Verrat verjährt nicht

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2.

Heute

Erinnerungen, dachte Stahnke. Die leichten Bewegungen der sanft gebogenen Schwimmstegschlange unter seinen Schuhen, das gerade noch spürbare Abtauchen der Steg-Elemente unter seinem schweren Körper. An diesem Steg hatte einmal sein eigenes Boot gelegen, ehe er sich einen Liegeplatz in Elsfleth gesucht hatte, direkt an der Weser, näher an seinem damaligen Segelrevier. Später hatte dann Marian Godehau seinen alten Kutter hier festgemacht. Auch schon wieder lange her, kaum noch wahr. Und doch stand ihm alles plastisch vor Augen.

Jungredakteur Godehau und Sina Gersema, seine Kollegin und Freundin. Damals. Bis sie ihn verlassen hatte. Verlassen für einen deutlich älteren, seinerzeit noch schwergewichtigeren, oft knurrigen und alkoholgefährdeten Kriminalbeamten namens Stahnke. Marian hatte daraufhin Oldenburg verlassen, völlig frustriert, und sich einen Job beim Langeooger Inselboten gesucht. Sina hatte auf Psychotherapeutin umgeschult, Stahnke hatte sich nach Ostfriesland beworben. Letztlich waren sie alle drei immer wieder auf Langeoog zusammengetroffen. Ein ums andere Mal. Am Ende einmal zu viel.

»Herr Stahnke«, hauchte eine Stimme, nur einen Meter hinter ihm und doch wie aus einer anderen Welt. »Willkommen zurück an Ihrer alten Wirkungsstätte! Wie ich sehe, ist Ihnen noch alles wohlvertraut.«

»Moin, Herr Doktor.« Stahnke nickte kurz über seine Schulter. Er zuckte schon lange nicht mehr zusammen, wenn Doktor Mergner irgendwo auftauchte wie ein Geist aus einer Gruft. Der Zuständigkeitsbereich des Oldenburger Gerichtsmediziners umfasste auch Ostfriesland, und so waren sie in den letzten Jahren immer wieder beruflich aufeinandergestoßen. Immerhin eine Konstante. Ansonsten war bei der Kripo Oldenburg nichts mehr so wie damals, das hatte er schon nach wenigen Tagen im Dienst festgestellt. Aber wie auch immer, sein Abgang aus Leer war eine Flucht, und Flüchtlinge hatten keine Wahl.

»Gesprächig wie immer«, konstatierte Mergner. »Die neuen Kollegen beschweren sich bestimmt schon wegen der übermäßigen Kommunikation.« Irgendwie schaffte er es, sich auf dem schmalen Steg an Stahnkes ausladenden Schultern vorbeizuwinden und ihm vorauszueilen. »Wir sehen uns bei der Arbeit«, hauchte er noch, und Stahnke wunderte sich, dass seine Worte selbst unter freiem Himmel dumpf klangen. Auch darüber, dass sich kein weißer Arztkittel hinter dem dörrfleischdürren Mann bauschte. In Hemd und Freizeithose kannte er Mergner gar nicht. Sollte der Mann ein Privatleben haben? Vielleicht. War auch egal. Stahnke hatte momentan keins, deshalb war er gerade hier. In Oldenburg und an diesem Ort, der offenbar ein Tatort war.

Als der Hauptkommissar endlich das Ende des Steges erreicht hatte, kniete Mergner schon in der Pfütze, die sich auf den Planken rund um einen Toten gebildet hatte. Männliche Leiche, schlank, überdurchschnittlich groß, registrierte er automatisch. Die Arme über dem Kopf zusammengebunden, an den Handgelenken, mit einer dünnen Leine, deren anderes Ende zu einem Poller führte. Der Mann schien 60 Jahre alt zu sein oder älter, aber so weit gut erhalten. Volles, kurz geschnittenes Haar, anscheinend blond, vermutlich gefärbt. Bekleidet mit kurzärmeligem Oberhemd und knielanger Freizeithose, passend zum Fundort. Barfuß. Sonstige Merkmale … Stahnkes Gedankenfluss stockte. Eine Riesenfaust quetschte seinen Magen zusammen. Wie sahen diese Füße denn aus! Hinten und mittig schmal und mit hohem Spann, vorne breit. Unnatürlich breit, wie Flossen. Breitgequetscht. Sein Gehirn weigerte sich, eine Erklärung anzubieten für das, was er da sah.

»Prämortale Verletzungen«, sagte Mergner. »Eine Menge davon. Dort, an den Zehen, aber auch an den Unterschenkeln, hier und hier.« Sein Medizinerhirn arbeitete niederschwelliger. »Auch an den Händen und Unterarmen finden sich Quetschungen, Schnitte und Stiche. Muss teilweise heftig geblutet haben, aber das Wasser hat sämtliche Wunden ausgespült.«

»Wurde der Mann gefoltert?«, fragte einer aus der Gruppe, die um Mergner und den Toten herumstand. Zwei Männer trugen Uniform, zwei Frauen weiße Ganzkörperanzüge; der Sprecher hatte Jeans, Oberhemd und Weste an. Für Stahnke sah er aus wie ein Abklatsch von Marian Godehau: um die 40 Jahre, halblange braune Locken, struppiger Bart, schief sitzende, getönte Brille. »Oder könnten die Verletzungen von einer Bootsschraube stammen?«, fragte der Mann weiter.

Mergner blickte auf, schüttelte kurz den Kopf. »Natürlich wurde er gefoltert«, erwiderte er milde. »Und nein, Schraubenverletzungen sehen anders aus. Ganz anders.« Stahnke kannte Mergners Tonfallnuancen; so klang Geringschätzung. Dem konnte er sich nur anschließen. Wer war denn dieser Gehirnathlet überhaupt?

Der Lockenkopf hatte ihn bemerkt. »Moin, Herr Erster Hauptkommissar«, grüßte er. »Ich bin Thorsten Venema, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Damals war ich ja noch …« Der Mann schien Stahnkes abweisende Miene zu deuten, stutzte, unterbrach sich, runzelte die Stirn. »Oberkommissar Venema, KDD«, rapportierte er dann betont sachlich. »Leiche ist geborgen, Tatort gesichert, Taucher sind bestellt, Wasserschutz ist unterwegs. Spurensicherung und Gerichtsmedizin …«

»Ja, Herr Venema, wir sind alle hier«, hauchte Doktor Mergner, gerade laut genug, um dem Ermittler das Wort abzuschneiden. »Und wir sind auch brav bei der Arbeit. Ich bin mir sicher, dass Herr Stahnke das bemerkt hat.« Er zwinkerte ihm zu: »Erster Hauptkommissar jetzt, aha! Eins rauf die Karriereleiter, wurde auch Zeit. Meinen Glückwunsch.«

»Bleiben wir doch trotzdem bei Hauptkommissar, Herr Doktor, aus alter Gewohnheit«, sagte Stahnke. Dann nickte er Venema zu, senkte aber schnell den Blick. Venema war in seiner ersten Oldenburger Zeit einer der talentiertesten Anwärter gewesen, und Stahnke hatte sich vorgenommen, den Jungen nach Kräften zu fördern. Dann aber trennte sich Katharina von ihm, seine Frau und Seelenpartnerin, und er ergriff die Flucht, brach alle Brücken hinter sich ab, fror alle Kontakte ein, löschte alle Festplatten. Thorsten Venema musste sehr enttäuscht von ihm gewesen sein, aber daran hatte er keinen Gedanken verschwendet, tief versunken in Selbstmitleid. Anscheinend hatte der Junge auch allein seinen Weg gemacht. Ob er sich gefreut hatte, als er hörte, dass Stahnke nach all den Jahren zurück nach Oldenburg kam? Falls ja, dann hatte die Freude nicht lange gedauert. Nur bis gerade eben. Selbstkontrolle, dachte Stanke, ich muss mich besser im Griff haben. Aber was sieht dieser Typ auch Marian so ähnlich! Diesem Blödmann, der ihm Sina weggenommen hatte. Bloß gut, dass Sina nicht hier war; sie konnte ihm alle Gedanken von der Stirn ablesen und würde ihm seinen stoppelhaarigen Kopf waschen. Natürlich war Marian kein Blödmann, natürlich war eine Frau oder Freundin kein Besitz, den jemand wegnehmen konnte. Ja doch! Wie hatte er diese Wortgefechte mit ihr geliebt. Warum konnte sie jetzt bloß nicht hier sein!

Stahnke stellte fest, dass sein Blick auf einem Gegenstand ruhte, der neben dem Kopf des Toten lag, in derselben Pfütze. Ein dünnes Drahtseil führte von diesem Gegenstand zum Hals der Leiche. »Eine Autofelge«, stellte er fest. »Damit wurde die Leiche beschwert?«

»Vielleicht ja«, raunte Mergner. »Vielleicht aber trifft das auch nur zum Teil zu.«

»Zu welchem Teil?«, knurrte Stahnke. Venema wich erschrocken einen Schritt zurück.

Mergner grinste totenschädelhaft. »Zur Beschwerung diente die Felge allemal«, hauchte er. »Fraglich ist, ob zur Beschwerung einer Leiche. Bis jetzt habe ich unter den vielen Wunden an diesem Körper keine letale gefunden. Gut möglich also, dass ein Ertrinkungstod vorliegt. Das stellen wir in der Pathologie fest.«

»Erst gefoltert, dann ertränkt?« Der Hauptkommissar stemmte beide Fäuste in die Seiten. »Klingt nach Hinrichtung. Russenmafia. Überhaupt Mafia. Waffen- oder Drogenhandel. Irgendwelche Hinweise?«

Venema schüttelte den Kopf. »Der Tote hat nichts bei sich, überhaupt nichts außer der Kleidung, Herr, äh … Hauptkommissar. Identifikation muss also über Fingerabdrücke, Zahnstatus und Foto erfolgen. Fotograf ist benachrichtigt.« Er reckte seinen Lockenkopf: »Kommt er da hinten schon?«

Der Hauptkommissar spürte Vibrationen in den Holzplanken unter seinen Schuhsohlen und drehte sich um. Zwei Personen näherten sich eilig, ein Mann und eine Frau, letztere behängt mit Kamera und Fototasche. Stahnke kannte längst noch nicht alle Mitarbeiter seiner Oldenburger Dienststelle, aber die beiden sahen ihm für Kollegen etwas zu aufgeregt und eifrig aus.

»Presse!«, ließ sich Venema prompt vernehmen. »Los, absperren! Stellungnahme gibt es später.«

Die beiden Uniformierten schoben sich an Stahnke vorbei und eilten den Neuankömmlingen entgegen. Der Hauptkommissar musste sich ein Grinsen verbeißen. Gut gemeint und nett gedacht von seinem Kollegen, aber der Schwimmsteg verlief parallel zum hoch gelegenen Ufer, und da war nicht abgesperrt. Von dort ließen sich hervorragende Tatortfotos machen. Wenn das nicht längst geschehen war. Mit einer knappen Kopfbewegung zum Ufer machte er Venema auf dessen Unterlassung aufmerksam. Der Oberkommissar errötete und eilte davon.

Stahnke blieb mit Mergner, den Kriminaltechnikern und dem Toten zurück. Und mit einer Frau, die er bis jetzt nicht bemerkt hatte. Sie hockte auf der Cockpitkante einer kleinen Rennjacht, die Füße auf die Scheuerleiste gestützt, und nahm gerade den letzten Zug aus ihrer Zigarette. Die Kippe ließ sie achtlos zwischen Boot und Steg ins Wasser fallen, wo die Strömung sie schnell davontrug. Sauerei, dachte Stahnke, hat diese Person denn keine Ahnung, wie viele Liter Wasser durch einen einzigen Zigarettenfilter vergiftet werden?

Die Frau trug Lederhose und Motorradstiefel, was auf einem Boot mehr als ungewöhnlich war, ihr kräftiger Oberkörper steckte in einem engen T-Shirt, ihr breites Gesicht war von einer brünetten Lockenmähne umrahmt. Offenbar war sie die Zeugin, von der ihm die Zentrale am Telefon berichtet hatte. Stahnke nickte ihr zu und stellte sich vor.

 

»Olivia Dressel«, erwiderte die Frau mit belegter Stimme. »Ich bin die, die den Toten gefunden hat.« Sie schloss die Augen, und die gebräunte Haut ihrer Arme kräuselte sich. »Die Leiche wurde an den Poller dort gehängt, während ich kurz mit dem Boot unterwegs war. Unfassbar. Was wollten die damit bloß erreichen?«

Stahnke starrte auf die Frau, löste seinen Blick von ihrem T-Shirt, musterte ihr Gesicht. Ihre Augen waren blau, dunkler als seine wasserblauen; ihr Blick ging durch ihn hindurch. Hatte sie diesen Mord wirklich gerade auf sich bezogen? Eine Verwandte des Toten war sie offenbar nicht, das hätte dessen Identifizierung erleichtert. Wie also kam sie darauf, dass diese Tat etwas mit ihr zu tun hatte?

»Sie meinen, weil dies Ihr Liegeplatz ist?«, fragte er.

Sie nickte. »Kaum bin ich weg, hängen sie den Toten bei mir hin. Ich war etwa eine Stunde unterwegs, vielleicht eineinviertel, alles in allem. Sie können den Wasserschutz fragen.« Sie deutete mit dem Kopf vage in Richtung Cäcilienbrücke, wo gerade der Polizeikreuzer in Sicht gekommen war. Vermutlich brachte er die angeforderten Taucher.

»Woher sollen die das wissen? Haben Sie ein Ticket bekommen?«, scherzte Stahnke, wohl wissend, wie unangebracht das in dieser Situation war. Aber die Frau wirkte so, als könnte sie das vertragen. Nein: Als würde sie darauf stehen.

Prompt grinste sie. »Und ob! Total dämlich. Vielleicht wäre ich sonst noch weitergefahren, aber danach war mir die Lust vergangen.«

»Fahren Sie jeden Nachmittag um diese Zeit raus? Ich meine während der Saison?«

»Schön wär’s. Aber nein, um diese Zeit arbeite ich gewöhnlich, heute war eine Ausnahme. Ich fahre meist am Wochenende. Oder an freien Tagen, wenn ich Wochenenddienst hatte.« Sie lachte: »Sie merken schon, ist ziemlich unstet bei mir.«

Stahnke warf Mergner einen verstohlenen Blick zu; der Doc musterte seine Zeugin mit unverhohlener Belustigung. »Was arbeiten Sie denn so Unstetes?«, fragte Stahnke sein Gegenüber.

»Redakteurin«, antwortete die Frau. »Olivia Dressel, Regionale Rundschau. Noch nie meine Namenszeile bemerkt? Sie lesen doch Zeitung, hoffe ich?«

»Doch«, erwiderte Stahnke, ohne sich provozieren zu lassen. »Aber Ihr Blatt lese ich erst seit Kurzem wieder. Ich habe lange Zeit in Ostfriesland gearbeitet.«

»Dort sind meine Artikel aber auch erschienen.« Olivia Dressel richtete ihren Zeigefinger auf ihn; der schwarz lackierte Nagel berührte fast seine Brust. »Bis vor einigen Monaten hatte die Regionale Rundschau ein Kooperationsabkommen mit der Ostfriesen-Post. Deren neuer Chef war so leichtsinnig, das zu kündigen. Jetzt werden wir denen mal zeigen, was eine Harke ist.«

Stahnke warf einen weiteren Blick auf die Männerleiche, die gerade zum Abtransport vorbereitet wurde. »Glauben Sie etwa, dieser Mord hat etwas damit zu tun? Wird im Zeitungsbusiness mit so harten Bandagen gekämpft? Ich dachte eher, diese Branche würde einem baldigen und ruhmlosen Ende entgegendümpeln.«

»Mit dem Rücken zur Wand kämpft mancher bis aufs Messer.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Aber eigentlich meinte ich das mehr so allgemein. Die Presse steht heutzutage schwer unter Beschuss, jeder möchte seinen Willen und seine Meinung durchsetzen, und die Leute sind nicht gerade zimperlich. Verrohte Sitten. Aus Worten werden irgendwann Taten.« Sie nickte zu dem Toten hinüber. »Wenn ich wüsste, wer das da ist, könnte ich Ihnen vielleicht etwas Konkreteres sagen.«

Der Abtransport verzögerte sich, weil zuerst die Felge vom Hals des Toten entfernt werden musste und sich das Drahtseil als unerwartet stabil erwies. Einer der Kriminaltechniker wurde nach einem Bolzenschneider geschickt. Der Schwimmsteg dröhnte unter seinen eiligen Schritten.

»Herr Stahnke«, ließ sich Mergner vernehmen. »Wie es aussieht, haben wir noch etwas Interessantes.« Er wies auf den rechten Unterarm des Toten, der während des Gezerres an der Stahlfelge seine Position verändert hatte. »Eine Tätowierung. Scheint eine Nummer zu sein. Eine fünfstellige Zahl.« Er rückte seine Brille mit den flaschenbodendicken Gläsern zurecht und schaute genauer hin: »Nein, eine vierstellige. Das davor ist ein Buchstabe. Ein Z, wie es aussieht. Z 3030.«

Der Hauptkommissar hatte währenddessen Olivia Dressel im Auge behalten; sie ließ professionelle Neugier erkennen, sonst nichts. Erst jetzt drehte er sich um und hockte sich neben den Gerichtsmediziner. Der Anblick der tätowierten Zahl auf der Innenseite des totenbleichen Unterarms war ein Schock, so vertraut wirkte er. Vertraut von alten Fotos und aus Filmdokumenten. Dokumenten des deutschen Versagens. KZ-Insassen hatten solche Nummern getragen. Ganz wenige Überlebende trugen sie heute noch.

Stahnke schaute erneut in das Gesicht des Toten. Wie alt müssten KZ-Überlebende inzwischen sein, überlegte er, 80 Jahre? Wohl eher 90 oder mehr. So alt war dieser Mann auf keinen Fall. »Das kommt nicht hin«, murmelte Stahnke.

»Nein, das tut es nicht. In mehrfacher Hinsicht.« Doktor Mergner war in seinen Überlegungen schon weiter. »Nicht nur der Tote ist zu jung für eine solche Nummer, die Tätowierung ist es auch. Wobei mir das eher geritzt aussieht als fachkundig tätowiert. In die Haut geritzt und dann etwas in die Wunden gerieben, Ruß vielleicht. Ziemlich frisch, höchstens ein paar Tage alt. Und der Buchstabe Z passt auch nicht für mich.«

»Z für Zigeuner?«, riet der Hauptkommissar. Ausschlussverfahren. Sicher wusste er nur von den farbigen Winkeln, mit denen die verschiedenen Gruppen von Gefangenen in den Konzentrationslagern der Nazis markiert worden waren – gelb, rot, grün, lila, blau, schwarz und rosa, auch in Kombination und mit verschiedenen Zusätzen. Die Winkel aber befanden sich an der Kleidung. Von einem tätowierten Z hörte er zum ersten Mal.

Mergner nickte. »Genau. So wurden die Insassen des Zigeunerlagers in Auschwitz tätowiert. Sagen Sie selbst, sieht dieser Mann für Sie aus wie ein Angehöriger der Volksgruppe der Sinti und Roma?«

»Sehen alle Zigeuner wie Zigeuner aus?«, fragte Stahnke zurück. »Und alle Juden wie Juden? Ephraim Kishon war hochgewachsen und blond, das hat ihm damals das Leben gerettet, weil alle dachten, so sieht doch ein Jude nicht aus.«

»Und Sally Perel ging als Volksdeutscher durch, obwohl er auffallend klein und knubbelig war.« Mergner seufzte theatralisch. »Lieber Herr Hauptkommissar, wir beide kennen unsere Schriftsteller, und wir kennen uns auch mit Ausnahmen aus. Aber bleiben wir ausnahmsweise bei der Regel, ja? Dieser Tote ist geschätzt 1,90 Meter groß, seine Haut ist extrem pigmentarm, seine Haare waren mal blond. Nordisch-keltischer Typus. Solche Männer haben seinerzeit im Zigeunerlager Auschwitz bewaffnet auf den Wachtürmen gestanden, nicht stramm vor den Baracken.« Der Mediziner hob die Hand: »Und ehe Sie sich daran festbeißen – auch dafür ist er deutlich zu jung.«

»Und seine Tätowierung sowieso.« Stahnke nickte. »Da will uns einer ein Rätsel aufgeben.« Er wandte sich der Frau auf dem Boot zu: »Oder vielleicht Ihnen?«

Olivia Dressel hatte ihre Haltung nicht verändert, nur den Hals gereckt. »Einen Moment lang dachte ich das«, antwortete sie. »Letztes Jahr habe ich eine Serie veröffentlicht im Oldenburger Lokalteil. Besondere Bauten und ihre Geschichte. Dabei bin ich auf allerhand vertuschte Arisierungen gestoßen. Sie wissen schon, Häuser, die früher mal Juden gehört und zwischen 1933 und 1938 den Besitzer gewechselt haben. Meist unter dubiosen Umständen, und jedes Mal hat sich irgendwer dabei eine goldene Nase verdient. Ich glaubte schon, die KZ-Nummer könnte ein Hinweis auf einen dieser Fälle sein. Aber das Z vor der Zahl passt da nicht hinein. In meinen Berichten ging es ausnahmslos um Juden.«

Erneut bebten die Planken des Stegs; diesmal war es tatsächlich der Polizeifotograf, ein Glatzkopf von den Ausmaßen eines Sumoringers. Gleichzeitig fuhren am Ufer zwei Streifenwagen auf, und mehrere Uniformierte begannen, den Bereich mit Blick auf den Tatort abzusperren, so gut es ging. Mehrere Leute knipsten sie dabei, darunter die beiden Journalisten, die Venema des Stegs verwiesen hatte. So lässig, wie die sich gaben, hatten sie ihre Pflichtaufnahmen bestimmt längst im Kasten.

Apropos. »Sie haben doch hoffentlich keine Tatortfotos gemacht, Frau Redakteurin?«, fragte er Olivia Dressel.

»Wo werde ich denn«, erwiderte die Frau. »Ist doch mein freier Nachmittag. Außerdem habe ich überhaupt keine Kamera dabei, nicht einmal ein Smartphone.« Zum Beweis hob sie beide Arme und drehte ihren Oberkörper hin und her.

»Ich seh’s, vielen Dank«, sagte Stahnke ungerührt. »Ich hätte Sie morgen gerne in der Polizeidirektion gesprochen. Wer weiß, vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Wann passt es Ihnen am besten?«

Olivia Dressel senkte ihre Arme und kreuzte sie unter der Brust. »Mittags«, antwortete sie. »Morgens ist immer Konferenz, dann werden die Themen vergeben und Kontakte angeleiert. Nachmittags ist Produktion, abends Umbruch. Mittags passt am besten. 14 Uhr?«

14 Uhr war für Stahnke schon Nachmittag, aber er wollte nicht kleinlich sein und nickte. Dann schloss er sich dem kleinen Zug an, der hinter der Bahre mit der Leiche hertrottete.

Olivia Dressel wartete, bis der Hauptkommissar außer Sicht war. Dann schwang sie sich ins Cockpit ihres Bootes. Im Sichtschutz des Steuerstandes zog sie ihr Smartphone aus dem Schaft ihres rechten Motorradstiefels und aktivierte die Kurzwahl ihrer Redaktion.

3.

Heute

Es war schon spät, aber immer noch hell, als Olivia an diesem Abend zu Hause eintraf. Leise ächzend, stellte sie ihr Motorrad ab, riss sich den Helm vom Kopf und schüttelte ihre Mähne. Von wegen freier Nachmittag! Ein echter Maloche-Tag war das noch geworden. Aber immerhin hatte sie morgen mal wieder die Seite eins. Mord im Jachthafen, mit Augenzeugenbericht und Tatortfotos aus nächster Nähe! Natürlich mit Pixeln und Balken an den kritischen Stellen. Die Regionale Rundschau gab sich immer noch gerne als das seriöse Chronistenblatt, das sie vor vielen Jahren einmal gewesen war. Aber alle in der Redaktion wussten, dass die Zukunft auf dem Boulevard lag und ohne bluttriefende Schlagzeilen gar nicht erst stattfand. Die Konkurrenz der Blasen-Blogger und Verschwörungs-Fabulierer aus dem Netz war einfach zu groß.

Aus dem Nachbarhaus drangen rhythmische Geräusche. Hörte der alte Schulte etwa laut Musik? Nein, das Geräusch kam aus seiner Garage. Anscheinend bastelte der Rentner wieder an einem seiner Einzylinder herum. Für diese antiquierten Dinger hatte der Alte wirklich ein Faible, dachte Olivia. Und ein Händchen. Etwas Ablenkung würde ihr guttun, denn diese blicklosen blauen Augen waren hartnäckig und schwer zu verdrängen. Also ging sie hinüber und wollte an die Seitentür der Garage klopfen, aber ihr Nachbar kam ihr zuvor. »Hab’ dein Monster schon brüllen hören«, begrüßte er sie lächelnd. »Über euch sollte man mal einen Film drehen. Die Schöne und das Biest.« Er winkte sie herein.

»Alter Charmeur. Deine Sehstörungen sind vermutlich erste Vergiftungserscheinungen«, erwiderte Olivia. Die Schmeichelei tat ihr gut. »Ziemlich dicke Luft hier. Ist das deine Vorstellung von einem schönen Tod? Benebelt umfallen, während du an einer deiner Geliebten herumfummelst?«

Schultes Lachen ging in ein heftiges Husten über. Er schaltete die Zündung der kleinen schwarzen Maschine aus, die im Leerlauf vor sich hin getuckert hatte, und stemmte das Garagentor hoch, um frische Luft hereinzulassen. Olivia half ihm dabei. »Du weißt doch, die lärmempfindlichen Nachbarn«, sagte Schulte. »Ein paar Minuten lang macht mir der Qualm nichts aus. Da hab’ ich schon ganz andere Sachen erlebt. Meine Lunge ist von innen geteert, die hält was aus.«

»Ich weiß, ich weiß.« Olivia rollte mit den Augen. »Deine Generation ist durch den Scheuersack gegangen wie früher die armen Silberlöffel, und was euch nicht umgebracht hat, macht euch nur härter. Und so weiter. Tausendmal gehört. Ich war schon öfter bei dir zu Besuch, du erinnerst dich?«

»Freches Gör.« Der Alte zwinkerte ihr zu. »Kaltes Bierchen?«

Sie setzten sich auf die alte Bank neben der Auffahrt, genossen die letzten Strahlen der tief stehenden Sonne, die auch in die Garage fielen, wo sie die sorgfältig an der Wand aufgereihten Werkzeuge aufblitzen ließen und sich im Lack der alten Motorräder spiegelten. Eine Maico im Militär-Look, eine uralte Royal Enfield und eine Yamaha SR 500 aus den 80er-Jahren konnte Olivia identifizieren. Außerdem standen zwei undefinierbare Böcke mit Elchgeweih-Lenkern und ein Haufen Einzelteile im abziehenden Abgasdunst. Wann wollte der alte Herr das bloß alles noch fahren, fragte sich Olivia, sprach den Gedanken aber nicht aus. Albert Schulte war bemerkenswert fit für sein Alter – aber welches Alter? Zwischen 80 und 90 war alles möglich.

 

Bei der zweiten Flasche Bier erzählte Olivia, was sie am Nachmittag erlebt hatte. Schulte hörte aufmerksam und teilnahmsvoll zu, als sie von dem Toten im Jachthafen berichtete. Dabei zeigte er keine Spur von Entsetzen. Na klar, abgebrühte Kriegsgeneration, dachte Olivia und erzählte, wie sie den tumben Kriminalbeamten aus Ostfriesland ausgetrickst und heimlich Tatortfotos an die Redaktion geschickt hatte. Schulte grinste. »Wenn der das wirklich nicht gemerkt hat, ist er keinen Schuss Pulver wert«, sagte er. »Ich glaube eher, er hat dich machen lassen. Schließlich will er doch den Toten identifizieren, sagst du. Und je mehr Wirbel du in der Zeitung machst, desto schneller geht das.«

So hatte Olivia das noch nicht gesehen. Hatte der stoppelhaarige Klotz sie wirklich benutzt? So etwas machte keiner mit ihr. Jedenfalls nicht ungestraft. Na, dieser Stahnke lief ihr bestimmt irgendwann noch mal über den Weg. Ach ja, fiel ihr ein, gleich morgen Mittag!

»Auf jeden Fall war das ziemlich gruselig«, nahm sie das Hauptthema wieder auf. »Dass der Tote ausgerechnet an meinem Liegeplatz hing. Und dass er angeblich auch dort gestorben sein soll. Ertrunken, mit einer Stahlfelge um den Hals.«

»Mit einer Felge um den Hals? Von einem Auto?«

»Klar von einem Auto«, schnappte Olivia. »Fahrradfelgen sind ja wohl …« Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viele Motorradfelgen sich in der offenen Garage befanden. »Ja, eine Autofelge«, wiederholte sie. »Altes Ding, schwer, aus Stahl. Fabrikat soll noch ermittelt werden.«

»Und das ist beim Jachtklub passiert?« Jetzt zeigte der vom Leben abgehärtete Mann doch Wirkung. »An deinem Liegeplatz? Ungeheuerlich.«

»Nicht wahr? Ich frage mich ernsthaft, ob die Aktion auf mich gemünzt war.« Sie leerte ihre Bierflasche in zwei durstigen Zügen. »Als ich meine Arisierungsserie geschrieben habe, du weißt schon, über die früher jüdischen Geschäftshäuser und Villen, da haben mich einige Leute gewarnt. Keine schlafenden Hunde wecken und so. Kann das heute die Quittung gewesen sein? Oder eine Warnung, künftig die Finger von solchen Themen zu lassen?«

Schulte schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn du den Toten gar nicht kennst«, sagte er. »Wenn jemand dir schaden wollte, würde er doch etwas gegen dich selbst unternehmen. Oder gegen dein Haus, dein Boot, dein Motorrad. Ganz zu schweigen von deinen Angehörigen.«

»Nach Angehörigen können die lange suchen.« Olivia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was ist mit der Warnung? Wenn ich so weitermache, könnte es mir auch so ergehen? Diese Aussicht gefällt mir gar nicht.«

»Deine Serie war doch letztes Jahr«, sagte Schulte. »Ich weiß es genau, denn ich habe alle Folgen gesammelt.« Er zeigte in den Hintergrund der ungewöhnlich geräumigen Garage; in einer Ecke war dort eine Art Büro eingerichtet, mit Schreibtisch und Regalen voller Aktenordner. »Es war nie die Rede davon, dass die Reihe fortgesetzt werden sollte. Ist das geplant? Dann könnte etwas durchgesickert sein.«

»Nein, nichts in der Richtung geplant, die Sache ist durch.« Jetzt schüttelte Olivia den Kopf. »Momentan bin ich mit der Ostfriesland-Ausweitung der Rundschau voll und ganz ausgelastet. Und falls in nächster Zeit wieder ein Wechsel ansteht, dann geht es für mich in Richtung Sportredaktion, das habe ich mit der Chefetage längst abgekaspert.«

»Stimmt, du willst ja unbedingt über stramme Fußballerwaden schreiben.« Schulte grinste schelmisch. »Dann fang doch gleich mit mir an, ich war mal ein sehr hoffnungsvoller Jugendspieler.« Er krempelte eines seiner Hosenbeine hoch; seine Wade war noch erstaunlich muskulös, allerdings auch bleich, knotig und voller Besenreiser.

In gespieltem Entsetzen hob Olivia beide Hände vor die Augen. »Verschone mich, ich erblinde«, stöhnte sie. »Sag mir lieber, ob du noch irgendwo Bier versteckt hast.«

»Ich hol dir eins.« Schulte erhob sich und ging mit rutschendem Hosenbein in die Garage, wo neben dem Schreibtisch auch ein alter Kühlschrank stand. Die Garage war nicht nur ungewöhnlich breit, sie musste auch ein Stück ins Haus hineinreichen, so lang war sie. Platz genug für noch mehr Bikes aus dem vergangenen Jahrtausend, dachte Olivia, während sie dem kleinen, untersetzten Mann zuschaute, der mit geübten Griffen zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank holte, die Kronkorken am Rand der Deckplatte abschlug und zu seiner Besucherin zurückkehrte. Er schlurfte, aber seine Schritte waren flink.

Sie prosteten sich zu; Olivia nahm einen langen Zug, Schulte nippte nur. »Und?«, fragte er dann. »Glaubst du immer noch, dass dieser Mord irgendwas mit dir zu tun hat? Vielleicht hat der Mörder nur die Gelegenheit genutzt, dass dein Liegeplatz gerade frei war. Wochentags sind doch die meisten Stegplätze besetzt.«

»Ich stelle mir gerade vor, wie er sein Opfer den ganzen Steg entlang geschleppt hat.« Olivia verzog zweifelnd den Mund. »Ich glaube nicht, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt gehen konnte, so wie er zugerichtet war. Und der Täter wäre gesehen worden. An der Slipanlage hingen zu der Zeit nämlich ein paar von unseren Grufties rum. Nach dem, was dieser Oberkommissar Venema als offizielles Statement rausgegeben hat, wollen die aber nichts bemerkt haben.«

»Grufties, ja? Solche wie ich?« Schulte drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Wie auch immer, es war dein Liegeplatz, und der Täter hat sich die Mühe gemacht, den Ertrinkenden an deinem Poller anzuleinen. Hätte ihn einfach ins Wasser stoßen können, dann wäre er auch gestorben und die Strömung hätte seine Leiche mitgenommen. Wäre vielleicht entdeckt worden, aber viel später. Absicht steckte also wirklich dahinter. Bloß welche? Gab es denn keinen Hinweis?«

»Es gab das hier.« Olivia aktivierte ihr Smartphone, öffnete die Bildgalerie und präsentierte ihrem Nachbarn ein Foto von der Tätowierung des Toten. »Hier, hab’ ich aufgenommen, als gerade keiner hingeguckt hat. Soll eine KZ-Nummer sein. Z 3030, Zigeunerlager Auschwitz.«

Schulte beugte sich vor. Seine Miene verhärtete sich. »Diese Nummer trägt der Tote auf dem Arm?«, fragte er heiser.

Olivia nickte. »Kommt aber nicht hin, sagt der Gerichtsmediziner, weil das Opfer gar nicht das Alter hat, um jemals in einem KZ gesessen zu haben. Eindeutig nach dem Weltkrieg geboren. Er trägt die Nummer eines anderen. Die Frage ist, von wem?« Mit gelenkigem Daumen wischte sie durch die Bilder, die sie am Tatort gemacht hatte. »Ich habe mal gelesen, dass die Nazis über ihre Opfer akribisch Buch geführt haben. Gibt es vielleicht heute noch Verzeichnisse dieser Nummern? Kann man rauskriegen, welcher Name zu welcher Nummer gehörte?«

»Gibt es«, sagte Schulte mit belegter Stimme. »Und kann man sicher.« Er räusperte sich. »Wenn du willst, höre ich mich mal um.«