Erfahrung mit unseren beiden Besuchern.“

Jörg erklärte. „Das waren Touristen, die hier zufällig angelegt haben und die Gegend erkunden wollten. Sie sind dem Trampelpfad gefolgt, vielleicht in der Erwartung, eine Siedlung zu finden. Stattdessen trafen sie auf unsere Lichtung und den Tod. Er war aus Sicht der Entführer die logische Konsequenz, eine Gefangennahme wäre ein unnötiges Risiko, und laufenlassen hätte die Gefahr einer Entdeckung bedeutet. Bei uns ist das anders, sie brauchen jeden von uns für ihre Mission.“

Es war wieder Pierre der ihn angriff. „Was zum Teufel könnte das sein, hast du da etwa auch eine Antwort parat?“ Pierres Stimme klang gereizt, er schaute Jörg herausfordernd an.

Jörg blieb ruhig. „Darüber können wir im Moment nur spekulieren, genau deshalb versuche ich Fakten zu gewinnen.“

Pierre nörgelte weiter. „Indem du Ausflüge in die Umgebung machst? Großartige Methode.“ Pierre ging ins Haus und die anderen schauten sich an.

Kes versuchte eine Erklärung: „Er ist der einzige Nichtakademiker unter uns, ich vermute, er fühlt sich minderwertig. Wir sollten ihm zeigen, dass wir ihn wertschätzen, vielleicht könnten wir ihm eine wichtige Aufgabe übertragen.“

Die anderen nickten und Jörg dachte nach. „Was ist mit unserem heutigen Programm, wer ist dran?“

Kes meldete sich: „Ich bin am Zug, meine Themenwahl ist total egoistisch. Wie du dir vorstellen kannst, wird man im Alter körperbewusster, meine Aufmerksamkeit ist seit einigen Jahren auf den Erhalt meiner Gesundheit konzentriert. Ich habe mich mit den verschiedensten Methoden der Körperertüchtigung befasst und eine Auswahl getroffen.“

Jörg schien zu verstehen. „Also ist heute Gymnastik dran?“

Kes korrigierte. „Unser Programm ist schon etwas anspruchsvoller, ich unterrichte Tai Chi und Chi Gong.“

Jörg war begeistert. „Das habe ich schon in Serpong kennengelernt, die Frau unseres örtlichen Vertreters ist Vietnamesin. Sie hat mir erzählt, dass in Vietnam viele Menschen schon morgens um sechs in den Park gehen und gemeinsam praktizieren. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Thai Chi und Chi Gong ?“

Kes erklärte: „Thai Chi geht auf das Bestreben der Kaiser des alten China nach Unsterblichkeit zurück. Sie beauftragten ihre Mönche, ein entsprechendes Verfahren zu entwickeln, und Thai Chi war das Ergebnis. Das Wissen war damals streng geheim, schließlich sollten die normalen Sterblichen auch sterblich bleiben. Thai Chi ist ein aufeinander folgender Ablauf von verschiedenen Figuren. Sein Praktizieren hatte mehrere positive Effekte, es entschleunigt die Gedanken auf Grund seiner langsamen Bewegungen, es schult das Gleichgewichtsgefühl, weil viele Phasen auf einem Bein erfolgen, und es schult die Konzentration, weil die Einhaltung des korrekten Ablaufs sehr schwierig ist. Bei Chi Gong wird dieselbe Figur mehrmals nacheinander ausgeführt, ich werde dich in die fünfförmige Übung einführen.“

Jörg konnte es kaum erwarten. „Das klingt alles prima, ich freue mich, wann fangen wir an?“

Ben antwortete. „In einer halben Stunde, Sue und Kes haben noch Küchendienst.“

Jörg fragte interessiert. „Wann trifft es mich?“

Die Antwort von Ben beruhigte ihn. „Wir haben beschlossen, dich zu verschonen, du musst dich tagsüber von deinen nächtlichen Ausflügen ausruhen.“

Sie trafen sich zu viert hinter dem Haus. Jörg, Ben und Sue standen in einer Reihe vor Kes. Ben begann: „Wir fangen heute mit der fünfförmigen Chi Gong-Übung an, die ist auch für Ben neu. In der ersten Figur wecken wir das Chi. Unter Chi verstehen die Chinesen den Energiefluss durch den Körper. Wenn er gestört ist, wird der Körper krank. Alle Übungen des Chi Gong dienen dazu, den Fluss in Gang zu halten. Als Asiatin sind Sue die allgemeinen Grundlagen zur Ausübung der Übungen bekannt, sie wird euch gegebenenfalls korrigieren.“

Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Fluge. Kes verstand es, die Übungen humorvoll zu kommentieren und Sue erwies sich als kritische Beobachterin. Sie bemerkte jede Abweichung vom vorgeschriebenen Bewegungsablauf und achtete besonders auf den Atem. Die Einleitung jeder Bewegung erfolgte mit einem tiefen Einatmen, die Ausleitung mit einem sehr langsamen, kontrollierten Ausatmen. Jörg genoss die Berührungen von Sue, wenn sie seine Bewegungen verbesserte, und er fühlte ihre Nähe, wenn sie seinen Atem kontrollierte. Täuschte er sich oder kümmerte sie sich besonders oft um ihn? Kes beobachte jedenfalls amüsiert die Szene und Ben tat, als ob alles normal war.

Am Abend waren alle dabei, als er die Lichtung wieder verließ. Sue fragte besorgt: „Wie weit willst du gehen?“

Die Antwort von Jörg beruhigte sie nicht. „Soweit ich in drei Stunden komme. Wenn ich keine Küste erreiche, kehre ich wieder um und mache morgen weiter, ich kann dann eine größere Strecke zurücklegen, weil der erste Teil des Weges dann schon abgesteckt ist.“

„Und wenn du merkst, dass du auf Festland bist, machst du dich davon und wir werden bestraft.“

Es war natürlich Pierre, der sich diese Bemerkung nicht verkneifen konnte.

Sue fuhr ihn heftig an: „Jörg würde uns niemals im Stich lassen, wie kannst du sowas sagen?“

Die anderen pflichteten ihr bei und Pierre schwieg betreten.

Jörg erläuterte: „Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, auf eine Siedlung oder dergleichen zu treffen, dieser Ort ist sicher so gewählt, dass ein Entkommen praktisch unmöglich ist. Es käme mir vor wie ein deus ex machina, wenn das passierte.“

Sue fragte neugierig: „Wie ein was?“

Jörg erläuterte „Wie ein Gott aus der Maschine. Er war das probate Mittel, mit dem die Autoren der griechischen Antike ihre Tragödien beendeten. Nachdem alles verloren war und keiner mehr an Rettung glaubte, wurde er mit einem Seil von der Decke auf den Boden herabgelassen und löste das Problem auf göttliche Weise. Ich wünsche euch eine gute Nacht, drückt mir die Daumen.“

Die ersten vierhundert Meter verliefen ohne Zwischenfälle, er bewegte sich inzwischen sehr sicher und benötigte nur eine knappe halbe Stunde. Dann sah er sich plötzlich einer Anhöhe gegenüber. Beim Näherkommen erwies sich diese als ein Bergkamm, der parallel zu seiner eingeschlagenen Route verlief. Der Ausdruck Berg war gemessen an seinem Standard etwas übertrieben, die Höhe verlief sicher unter hundert Metern, aber immerhin, eine deutliche Markierungshilfe.

Die folgende Strecke konnte er nun ohne seine Seilmethode fortsetzen. Er zählte wieder seine Schritte und kam jetzt zügig voran. Nach etwas über drei Kilometern knickte der Bergkamm nach rechts ab. Was sollte er tun? Dem Kamm weiter folgen oder ihn überqueren? Er entschloss sich, hochzusteigen. Um sich herum sah er nur grün, soweit es das Halbdunkel zuließ, und der Abstieg sah ziemlich steil aus. Er beschloss umzukehren.