Verrat verjährt nicht

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5.

Heute

Stahnke warf die Zeitung vor sich auf den Konferenztisch. Am anderen Tischende tat Venema das Gleiche, nur ungleich heftiger. »Hat die Spottdrossel uns wieder ausgetrickst«, schimpfte der Oberkommissar. »Tatortfotos mit allen Details! Aus nächster Nähe! Das kann nur sie gewesen sein. Der Dame ist einfach nicht zu trauen. Klimpert einen treuherzig an mit ihren blauen Augen, und dann haut sie uns hinterrücks doch in die Pfanne.«

»Mit den Wimpern«, korrigierte Stahnke. »Man klimpert mit den Wimpern. Augen klimpern nicht.«

Venema erstarrte. Alle Gespräche im Raum erstarben. Es war plötzlich so still, dass das Gespräch zweier Kollegen unten auf dem Hof durchs offene Fenster Wort für Wort zu verstehen war. Oberkommissar Venema presste seine Lippen aufeinander, stampfte durch den Besprechungsraum und knallte das Fenster zu. Als er seinen Platz einnahm, hatte sich sein Gesicht gerötet.

»Moin zusammen.« Stahnke setzte sich und blickte in die Runde. »Ich begrüße alle Mitglieder der Mordkommission Jachthafen zur ersten offiziellen Dienstbesprechung. Die meisten von uns sind schon seit gestern am Ball; bringen wir uns also gegenseitig auf den aktuellen Stand. Aktenführung macht Frau Wiemken.« Er nickte der grauhaarigen Beamtin zu, die gleich rechts von ihm saß. Nach ihm war sie die älteste Person in diesem Zimmer. Dienstrang Oberkommissarin, Vorname Sibylle. Hoffentlich bietet sie jetzt nicht das Du an, dachte Stahnke. Kollegin Wiemken aber beließ es bei einem Lächeln.

Außer ihr, Stahnke und Venema umfasste die neue Mordkommission zwei weitere Mitglieder, die junge Kommissarin Manuela Schönborn und Hauptkommissar Berthold Seifert vom Wasserschutz. Fünf Leute, das war normal. Ob die MK aufgestockt wurde, hing davon ab, wie sich die Ermittlungen entwickelten. Stahnke wusste, dass er den Vergleich mit seinem Amtsvorgänger nicht zu scheuen brauchte; der hatte keine gute Aufklärungsquote erreicht, viele Fälle waren ungeklärt in die Ablage gewandert. Wenn er hier unter Druck stand, dann nur, weil er von sich selbst mehr erwartete. Deutlich mehr.

Mit Seifert war Stahnke schon in Leer zusammengetroffen; damals war der Glatzenträger mit dem überbreiten Schnurrbart noch bei der Autobahnpolizei. Jetzt also Wasserschutz. Ob es da beschaulicher zuging als auf der Autobahn? Sicher, aber jedes Ding hatte seine zwei Seiten. Längst nicht alle Wasserleichen waren so frisch wie die von gestern. »Hat der Tauchereinsatz noch etwas ergeben?«, fragte Stahnke.

Seifert schüttelte den Kopf. »Leider nein. Es wurden zwar ein paar Kleinteile gefunden, die dürften aber eher im Zusammenhang mit den Bootsliegeplätzen dort stehen als mit unserem Fall. Ein Wantenspanner, ein paar größere Schrauben und Muttern, eine Bratpfanne ohne Stiel. Nichts, was zu den Wunden des Toten passt. Trotzdem haben wir natürlich alles in die Kriminaltechnik gegeben.«

»Danke.« Stahnke legte seine Hände flach auf den Tisch. »Dann gehen wir also unsere Hauptfrage an. Identität des Toten. Wer war dieser Mann? Haben wir diesbezüglich schon etwas? Kollege Venema, was ist mit Gebiss und Fingerabdrücken?«

»Fingerabdrücke negativ«, antwortete der Oberkommissar, dessen Wangen immer noch rötlich getönt waren. »Wir haben ihn nicht in unserer Datenbank. Zahnstatus ist noch offen; Aufnahmen sind angefertigt, aber noch nicht ausgewertet. Ich schlage vor, wir veröffentlichen als Nächstes ein Porträtfoto und bitten die Öffentlichkeit um Mithilfe.« Er hielt den Abzug einer Nahaufnahme in die Höhe.

Seifert lachte. »Foto veröffentlichen? Nach all dem, was heute schon in der Regionalen Rundschau steht? Text und illegale Fotos von Spottdrossel Dressel? Das hat sich wohl erübrigt. Eigentlich müssten unsere Telefone schon Sturm klingeln.«

»Das tun sie natürlich nicht, weil dieser Bericht keine Telefonnummer für sachdienliche Hinweise enthält«, fauchte Venema den Höherrangigen an. »Außerdem ist die Nahaufnahme vom Gesicht der Leiche verpixelt. So viel Anstand hatte die Redaktion gerade noch. Also werden wir das noch mal ganz ordentlich … ja, was ist denn?«

Manuela Schönborn hatte schüchtern die Hand gehoben. Allem Anschein nach war dies die erste Sonderkommission, der sie angehörte. Entsprechend unsicher klang sie, als sie fragte: »Wir suchen den Namen des Toten? Seine Identität ist noch nicht bekannt?«

»Natürlich suchen wir seine Identität«, polterte Venema los. »Wie sollen wir denn wohl den Täter ermitteln, wenn wir nicht einmal wissen, wie der Tote heißt?«

»Ich weiß, wie er heißt«, sagte Manuela Schönborn. Thorsten Venema verstummte augenblicklich, nur sein Mund klappte ein paarmal auf und zu.

»Warum sagst du das nicht gleich?«, fragte Sibylle Wiemken milde tadelnd. »Wer ist es denn?«

»Ich wusste ja nicht … bin doch erst heute früh hierher abgestellt worden.« Sie gab sich einen Ruck. »Der Tote ist Heino Zander. Er hat mit meiner Mutter zusammen an der Uni Oldenburg studiert. Damals hat er im Studentenwohnheim am Johann-Justus-Weg gewohnt. Meine Mutter auch. Es gibt Fotos aus dieser Zeit. Ist lange her, aber ich habe ihn gleich wiedererkannt. Das ist Heino Zander.«

»Gibt es die Fotos noch? Die müssen wir haben.« Fordernd streckte Stahnke seine Hand aus. »Können Sie Ihre Mutter fragen? Am besten jetzt gleich, telefonisch?«

Die junge Kommissarin schlug die Augen nieder. »Die Kartons stehen bei mir auf dem Dachboden«, sagte sie leise, aber mit fester Stimme. »Der ganze Papierkram aus ihrem Nachlass. Ich schaue gerne gleich nach, sobald ich hier abkömmlich bin.«

»Aber sofort, wenn ich bitten darf!«, schnauzte Venema. Als seine junge Kollegin nicht gleich darauf reagierte, fiel ihm auf, was er falsch gemacht hatte. Er schaute Stahnke an und stammelte: »Ich meine, natürlich nur, wenn Sie … wenn Ihnen das recht ist, Herr Erster … Herr Hauptkommissar.«

Seifert, zurückgelehnt in seinem Stuhl, lachte schon wieder. Klar, was Venema da trieb, war unmöglich, dachte Stahnke. Benahm sich wie ein unreifer Polizeischüler. Trotzdem sollte Seifert nur nicht glauben, er könnte den amüsierten Beobachter spielen. Entweder diese Kommission wurde schnellstens ein vernünftiges Team, oder sie konnten es gleich vergessen. Also widmete er Seifert einen Blick, der ihn schlagartig in eine angemessene Sitzposition aufrichtete, ignorierte Venema und sagte freundlich zu Manuela Schönborn: »Wäre nett, wenn Sie das gleich erledigen könnten. Kollegin Wiemken sorgt dafür, dass Ihnen nichts entgeht.«

Die junge Kommissarin nickte, erhob sich und eilte aus dem Raum. Es sah nach Flucht aus.

»Reden wir über diese Frau Dressel«, sagte Stahnke, als die Tür zugefallen war. »Die Erste am Tatort, hat uns sofort informiert, sagt sie. Kein Motiv erkennbar, trotzdem, die Gelegenheit hätte sie gehabt. Behauptet, der Mord könnte irgendwie auf sie bezogen sein, ohne erklären zu können, inwiefern. Kommt heute Mittag zur Befragung. Was muss ich über sie wissen?«

»Ihre Angaben zu ihren Aktivitäten vor der Tat stimmen«, sagte Seifert. »Das Foto, weswegen sie nachmittags nach Völlen gefahren ist, steht heute im Ostfrieslandteil der Zeitung. Beschmierter Gedenkstein vor der Kirche. Zeitpunkt ihres Eintreffens beim Jachthafen des OYC wurde auch bestätigt, von mehreren älteren Klubmitgliedern, die ansonsten nichts Verdächtiges wahrgenommen haben wollen.«

»Außer Frau Dressel hätte demnach keiner das Vereinsgelände während dieser Zeit betreten?«, fragte Stahnke.

»Die Befragten sagen, sie hätten niemanden gesehen«, erwiderte Seifert. »Allerdings haben die sich nach der Inspektion der Slipanlage überwiegend im Vereinsheim am Tresen aufgehalten. Hundertprozentig sicher ist das also nicht.«

»Und was war mit diesem Ticket, das Frau Dressel kassiert haben will? Kam das von euch?«

Seifert schmunzelte. »Genau. Von mir persönlich. War schon witzig, dass ausgerechnet sie uns in die Falle getappt ist. Unter der Eisenbahnbrücke durchgehuscht, ohne das grüne Licht abzuwarten. Typisch für diese wilde Hummel.«

»Also Spottdrossel und wilde Hummel.« Stahnke zählte an den Fingern seiner linken Hand ab: »Was noch? Die Frau scheint viele Namen zu haben.«

»Zigeunerbraut«, platzte Sibylle Wiemken heraus. Erschrocken presste sie sich die flache Hand auf den Mund.

»Zigeuner?« Stahnke runzelte sie Stirn. »Ist sie von der Abstammung her Roma oder Sinti? Oder wie heißt die weibliche Form, Sinta? Das würde zu dem Buchstaben Z aus der Tätowierung des Toten passen.«

»Sintezza«, sagte Venema.

»Gesundheit!«, sagte Seifert und grinste über seinen flachen Witz.

Irritiert guckte Stahnke von einem zum anderen. »Wie war das?«

»Sintezza«, wiederholte der Oberkommissar und schaute Seifert missbilligend an. »Weibliche Form von Sinto. Sinti ist Plural.« Er verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Aber nein«, rief Sibylle Wiemken. »Ist sie gar nicht wirklich, das sagt man nur so. Weil sie doch so aussieht. Braune Lockenmähne, rassiges Gesicht, großer roter Mund, sehr weibliche Formen – eine Klischee-Carmen sozusagen. Soll auch einen entsprechenden Männerverbrauch haben.« Sie kicherte albern wie ein Teenager.

»Olé«, knurrte Stahnke. »Also keine Zigeuner-Abstammung? Überprüfen Sie das doch mal. Überhaupt könnte ich ein paar Hintergrundinformationen über die Frau gebrauchen, wie schon gesagt. Ebenso wie über unseren Toten, wie heißt er gleich – richtig, Heino Zander. Universität anfragen, Studentenwohnheim, vielleicht finden wir dort einen Ansatz. Kollege Seifert, wie sieht’s aus?«

Der Glatzkopf verzog missmutig Mund und Schnauzbart. »Die Uni ist nicht gerade meine Welt«, maulte er. »Außerdem haben wir bisher etwas Wichtiges vergessen. Nämlich das Wasser.«

 

»Nicht vergessen.« Stahnke schüttelte den Kopf. »Nur hintangestellt. Mir ist klar, dass der Täter auch auf dem Wasserweg zum Jachtanleger gekommen sein kann. Mitsamt seinem Opfer, über das wir dringend mehr wissen müssen. Eins nach dem anderen, Schritt für Schritt. Aber bitte, wir können die Schrittfolge auch ändern.«

»Ich bin für paralleles Vorgehen«, sagte Hauptkommissar Seifert. »Der Schleusenwärter weiß, welche Schiffe und Boote gestern bei ihm durchgekommen sind, das wird aufgezeichnet. Mit etwas Glück hat er darüber hinaus vielleicht beobachtet, was sich sonst noch im Huntebecken vor dem Schleusentor getan hat. Ich möchte ihn gerne befragen, solange die Erinnerungen frisch sind.«

»Alles klar, von mir aus«, stimmte Stahnke zu. »Und wer übernimmt die Uni samt Wohnheim?«

»Das mache ich.« Venema hob eifrig die Hand. »Ich kenne mich da ein bisschen aus, bin früher öfter dort gewesen.«

»Klar, früher, als die Uni-Feten noch wilder waren.« Seifert erhob sich. »Melde mich, wenn ich etwas habe«, sagte er und verließ den Raum, Sibylle Wiemken in seinem Kielwasser.

Thorsten Venema blieb noch sitzen, Stahnke gegenüber, an der entfernten Schmalseite des Tisches. Der Hauptkommissar hob den Blick: »Ja, Kollege, was gibt es noch?« Er hatte das diffuse Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, wusste aber nicht, wofür.

»Ich wollte noch …« Venema schluckte. »Ich wollte noch gratulieren. Erster Hauptkommissar, das ist schon etwas. Wirklich verdient nach all den Jahren. Was man so gehört hat, die vielen erfolgreichen Ermittlungen …« Der Oberkommissar schien auf eine Erwiderung zu warten, aber Stahnke ließ ihn zappeln. Endlich stieß Venema hervor: »War das der Grund für Ihre Rückkehr? Der Karrieresprung nach all den Jahren?«

Stahnke fixierte ihn mit seinen wasserblauen Augen, und es schien ewig zu dauern, ehe er antwortete: »Bleiben wir doch bei der Anrede Hauptkommissar, wie gestern schon gesagt, in Ordnung? Ansonsten bin ich wieder hier, das ist alles, was ich dazu sage. Höchstens noch, dass Ihre Fragetechnik lausig ist. Daran werden wir arbeiten. Aber vor allem haben wir einen Fall zu lösen.«

Leise ächzend erhob er sich aus seinem Stuhl. Als er sich anschickte, den Raum zu verlassen, war Thorsten Venema schon draußen auf dem Gang.

6.

Heute

Dienstbeginn anderthalb Stunden später, das hatte sie sich ausbedungen nach ihrer außerplanmäßigen Sonderschicht gestern Abend. Wenigstens schön ausschlafen! Von wegen. Ihre innere Uhr hatte sie zur üblichen Zeit aus dem Reich der unruhigen Träume geholt. Dort war sie übrigens von einem Froschmann bedrängt worden und hatte vergebens nach einem scharfen Messer gesucht. Solch eine innere Uhr hatte also auch ihr Gutes.

Jetzt stand sind in ihrem Garten, die bloßen Füße im taunassen Gras und einen dampfenden Kaffeebecher in der Hand, und blinzelte in die Morgensonne. Schön war das, so ganz allein und in Ruhe. Klar, ein Frühstück in fröhlicher Runde war auch etwas Schönes, das kannte sie aber nur aus Skiurlauben in Norwegen. Sie war ziemlich sicher, dass sie so etwas jeden Tag gar nicht ertragen würde. Und selbst wenn, der Preis dafür hieß Familie oder Wohngemeinschaft und war bei Weitem zu hoch. Jedenfalls ließ sie keine Gelegenheit aus, sich das einzureden.

Bei den Kiffernachbarn war noch kein Lebenszeichen wahrzunehmen. Lagen wohl noch im Betäubungsschlaf. Oder sie schoben ein morgendliches Nümmerchen. Olivia schüttelte sich bei dem Gedanken an die schmuddelige männerähnliche Hälfte des Pärchens. Oh bitte, so nötig konnte sie es gar nicht haben! Außerdem waren genügend akzeptable Exemplare auf dem Markt. Und frei verfügbar, vor allem, wenn man es nicht auf langfristige Vertragsbindung anlegte. Mit ihrem Marktwert konnte sie sehr zufrieden sein. Mit ihrer Rolle als Jägerin auch.

Auf die Dauer war das feuchte Gras doch etwas kühl an den Füßen; sie spürte Gänsehaut an den Armen, und dass sie unter ihrem T-Shirt nichts anhatte, konnte jetzt auch jeder sehen. Olivia scherte sie nicht darum. Sie wurde den Gedanken an diesen Froschmann nicht los.

»Moin! Und prost Kaffee!«, tönte es jenseits der sauber gestutzten Hecke. Albert Schulte stand dort, winkend und grinsend. Dieser alte Molch, dachte Olivia, wie lange steht der wohl schon da?

»Hast du eine Minute?«, fragte Schulte. »Möchte dir etwas zeigen.« Er wies mit dem Daumen auf die Terrassentür hinter sich: »Frischen Kaffee hab’ ich auch.«

»Na klar, ich komm’ rüber.« Sie nahm den Umweg über den Hauswirtschaftsraum, schlüpfte in ihre lila Crocs und warf sich eine Joggingjacke über. Beim Kontrollblick in den Flurspiegel musste sie lachen und zog den Reißverschluss zu. Alte Kerle waren auch Kerle. Aber diesen da mochte sie, und wenn sie sich nicht täuschte, mochte er sie auch.

Die seitliche Terrassentür führte direkt in Schultes Küche. Er empfing sie mit einem aufgeschlagenen Exemplar ihrer eigenen Zeitung. »Kenn’ ich«, sagte sie. »Den Kram da habe ich selbst geschrieben.«

»Aber weißt du auch, wer das ist? Nee. Das steht hier jedenfalls. Aber ich.«

»Sag bloß.« Olivia setzte sich und hielt ihm ihren Becher hin. »Mir wurde neuer Kaffee versprochen. Unter anderem. Wollen doch mal sehen, ob du auch lieferst, Herr Nachbar.«

Schulte goss schwungvoll ein. »Heino Zander, so heißt der Tote. Hat früher hier an der Uni studiert, daher kenne ich ihn. Ziemlich lange sogar.«

Olivia nahm Milch und reichlich Würfelzucker, musste sich vorbeugen und schlürfen, weil ihr Becher fast überlief. »Kanntest du ihn lange? Oder hat dieser Zander besonders lange studiert?«

»Beides«, erwiderte Schulte. »Paar Semester extra, das war damals noch kein Problem, wenn man es sich leisten konnte von der Lebenshaltung her. Danach hat er noch seinen Doktor gemacht. Das heißt, er hat so ein Studium drangehängt, wie heißt das noch … aber ob er den Titel auch bekommen hat, weiß ich nicht.«

»Provokationsstudium«, sagte Olivia ungerührt.

»Sag bloß.« Schulte machte große Augen. »Oder willst du mich nur promovieren?«

»Du Spinner!« Sie warf einen Zuckerwürfel nach ihm, dem er geschickt auswich. »Komm mir nicht so! Nicht am frühen Morgen.«

Schulte bückte sich, hob den Zuckerwürfel auf, besah ihn sich von allen Seiten, pustete ein Stäubchen ab und legte ihn auf die Tischplatte. »Nur nichts umkommen lassen«, kommentierte er und zwinkerte Olivia zu: »Weißt ja, Kriegsgeneration Scheuersack.«

»Was hattest du eigentlich an der Uni verloren, dass du das mit Zander so genau weißt?«, fragte sie. »Hast du etwa heimlich studiert? Muss ich Doktor Schulte sagen?«

»Hör mir auf mit Zeitverschwendung! Ich war immer Spediteur. Lastwagen fahren und daran herumklütern, das war meine Sache. Und nebenbei Motorräder.« Schulte deutete mit dem Daumen in Richtung Garage. »Ein paar Jahre bin ich für einen Bierverlag gefahren, Getränke ausliefern an Gaststätten und so, innerhalb Oldenburgs und umzu. In der Zeit habe ich immer wieder die Universität angefahren. Die Carl-von-Ossietzky-Universität, genauer gesagt; damals kochte gerade der Streit, ob die sich so nennen durfte oder nicht.«

»Die Uni war euer Kunde? Haben die so viel Bier verkauft in der Kantine?« Von dem Namensstreit hatte Olivia natürlich gehört, aber für sie war das Schnee von gestern. Seit vielen Jahren prangte der Name des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky oben am blauen Turm des höchsten Uni-Gebäudes; warum auch nicht? Wer könnte jemals etwas dagegen gehabt haben?

»Nee, nicht die Mensa«, korrigierte Schulte. »Aber die Studenten haben alle naselang wilde Feten gefeiert, selbst organisiert in den Räumen der alten Pädagogischen Hochschule. G-Trakt hieß das damals. Genau, wie G-Punkt, ich wusste, dass du grinsen würdest. Die Unileitung hat das erlaubt, vorausgesetzt, bis 7 Uhr morgens waren alle Spuren beseitigt. Diese Feten haben wir beliefert. Morgens die Reste und das Leergut abgeholt und gleich kassiert. Da kam manchmal ganz schön was zusammen, das kann ich dir sagen.«

»Studenten und organisieren!« Olivia schnaubte verächtlich. »Da ist doch bestimmt alles drunter und drüber gegangen.«

»Teils, teils.« Schulte grinste verschmitzt. »Das hing davon ab, welche Fachschaft die Fete gemanagt hat. Arbeitslehre zum Beispiel hatte mal morgens so viel Minus in der Kasse, dass die bei allen Helfern sammeln mussten für die Bierlieferung, weil sie selbst am meisten gesoffen hatten. Aber bei den Germanisten, diesen hochgeistigen Typen, hat es immer wunderbar geklappt. Die hatten auch immer den Hausmeister und die Putzfrauen auf ihrer Seite. Paar Pullen Schnaps und Apfelkorn und die Sache lief.«

»Was du nicht sagst.« Olivia gähnte demonstrativ. »Und bei welcher dieser Fachschaften war nun Heino Zander aktiv?«

»Der? Bei keiner natürlich. Da hätte er ja etwas tun müssen. Aber Zander war auf jeder Uni-Fete dabei. Bis kurz vor Schluss, wenn die Abschlepperei losging. Dafür war er bekannt. Manchmal hab’ ich ihn beobachtet, wie er noch dabei war, als ich schon kassieren kam.« Albert Schulte grinste anzüglich: »Der hat auch überhaupt nur deshalb ein Zimmer im Studentenheim gehabt, weil er dort leichter an die scharfen Miezen rankam. Finanziell hatte er das gar nicht nötig.«

»Lockeres Völkchen anscheinend, diese Studenten damals«, sagte Olivia. »Wann war das denn, 70er-Jahre? Die Pille schon allgemein verbreitet, aber Aids noch nicht erfunden? Und die 68er-Bewegung hatte die freie Liebe ausgerufen. Vermutlich kam damals das Bumsen gleich nach dem Moin. Quasi, um sich erst mal kennenzulernen.«

»Mensch, Mädchen, deine Vorurteile sind auch nicht von schlechten Eltern.« Schulte schüttelte seinen kugelrunden, nur noch spärlich und weiß behaarten Kopf. »Klar sind die jungen Leute damals gerne miteinander in die Kiste gegangen, warum auch nicht? Wenn man sich gegenseitig nett findet, warum sollte man es nicht probieren? Am Ende hat sowieso jeder bloß jemanden gesucht, mit dem man es eine Weile aushalten kann. Partnersuche. Ganz brav und bieder, vielleicht etwas weniger verklemmt als in der Zeit davor. Oder heute. Was du meinst, sind ein paar krasse Ausnahmen. Die gab es natürlich auch. Und einer davon war Heino Zander.«

»Na also«, triumphierte Olivia. »Wusste ich es doch. Ich kenne die Menschen.«

»Du kennst die Menschen?« Schulte erstarrte für einen Moment. Erschrocken sah Olivia, wie sich sein Gesicht von einer Sekunde auf die andere veränderte. Hatte er gerade noch wie ein fröhliches Lebkuchenmännlein ausgesehen, mit runden, rötlich schimmernden, stark geäderten Wangen und tief liegenden, fröhlich blitzenden braunen Rosinenaugen, so wirkte er plötzlich grau und verhärmt, seine Miene hart und hoffnungslos; seine Augen ließen etwas von dem Entsetzlichen ahnen, das sie gesehen hatten, und sein Blick deutete an, dass unter dieser Oberfläche noch sehr viel mehr davon war.

Dann lachte Albert Schulte, und plötzlich war alles wie vorher, als hätte er einen Schalter gedrückt. »Der Heino Zander, der war wirklich so, wie du denkst«, sagte er. »Ein Aufreißer und Abschlepper, aber einer von der fiesen Sorte. Der war nur solange freundlich und spendabel, bis er hatte, was er wollte. Mir kam er immer vor wie ein Trophäenjäger. Nur, dass er die Köpfe seiner Frauen nicht präpariert und auf Holzbretter geschraubt hat.«

»Was hat er denn mit ihnen gemacht? Gevögelt und ab dafür? Da kenne ich einige Leute, die es so machen. Nennt sich One-Night-Stand. Ist nicht direkt verboten.«

»Ich weiß«, sagte Schulte und nickte. »Schließlich bin ich dein Nachbar und stehe morgens früh auf. Habe schon so manchen von deinen Jungs nach Gebrauch abdampfen sehen. Wenigstens hatten sie keine verheulten Gesichter, und ein blaues Auge hast du bis jetzt auch keinem geschlagen. Soweit ich weiß.«

Olivia schnappte nach Luft. »So ein Blockwart bist du! Wenn ich das gewusst hätte.«

»Was dann? Hättest du dir anderswo ein Zimmer genommen?« Schultes Wangen schimmerten längst wieder rosig.

Olivia ging nicht darauf ein. »Blaue Augen. Verheulte Gesichter.« Sie stand auf, goss sich Kaffee nach. »Dieser Zander hat seine Mädels also richtig mies behandelt, sagst du? Und das mehr als einmal? Aber so was spricht sich herum. Von so einem Arsch lässt man als Frau doch die Finger!«

»An der Uni tauchen jedes halbe Jahr neue Studentinnen auf«, sagte Schulte. »Frischfleisch, wie Heino Zander zu sagen pflegte. Neues Spiel, neues Glück. Außerdem sah der Mann ziemlich gut aus. Sehr groß, schlank, blonde Haare. Gute Manieren, jedenfalls anfangs, und immer ein volles Portemonnaie. Da hat manche junge Frau auf die Gerüchte gepfiffen, die im Umlauf waren. Vermutlich dachte sowieso jede, ihr könnte so etwas nicht passieren.«

 

»Geld hatte er auch, sagst du? Vom Herrn Papa, nehme ich an. Unternehmersohn oder Adelsspross? Obwohl, dann hieße er wohl von Zander.«

»Dein erster Schuss lag näher am Ziel«, sagte Schulte. »Zander und Sohn, internationale Transporte. Später umbenannt in Intertrans. Sein Vater war quasi ein Kollege von mir. Allerdings einer mit dem goldenen Löffel im Mund. Woher der auch immer kam. Bei mir reichte es gerade eben zu Blech.« Er klapperte mit dem Löffel in seiner Tasse.

»Spediteure also.« Olivia legte ihre Stirn in Falten. »Und was will so einer mit dem Doktortitel?«

»Frag mich nicht. Ob er im Betrieb seines Vaters jemals mehr getan hat als die Hand aufzuhalten, weiß ich nicht. Irgendwann war er sowieso verschwunden. Seine Rolle auf den Uni-Feten haben andere Hengste übernommen.«

»Verschwunden? Nach deiner Schilderung war dieser Mann doch keiner von der unauffälligen Sorte. So einer verschwindet doch nicht.«

»Offenbar doch.« Schulte senkte den Kopf und schloss seine Augen, schien angestrengt nachzudenken. »Irgendetwas war damals. Aber ich komm’ nicht mehr drauf.« Er klopfte sich an die Stirn: »Doch schon zu viel Kalk da oben.«

»Mach dir keine Sorgen. Kalk bröckelt, irgendwann kommt alles wieder.« Olivia erhob sich. »So, jetzt muss ich aber los. Mein Kalkbergwerk heißt Redaktion. Ostfrieslandseiten zusammenkloppen.«

»Apropos Ostfriesland.« Schulte schnippte mit hornigen Fingern: »Hatte ich erwähnt, dass Zanders Vorfahren aus Ostfriesland stammten? Darauf schob er immer sein Aussehen, von wegen groß und blond. Manchmal erzählte er auch diesen blöden Witz, dass die Ostfriesen früher auf Oldenburgern zur Arbeit geritten wären. Weißt schon, wegen der Pferderasse. Dabei waren die Zanders längst selbst Oldenburger.«

»Schau an, wer so alles irgendwo herstammt.« Olivias Gedanken waren schon zur Tür hinaus. »Woher in Ostfriesland kamen die denn genau?«

»Aus Völlen«, antwortete Schulte.