Solo für Sopran

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7.

»Wie sieht sie denn aus?«, fragte Lüppo Buss.

Leopold Heiden warf beide Arme in die Luft. »Mein Gott, wie die Mädchen eben aussehen heutzutage, nicht? Dünngehungert ohne Ende, die Haare gefärbt, etwa so rosa wie eine Packung Aldi-Lachs, und natürlich so eine Krampe in der Nase. Piercing, Sie verstehen. Ein Wunder, dass die damit noch halbwegs singen konnte.« Der Chorleiter stutzte und verbesserte sich: »Kann, meine ich natürlich.«

Der Inselpolizist runzelte die Stirn. Dieser eingebildete Hampel mit seinem theatralischen Gefuchtel und seiner zur Schau getragenen Scheißegalhaltung gegenüber einem seiner Schützlinge machte ihn ärgerlich. Seine blonden, raupenartig borstigen Augenbrauen krochen bedrohlich aufeinander zu. Schön, noch wurde diese Hilke Smit erst seit ein paar Stunden vermisst, das musste nichts heißen, Teenager blieben nun einmal gelegentlich über Nacht weg. Aber so erbärmlich brauchte man sich als Verantwortlicher nun auch nicht anzustellen.

»Ihre Haare sind dunkelblond, mit pinkfarbenen Strähnchen«, meldete sich Heidens Kollegin zu Wort. »Sie ist sechzehn Jahre alt, wirkt aber eher jünger. Etwa einszweiundsechzig groß und schlank, beinahe noch kindlich. Das Piercing hat sie im linken Nasenflügel. Sie trägt eine Brille mit rotem Kunststoffgestell, das heißt, die sollte sie eigentlich tragen, denn sie ist ziemlich kurzsichtig, aber meistens trägt sie sie nicht.«

Lüppo Buss nickte und machte sich Notizen. Gott sei Dank war mit dieser Frau Taudien mehr anzufangen als mit ihrem Kollegen. Oder Chef? Schon auf dem Anrufbeantworter hatte die Stimme der Oberstudienrätin sehr kompetent geklungen. Wäre sicher besser gewesen, mit ihr allein zu sprechen, denn Heidens Gegenwart schien diese Frau doch sehr zu verunsichern. Aber heute am frühen Vormittag, als sie anrief, war Lüppo ja unterwegs gewesen, und inzwischen war die Chorprobe beendet, leider, so dass er jetzt beide am Hals hatte.

Typisch, dass ihm gerade jetzt solch eine Sache serviert wurde, da er alleine auf der Insel Dienst tat. Gewöhnlich waren sie zu zweit, er und sein jüngerer Kollege Bodo Jürgens. Mit zwei Mann ließ sich all das, was die Insulaner und ihre Gäste außerhalb der Hochsaison anstellen konnten, ganz gut bewältigen. Und während des Sommers bekamen sie ohnehin regelmäßig Verstärkung. Jetzt aber war Lüppo Buss ganz auf sich gestellt, denn Bodo Jürgens war gestern Abend in aller Eile aufs Festland geschafft worden. Mit dem Rettungshubschrauber. Und das aus gutem Grund, denn im Krankenhaus hatte man einen akuten Blinddarmdurchbruch festgestellt und sofort operiert. Lüppo Buss, der gerade zwei freie Tage in Esens abgebummelt hatte, wo er eine winzige Zweitwohnung unterm Dach eines schmucklosen Mehrfamilienhauses unterhielt, war sofort benachrichtigt worden und eilends nach Langeoog zurückgekehrt. Und jetzt saß er hier mit diesem Mist.

»Was wissen Sie denn sonst noch über das Mädchen?«, fragte er, den Blick betont fest auf Frau Taudien gerichtet. »Hat sie Sorgen? Irgendwelche Probleme, die sie bedrücken?« Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, wie Heiden, seine Nichtbeachtung augenblicklich registrierend, die Arme fest vor der Brust verknotete und beleidigt die Schallschluckplatten an der Bürodecke fixierte. Bestens, sollte er ruhig, solange er die Klappe hielt.

»Sie meinen …?« Die Lehrerin überlegte, wobei sie heftig mit den Augen rollte und die vollen Lippen nach vorne stülpte. »Nun ja«, sagte sie dann, »ich glaube schon. Sie fühlte sich wohl nicht richtig akzeptiert, nicht zugehörig, verstehen Sie? So etwas geht ja sehr schnell.«

Der Polizist nickte bedächtig. »Falsche Kleidermarke, uncooler Musikgeschmack, zu gute Schulnoten, etwas in der Richtung?«

»Nein, das nicht.« Die Oberstudienrätin schwenkte energisch den Zeigefinger. »Leistungsorientiert sind viele im Chor, deswegen wird man nicht gemobbt. Sonst schon, aber nicht bei uns. Und in Sachen Musik sind wir alle sehr flexibel, das liegt ja irgendwie in der Natur der Sache. Was die Mode angeht, so gibt sich Hilke alle Mühe, keinen angesagten Trend zu verpassen. Das ist es also nicht. Eher schon … ihre allgemeine Erscheinung, verstehen Sie.«

»Nein«, sagte Lüppo Buss. »Klären Sie mich auf.«

»Na ja.« Margit Taudien zuckte die Achseln. »Sie haben es ja selber notiert. Einszweiundsechzig, Figur eher knabenhaft, jünger aussehend. Wissen Sie, was das für eine Sechzehnjährige bedeuten kann? In dem Alter sind die Mädels doch alle stark verunsichert, haben mental keinen festen Boden unter den Füßen. Darum machen die alle so verzweifelt auf erwachsen. Was glauben Sie denn, warum sich manche von denen so herausputzen? Weil sie mit aller Gewalt etwas darstellen wollen, von dem sie überhaupt nicht wissen, ob sie es denn wirklich schon sind. Nämlich Frauen. Und wenn man dann so wie Hilke das Pech hat, dass die eigene körperliche Entwicklung das einfach noch nicht hergibt, dann kann das schon zum Verzweifeln sein.« Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund: »Oh Gott, das will ich jetzt aber wirklich nicht annehmen, dass ihr das dermaßen nahe gegangen ist, dass sie sich womöglich …«

»… etwas angetan hat?« Lüppo Buss schüttelte sanft das breite Haupt. »Vom Schlimmsten müssen wir ja nicht gleich ausgehen.«

»Sie wissen offenbar nicht, wie rücksichtslos Jugendliche in diesem Alter sind.« Die Lehrerin schien nicht geneigt, sich beschwichtigen zu lassen. »Geradezu brutal. Sagt Ihnen der Ausdruck ›Zickenterror‹ etwas? Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen! Also, wenn die Hilke von irgendeiner Clique, womöglich von ihrer eigenen, so richtig in die Zange genommen worden ist, dann garantiere ich für gar nichts.«

Lautes Klopfen an der Tür enthob Lüppo Buss einer Antwort. Ehe er noch »Moment bitte!« rufen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und ein Schwall aufgeregt plappernder Menschen brach über ihn und die beiden Leeraner Lehrer herein. Allen voran eine Frau im erdbeerroten Badeanzug mit kupferrot gefärbten Haaren, zartrosa getönter Haut und krebsrot angelaufenem Gesicht. Mit der einen Hand schob sie ein kleines Mädchen mit weißem Sonnenhut und mintgrünem Blümchenbikini vor sich her, in der anderen schwenkte sie ein undefinierbares, allem Anschein nach recht voluminöses blauweiß gestreiftes Kleidungsstück, als sei es eine erbeutete Kriegsflagge.

»Ich bitte Sie, können Sie nicht …« Kommissar Buss schickte sich an, die ganze Autorität seines Amtes in die Waagschale zu werfen, um den Ablauf der Dinge in geordneten Bahnen zu halten. Aber er hatte keine Chance.

»Ein Sittlichkeitsverbrecher!«, rief die rote Dame. »Ein Kinderschänder! Da draußen am Strand, da läuft er herum, am helllichten Tag! Hier, meine Tochter hat er belästigt, hat sich schamlos vor ihr entblößt, und wer weiß, was er ihr noch alles angetan hätte, wenn ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre! Da, gucken Sie mal!« Sie klatschte das undefinierbare Kleidungsstück vor Lüppo Buss auf den Schreibtisch. Sandfontänen spritzten nach allen Seiten, Körnchen prickelten auf der polierten Tischplatte.

»Das sind seine Boxershorts«, erläuterte die rote Dame ihr Beutestück. »Die hat er vor meiner Tochter ausgezogen, und die Kleine musste ihm dabei zugucken. Was für ein Dreckskerl!« Die Frau rang nach Atem. »Als ob ich es geahnt hätte. Ich habe zu meinem Mann gesagt, Hermann, habe ich gesagt, ich sehe Bianca nicht, seit ein paar Minuten schon, wo ist Bianca, das macht mich ganz unruhig, habe ich gesagt. Also bin ich losgegangen und habe sie gesucht, und was soll ich sagen …«

Die rote Dame hielt erneut inne, um Luft zu holen. Eine Gelegenheit, auf die der Trupp, der sich in ihrem Schlepptau in das Polizeibüro an der Kaapdüne gedrängt hatte, nur gewartet zu haben schien. Offenbar waren sie allesamt Augenzeugen des soeben angezeigten Vorfalls geworden, und das taten sie jetzt mit gebührender Empörung und Lautstärke kund. Nur der Mann, der direkt neben der roten Dame und ihrer mitgrünen Bikinitochter stand, stimmte nicht in die Kakophonie der Entrüstung ein. Vermutlich Hermann, dachte Lüppo Buss.

Der Kommissar ließ als guter Therapeut dem aufgestauten Mitteilungsdrang der Tatzeugen erst einmal freien Lauf. Dann erhob er sich langsam aus seinem Drehstuhl, breitete die kräftigen Arme aus, blähte seinen Brustkorb auf und fixierte die Gruppe aus eisgrauen Augen. Eine Pose, die vollkommen ausreichte, um alle Anwesenden augenblicklich zum Schweigen zu bringen.

»Also gut«, sagte er leise. »Darf ich Sie alle jetzt bitten, einer nach dem anderen und ganz in Ruhe Ihre Aussage …«

Schon wieder entstand Tumult. Mist, dachte Lüppo Buss. Das hatte doch bis hierhin so gut geklappt. Wer machte denn da alles wieder zunichte? Wütend funkelte er den schmächtigen älteren Herrn an, der sich gerade durch die Reihen nach vorne drängelte. »Was wollen Sie denn jetzt?!«

»Entschuldigen Sie bitte.« Der kleine Mann schien unter den finsteren Blicken des Inselkommissars noch weiter zu schrumpfen. »Ich gehöre gar nicht zu den Herrschaften hier, wollte nur etwas abgeben, und da dachte ich, ich lege Ihnen das mal einfach auf den Schreibtisch. Hier, zwei Fundsachen.«

Der kleine Mann machte seine Ankündigung wahr. Wieder rieselte feuchter, salziger Sand über Lüppo Buss’ glänzenden Schreibtisch, und auf der Stirn des Polizeibeamten vereinigten sich zwei blonde, borstige Augenbrauenraupen zu einer einzigen. Abermals holte der Kommissar tief Luft.

Der Schrei aber kam von Margit Taudien. »Oh nein, Hilke!« Die Lehrerin griff nach den beiden Gegenständen, die der kleine Mann abgelegt hatte, zuckte jedoch davor zurück wie vor einem Skorpionpärchen und schlug stattdessen die Hände vor ihr Gesicht.

Lüppo Buss trieb die Raupen auf seiner Stirn auseinander und richtete seinen Blick abwärts. Das eine der beiden Fundstücke war ein Handy, ein relativ neues Modell, mit Fotofunktion und allerlei sonstigem Schnickschnack. Nicht billig, aber kein Grund, in Panik zu geraten.

 

Das andere Fundstück war eine Brille. Schmal, eckig, mit rotem Kunststoffgestell.

»Oh nein«, wiederholte Margit Taudien. »Das arme Kind. Was hat er bloß mit ihr gemacht!«

Alle Anwesenden starrten sie verständnislos an. Selbst Heiden, dessen Gedanken in den letzten Minuten ganz andere Wege gegangen waren. Nur Lüppo Buss wusste genau, was die Lehrerin meinte. Und er musste zugeben, dass der Zusammenhang mehr als offenkundig war. Ein junges Mädchen verschwunden, ein Sittlichkeitsverbrecher aufgetaucht, zwei eindeutig zuzuordnende Fundstücke in der Nähe des Ortes entdeckt, wo der Täter sein Unwesen trieb.

Kalter Schweiß brach ihm aus.

Wieder öffnete er den Mund. Wieder kam er nicht zu Wort, denn erneut entstand Unruhe. Sehr heftige diesmal, denn der Mann, der sich jetzt seinen Weg von der Tür her durch das inzwischen zum Bersten vollgepfropfte Büro bahnte, war alles andere als klein und schmächtig. Vielmehr war er groß und dick, beinahe ein Koloss, spärlich bekleidet mit Badelatschen, dunklen Shorts und weißem Unterhemd, und er schien keinerlei Scheu vor dem Einsatz seiner Ellbogen zu haben.

Die rote Dame schrie auf: »Das ist er, das ist er! Der Lustmörder! Hilfe, zu Hilfe, so haltet ihn doch fest!«

Der Mann jedoch, der neben ihr stand und in dem Lüppo Buss ihren Ehemann Hermann vermutete, schüttelte nachdrücklich den Kopf und legte ihr die Hand auf die sonnenverbrannte, rosa schimmernde Schulter. Ein Schmerzensschrei stoppte ihr entsetztes Gezeter.

»Das ist er nicht«, sagte der mutmaßliche Hermann. »Ganz bestimmt nicht. Er sieht nur so ähnlich aus.«

Der große, dicke Mann hatte sich inzwischen bis zum Schreibtisch durchgetankt. Die rote Dame streifte er nur mit einem skeptischen Blick, dann wandte er sich Lüppo Buss zu. »Was ist das eigentlich für eine Insel hier?«, herrschte er ihn an. »Was ist das für ein Strand? Wissen Sie überhaupt, wie oft ich in Italien Badeurlaub gemacht habe? Und in Südfrankreich? Und nie, niemals hat mich dort jemand beklaut. Aber hier, auf Langeoog, im ach so friedlichen Ostfriesland! Da dreht man sich nur einmal kurz um, und was ist?«

Genau in diesem Augenblick platzte Lüppo Buss der Kragen. »Ja, und was ist? Was ist!?«, brüllte er los, den Kopf in den Nacken gelegt, um dem dicken Kerl in die wasserblauen Augen starren zu können. »Was glauben Sie wohl, wie gespannt ich darauf warte, dass Sie mir sagen, was hier ist! Na und, was ist nun?! Jetzt will ich es aber wissen. Und das eine sage ich Ihnen, wenn Sie mich hier wegen nichts und wieder nichts von meinen dringenden Dienstgeschäften abhalten, dann machen Sie sich bloß auf was gefasst!«

Die ganze kompakte Masse Mensch im Langeooger Polizeibüro hielt den Atem an. Selbst Leopold Heiden zeigte plötzlich wieder Interesse, entfaltete seine Arme und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, froh, die kommende Auseinandersetzung als Zuschauer in der ersten Reihe miterleben zu dürfen.

Der dicke Neuankömmling aber brüllte nicht zurück. Vielmehr sagte er in ruhigem Ton: »Sorry, das konnte ich ja nicht ahnen. Tut mir leid, ich kann warten. Geht ja um nichts Wichtiges, nur um ein paar Klamotten, die mir am Strand gestohlen worden sind. T-Shirt, Badehose und Laken, so etwas eben.«

»Eine orange Badehose?« Das war das kleine Mädchen, Bianca hieß sie wohl. »So ’ne ganz große?«

»Ja«, sagte der Mann und schaute ungläubig auf das Mädchen hinab. »Ich meine, orange war sie. Hast du etwa … ?«

»Stopp«, sagte Lüppo Buss laut, und er sagte es mit Nachdruck. Augenblicklich trat Schweigen ein. »Ab jetzt redet nur noch, wer gefragt wird, klar? Und zwar von mir. Keiner verlässt mein Büro, ehe ich nicht haarklein weiß, was hier läuft und was womit zusammenhängt. Und mit Ihnen hier fange ich an. Wer sind Sie eigentlich?«

»Ich?« Der dicke Mann klopfte seine Brustregion ab, wo aber nur Feinripp zu ertasten war, dann die Rückseite seiner kurzen Hose, und brachte ein dunkles Etui zum Vorschein. Wieder rieselte Sand auf den Schreibtisch, als er die Plastikhülle aufklappte und einen Ausweis zeigte. »Mein Name ist Stahnke. Kriminalhauptkommissar. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann … ?«

Er stutzte, weil sein Blick auf die blauweiß gestreiften Boxershorts gefallen war, die zusammengeknüllt vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Was ist denn das?«, murmelte er, klappte seinen Ausweis zusammen und schob die Plastikhülle unter den Bund des Kleidungsstücks, um es prüfend anzuheben. Ein dunkler Fleck, bisher von den Falten fast verborgen, wurde sichtbar.

»Schon gesehen?«, wandte sich der Dicke wieder an Lüppo Buss. »Da ist Blut dran.«

8.

»Ach Mensch, ich kann mich immer so schlecht entscheiden.« Wiebke Meyers knochiger Zeigefinger zuckte zwischen den bunten Abbildungen der Eiskarte hin und her wie der Mouse-Cursor in einem Computerspiel. »Bananensplit? Spaghettieis? Oder hier, Amarettobecher, vielleicht mal was mit Alk?« Sie kicherte ungehemmt.

Stephanie Venema kicherte mit. »Nimm doch einfach alles zusammen, das kannst du dir doch locker leisten.«

»Jetzt fang du doch nicht auch noch an«, maulte Wiebke. »Bei mir setzt nun mal nichts an, da kann ich essen, so viel ich will. Kenne viele, die mich darum beneiden. Aber zu dürr bin ich doch nicht, oder?« Sie visierte Stephanie aus zusammengekniffenen Äuglein an: »Oder wie? Hä? Hä?!«

»Nein, natürlich nicht. Du bist nur ganz toll schlank«, bestätigte Stephanie friedfertig und wie gewünscht.

»He, du hast eine Sekunde zu lange gezögert. Das hab ich genau gemerkt. Also findest du mich doch zu dürr, ja? Gib’s nur zu, lügen ist zwecklos. Dürr und hässlich. Sag doch gleich, dass ich nie einen Kerl abkriege! Dann kann ich ja auch ins Wasser gehen. Oder mich vor den nächsten Zug werfen.«

Ihr Gesicht verzog sich zu einer faltigen Leidensmiene, die Mundwinkel sanken tief herab, und die hochgewölbte Unterlippe pendelte im Luftzug ihrer hechelnden Atemzüge vor und zurück. Etwa drei Sekunden lang, dann prustete Wiebke los.

Auch Stephanie wieherte. »Selbstmord wegen Untergewicht! Ausgerechnet Hilke! So was Bescheuertes, da können auch nur Lehrer drauf kommen. Etwas Angesagteres als mager zu sein gibt es doch gar nicht.«

»Außerdem haben die hier überhaupt keine richtigen Züge. Nur die Inselbahn.«

»Und die ist so langsam, da kannste dich nicht davor werfen. Höchstens wegschmeißen!«

Der italienische Ober erschien und lächelte milde auf die beiden giggelnden Teenager herab. Wiebke entschied sich nach einigem weiteren Zieren doch für einen Bananensplit; Stephanie bestellte, wohl unter dem Eindruck ihrer eigenen kalorienbezogenen Worte, nur einen Milchkaffee.

Dann fragte sie, nun wieder ganz ernst: »Aber was ist denn nun wirklich mit Hilke Smit? Hast du vielleicht ’ne Ahnung, wo sie stecken könnte?«

Wiebke zuckte die schmalen Schultern. »Wer weiß. Sie wollte doch so gerne ins Watt, weißt du nicht mehr? Eine Wattwanderung machen, nur mal eben ein paar Kilometer raus, hat sie gesagt. Das war noch auf der Fähre, du weißt doch, Langeoog III, das Ding, das so elegant aussieht wie ein zertretener Schuhkarton. Ich erinnere mich genau. So ein Ausflug ins Watt soll ja nicht ungefährlich sein, wenn man sich nicht auskennt, wegen der Flut, die kommt nämlich schneller als man denkt, und weil man die Entfernungen so schlecht abschätzen kann. Außerdem gibt es da diese Dinger, in denen man ersaufen kann, wie heißen die noch? Spülies?«

»Priele«, korrigierte Stephanie. Wieder prusteten beide gleichzeitig los.

Der Ober trat an ihren Tisch und servierte das Bestellte, lächelte nachsichtig über die sich immer noch kringelnde Wiebke, während sein Blick deutlich länger und auch wohlgefälliger auf Stephanies aparter Erscheinung ruhte. Das hellhäutige Mädchen errötete schlagartig, als habe ihr jemand mit Schwung einen Eimer Farbe ins Gesicht gekippt.

Kaum hatte sich der Kellner entfernt, beugte sich Wiebke so weit nach vorn, wie es die Sonnenschirmchen in ihrer Eisschale zuließen, und zischelte: »Hast du das gesehen? Der Typ ist scharf auf dich! Scharf wie ’ne Rasierklinge. Halt dich bloß ran, bei dem hast du echte Chancen.«

»Blödsinn.« Stephanie blinzelte schamhaft in ihren Kaffee, während ihre erhitzte Gesichtshaut tiefrot zu leuchten begann.

»Ich meine ja nur«, sagte Wiebke achselzuckend und schob sich einen gehäuften Löffel Eis mit Fruchtfleisch und Sahne in den Mund. »Was das sparen würde! So oft wie wir hier sitzen. Wäre doch nicht zu verachten.«

Wieder lachten beide gleichzeitig los, und hätte sich Wiebke nicht gerade noch rechtzeitig die Hand vor den Mund gehalten, wäre das für Stephanies paillettenbesticktes gelbes T-Shirt das vorläufige Ende gewesen.

»Was hältst du eigentlich von dieser Geschichte mit dem Triebtäter, der hier angeblich unterwegs sein soll?«, fragte Stephanie dann unvermittelt ernst. »Meinst du, da ist etwas dran?«

Wiebke nickte. »Gehört habe ich auch davon. Wieso, gibt es da einen Zusammenhang? Ich dachte, das ist so einer, der sein Ding kleinen Kindern und alten Weibern zeigt. Mir zeigt ja nie einer so was. Solche Typen sollen doch ganz harmlos sein, ich meine, die vergewaltigen niemanden und bringen keinen um. Eigentlich ganz arme Willis.« Wieder begann sie zu grinsen: »Ha, genau, armer Willy! Wird immer nur vorgezeigt.«

Diesmal jedoch ließ sich Stephanie von Wiebkes Albernheit nicht anstecken. »Ja, genauso habe ich es auch gehört. Aber eben das macht mich ja so stutzig.«

Wiebke hielt in dem Versuch, den Boden aus ihrer Eisschale herauszuschaben, inne: »Wieso?«

»Na, weil das so betont wird! Dass das Auftauchen dieses Kerls absolut nichts mit dem Verschwinden von Hilke zu tun haben soll.« Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihre blonden Haarkaskaden. Zwei Tische weiter klirrten Flaschen; offenbar war der Kellner nicht ganz bei der Sache. Die beiden Mädchen achteten nicht darauf.

»Wer hat das betont?«, hakte Wiebke nach.

»Na, die Taudien! Als sie uns heute Mittag aufgefordert hat, die Augen offen zu halten und darauf zu achten, ob wir irgendwo Hilke sehen oder irgendetwas, das darauf hindeutet, wo sie sein könnte. Weißt du nicht mehr?«

»Da muss ich wohl geistig nicht so ganz präsent gewesen sein«, sagte Wiebke. »Außerdem, so viel wie die Frau redet, wenn der Tag lang ist, wer will denn das alles wissen? Frag mich doch mal.«

Stephanie ließ sich nicht beirren. »Da hat sie doch auch von diesem Typen gesprochen. So ’n dicker Kerl, ganz alt schon, der sich am Strand vor einem Kind ausgezogen hat. Wir sollen doch auch aufpassen, ob wir so einen irgendwo sehen. Und dann hat die Taudien extra dreimal betont, dass die beiden Sachen nun aber auch überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Auffällig, oder?«

»Weiß nicht.« Wiebke warf den Löffel auf den Tisch und verschränkte die Finger unter ihrem spitz zulaufenden Kinn. »Ich meine, sich am Strand ausziehen, wer tut das denn nicht? Wenn man da gleich jeden verhaften wollte …«

»Eben!« Wie beschwörend streckte Stephanie beide Handflächen vor. »Darum glaube ich ja auch, dass da ganz etwas anderes dahinter steckt. Dieser Kerl ist bestimmt nicht bloß so ein Exi, wie heißt das noch, Expoinquisitor oder was. Und der hat bestimmt etwas ganz anderes auf dem Kerbholz als nur Hose runterlassen. Das wollen die uns nur nicht sagen, damit es keine Panik gibt.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Raunen, das auf der anderen Seite des Tisches gerade noch zu vernehmen war: »Dabei sollen sogar schon Blutspuren gefunden worden sein!«

»Aber dann …« Wiebke runzelte die Stirn. »Dann könnte es ja sein, dass Hilke tatsächlich … Ich meine, dass es ein Verbrechen …« Trotz mehrerer Anläufe brachte sie das Wort nicht über die Lippen. All ihre Kaltschnäuzigkeit schien sie von einem Augenblick auf den anderen verlassen zu haben.

»Dass sie umgebracht wurde.« Stephanie schien diesen Gedanken schon länger zu wälzen und brachte ihn glatt heraus. »Hilke Smit tot! Kannst du dir das vorstellen?«

»Oh Gott.« Wiebke klang ehrlich erschüttert. »Und dieser Kerl läuft hier immer noch rum, alle halten ihn bloß für einen Exhibitionisten, und keiner sagt unsereinem, wie gefährlich der wirklich ist! Das ist ja …«

»Unverantwortlich. Genau.« Stephanie nickte nachdrücklich. »Wenn der Typ eine wie Hilke umgebracht hat, dann sucht der sich doch wahrscheinlich in diesem Moment schon ein neues Opfer. Jede von uns kann als Nächste dran sein. Und keiner warnt uns vor der Gefahr, in der wir schweben. Die lassen uns doch glatt mit offenen Augen dem Täter in die Arme laufen! Unmöglich, so was.«

 

»Aber jetzt wissen wir ja Bescheid«, sagte Wiebke und winkte dem Ober. »Jetzt können wir es ja übernehmen, alle zu warnen. Das ist schließlich nichts anderes als unsere verdammte Pflicht.«

»Genau. Lieber spät als nie.«

Während der Kellner umständlich nach dem Wechselgeld kramte, sagte Wiebke: »Mal gespannt, wer jetzt Hilkes Platz im Sopran kriegt. Das wird nun ja noch mal richtig eng.«

»Also hör mal! Noch wissen wir doch gar nicht, ob – und überhaupt. Glaubst du denn, dass die nicht wenigstens so lange warten, bis Hilke gefunden worden ist? Ich meine, bis sie wieder auftaucht?«

»Da kennst du aber Heiden schlecht.« Wiebke lachte schrill. »Wenn Hilke heute gefehlt hat, ohne dass ein ernster Grund vorlag, schmeißt der sie doch achtkantig raus. Wegen Unzuverlässigkeit. Na, und wenn es einen ernsten Grund gab …« Sie hob die Augenbrauen, bis sie unter ihrem fransigen Pony verschwanden.

»Du hast recht.« Eifrig nickend schüttelte Stephanie ihre Mähne. »So oder so, Theda hat vielleicht doch noch eine Chance.«