Solo für Sopran

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5.

Von draußen war es Leopold Heiden so vorgekommen, als summte es im Haus der Insel wie in einem Bienenstock. Als er jedoch die Tür zum Kleinen Konzertsaal aufstieß, schlugen ihm Lärmwogen entgegen wie sonst nur in der Pausenhalle des Jann-Berghaus-Gymnasiums. Sänger oder nicht, fünfundsechzig Schüler waren und blieben eben vor allem fünfundsechzig Schüler. Also in erster Linie laut.

Oberstudienrätin Margit Taudien stürzte ihm entgegen, das runde Gesicht strahlend wie die Morgensonne, ein Bündel Notenblätter mit beiden Armen gegen die Brust gepresst. »Einen wunderschönen guten Morgen, großer Meister«, rief sie wie jeden Tag mit lautem, etwas schrillem Diskant.

Heidens Reaktion bestand aus einem fingierten Zusammenzucken und einem entsagungsvollen Blick zur Saaldecke. Für den demonstrativen Eifer seiner Kollegin hatte er nichts als Verachtung übrig, die er mal mehr, mal weniger zu verbergen suchte. Heute verbarg er sie gar nicht. Sie würde das ignorieren, tapfer wie immer. Das wusste er, und das war gut so, denn er brauchte sie. Seine Verachtung aber wurde dadurch nur noch gesteigert.

»Gott zum Gruße, meine Beste«, gab er zurück. »Haben Sie Töne?«

»Wie bitte?« Margit Taudien stutzte, riss die Augen weit auf und blickte hilfesuchend in die Runde, ehe sie einen ihrer rundlichen Arme aus der Notenklammer löste und sich die Hand zum Zeichen einsetzenden Begreifens gegen die Stirn schlug: »Ach, so meinen Sie das!« All diese Gesten vollführte sie mit slapstickartiger Überakzentuierung, als befinde sie sich nicht zur Probe im Kleinen Konzertsaal, sondern im Großen Bühnensaal zur Aufführung. Absolut stummfilmreif, fand Heiden. Jetzt fehlte nur noch …

Da begannen sich auch schon die Notenblätter aus ihrer nur noch halbfesten Armklammer zu lösen und in einer gischtenden Papierkaskade zu Boden zu pladdern. Sofort sprangen mehrere Jungen und Mädchen hinzu, um ihrer Lehrerin beim Aufsammeln behilflich zu sein und damit vor ihrem Chorleiter einen guten Eindruck zu machen, kamen einander dabei zwangsläufig in die Quere und rempelten sich gegenseitig um. Slapstick in Reinkultur, Heiden hatte es ja gleich gewusst.

Jetzt aber genug damit. Er ignorierte seine Kollegin, die anscheinend noch etwas sagen wollte, und klatschte dreimal kräftig in die Hände. »Guten Morgen allerseits!«, donnerte er mit wohltrainierter, voluminöser Stimme, die durch das allgemeine Getöse fuhr wie ein Panzerkreuzer durch eine Horde Windsurfer. »Es wird ernst! Silentium und Aufstellung.«

Mehr als sechzig Jungen und Mädchen stoben nur so aus- und durcheinander, um sich gleich darauf in hundertfach geübter Weise wieder zu formieren. Aus lauter Individuen wurde in Sekundenschnelle eine Gemeinschaft, aus einem strukturlosen Gewimmel ein massiver Block. Heiden liebte diesen Anblick. Fast noch mehr aber liebte er die gespannte Aufmerksamkeit, mit der alles an seinen Lippen hing. Alle fieberten sie der Entscheidung entgegen, die einzig und allein er fällen und verkünden konnte. Himmel, das war Macht, und sie fühlte sich gut an.

»Die Auswahl ist getroffen«, verkündete er überflüssigerweise, schließlich hatten alle seit Wochen auf diesen Termin hingearbeitet. »Zu neunundneunzig Prozent wird sich daran nichts mehr ändern. Da müsste schon etwas ganz Außergewöhnliches passieren.« Er blickte kurz hoch und in die Runde, suchte ein ganz bestimmtes Gesicht, fand es und lächelte dünn. Seine Wimpern senkten sich wieder.

»Ich beginne mit den Herren der Schöpfung.« Umständlich nestelte er ein Bündel Notizzettel aus der Hosentasche. Das Papier knisterte unnatürlich laut in der atemlosen Stille. Nicht, dass Heiden seine Aufzeichnungen benötigt hätte; die Namen hatte er längst im Kopf, jeden einzelnen, jederzeit abrufbar. Aber warum sollte er die Spannung nicht noch etwas steigern, den gewissen Moment nicht noch ein klein wenig hinauszögern? Ihm gefiel das.

»Der Bass.« Der Chorleiter blätterte ein bisschen, als läge der betreffende Zettel nicht sowieso obenauf. »Henning Voss, Theodor Zenker, Martin Eden …« Heiden stellte fest, dass die Jungen recht gelassen blieben. Kein Wunder, beim Bass war die Sache relativ klar, ebenso wie beim Bariton. Die Leistungsunterschiede waren deutlich, und fast alle Sänger wussten längst, ob sie dabei sein würden oder nicht. Ein wenig anders sah es beim Tenor aus, da würde es gleich wohl zwei lange Gesichter geben.

Aber das war ganz gewiss nichts im Vergleich zu den Tränenfluten, die bei den Mädchen zu erwarten waren. Vor allem im Sopran. Nirgendwo war die Anzahl der Auszusondernden so groß, waren die Leistungsunterschiede insbesondere in der Grauzone zwischen brillant und bieder so gering wie dort. Von den insgesamt fünfundzwanzig Sängerinnen und Sängern, die hier und heute erfuhren, dass sie sich die Hoffnung auf eine kostenlose USA-Reise abschminken konnten, gehörten allein fünfzehn zum Sopran.

»… und Klaus Töbken. So, das war’s, meine Herren. Alle Aufgerufenen dürfen sich gratulieren, den anderen danke ich für ihr strebendes, wenn auch nicht vom erträumten Erfolg gekröntes Bemühen. And now upon the Ladies.«

Die Jungs trugen es allesamt mit Fassung, stellte Heiden fest. Auch die Aussortierten blieben betont cool, einige rangen sich sogar ein pflichtschuldiges Lachen über den alten Heinrich-Lübke-Witz ab. Ein paar der Mädchen lachten ebenfalls. Klar, die Favoritinnen, denen das Flugticket nicht zu nehmen war. Die anderen blieben stumm, standen bleich und starr, wie in Alabaster gemeißelt. Hopp oder topp – jetzt gleich würden sie es erfahren, aus seinem Munde. Heiden verspürte ein wohliges Kribbeln im Bauch, während er die Namen der Altistinnen verlas.

Dann war es so weit. »Sopran.« Kurze Raschelpause. »Maren Gödeke, Elisabeth Heeren, die drei Tanjas …« Gleichmäßig, wie nach dem Metronom, las er die Namen der Gesetzten herunter, deren Erwähnung niemanden überraschte, am allerwenigsten sie selbst. Dann aber hatte Heiden die Sektion erreicht, die er selber »die Grauzone« nannte; lauter Mädchen, die passabel, aber nicht überragend sangen, die man durchaus mitnehmen konnte, aber nicht musste. Fußballtrainer nannten so etwas »Ergänzungsspieler«.

Jetzt kam Bewegung in die Reihen des Chors, und auch die Stille war nicht mehr absolut. Name für Name rief ein heftiges Keuchen, ein unterdrücktes Juchzen, ein halblautes »Ja!« hervor. Da gehen Wunschträume in Erfüllung, dachte er, und sein Lächeln vertiefte sich. Träume, ja. Zwei Namen noch, dann werden wir hören, wie Träume zerbrechen.

»Sabrina Tinnekens.« Der vorletzte Name, das eine Gesicht. Sein Blick fing es ein. Sie lächelte, klar, aber keineswegs so, wie er erwartet hatte, nämlich dankbar und selig wie ein beschenktes Kind unterm Weihnachtsbaum. Oh nein. Dieses Lächeln fiel reichlich selbstsicher aus. So, als habe sich diese Person ihren Platz auf der Liste redlich verdient. Womit auch immer. Was die sich wohl einbildete! Heidens Hochstimmung war dahin.

»Und Hilke Smit. So, meine Damen, das war’s.« Er stopfte die Zettel zurück in seine Hosentasche.

Seufzer, gleich reihenweise, wie erwartet. Und ein Schluchzer, der sich Bahn brach, obwohl sich Theda Schoon beide Hände vor den Mund gepresst hatte. Ach ja, die kleine Theda. Sicherlich hätte er sie mitnehmen können. Aber eben nicht müssen. Einen zwingenden Grund hatte sie ihm nicht geliefert. Obwohl er ihr die Möglichkeit geboten hatte. Tja, Chance verpasst, so war das nun einmal.

Dabei fiel ihm auf, dass er Hilke Smit gar nicht hatte jubeln hören. Und als er den wohlvertrauten Sopranblock ins Visier nahm, stellte er fest, dass er sie auch nicht sah.

Er winkte die Taudien heran: »Haben Sie denn die Anwesenheit gar nicht kontrolliert?«

»Aber selbstverständlich«, erwiderte die Oberstudienrätin entrüstet. »Hilke Smit ist heute früh nicht erschienen, das ist mir bekannt. Ich hatte nur noch keine Gelegenheit, es Ihnen …«

»Schon gut, schon gut«, winkte er ab: »Und? Wo steckt sie?«

Margit Taudien breitete die Arme aus: »Ihre Mitbewohnerinnen wissen es nicht. Angeblich hat sie gestern am frühen Abend noch einmal die Ferienwohnung verlassen, und als die anderen Mädchen heute Morgen in ihrem Zimmer nachschauten, war ihr Bett unberührt.«

Heiden runzelte die Stirn; Hilke war nicht gerade für ein ausschweifendes Nacht- und Liebesleben bekannt. Andernfalls hätte er es gewusst. Im Chor wurde grundsätzlich über alles getratscht, und auf solche Dinge achtete er.

»Haben Sie es schon über Handy versucht?«, fragte er.

Margit Taudien nickte beflissen: »Habe ich, selbstverständlich. Aber da meldet sich nur die Mailbox. Anscheinend hat Hilke ihr Gerät ausgeschaltet.«

Heiden wurde sich plötzlich wieder bewusst, dass fünfundsechzig Augenpaare auf ihn gerichtet waren, das von Kollegin Taudien mitgerechnet. Die Jugendlichen hatten ihr Geschnatter eingestellt; offenbar hatten sie gemerkt, dass ihr Leiter-Duo ungewöhnlich lange abgelenkt war, und waren vor Neugierde verstummt. Besser, er machte jetzt erst einmal weiter wie gewohnt. Bloß nicht die Pferde scheu machen.

»Fragen Sie zur Sicherheit mal bei der Polizei nach, ob die etwas wissen«, zischte er der Taudien zu. »Hier gibt es doch eine Polizei, soweit ich mich erinnere, oder? Wenn schon keine Autos.«

Die rundliche Frau nickte. »Ist gut«, sagte sie leise und entfernte sich, sorgsam darauf bedacht, keine auffällige Hast an den Tag zu legen.

Sehr schön, dachte Heiden, froh, sich nicht selber kümmern zu müssen. Auch wenn er um einen Besuch bei der Polizei wohl nicht herumkommen würde.

Er klatschte laut in die Hände. »So, genug getrödelt, frisch ans Werk! Uns steht noch eine Menge Arbeit bevor.«

6.

Das Meer kam auf ihn zu. Merkwürdig. Aber eindeutig.

 

Nicht nur Welle um Welle, klar, das auch. Nach wie vor brandete Woge auf Woge heran, kräftig und lautstark, obwohl der Wind im Moment ziemlich sanft wehte, wie er fand. Aber woher wollte er das wissen? Hatte er denn einen Vergleich?

Wie auch immer, dachte der dicke Mann, das Meer kommt auf mich zu. Seit Stunden fixierte er nun schon den Spülsaum, jene Zone, in der sich die schaumigen Ausläufer der gebrochenen Brandungswellen im nassen Sand verliefen und eine Markierung aus Treibholzstücken, Möwenfedern, Pflanzenresten, Plastikflaschen und sonstigem Unrat zurückließen. Keine Welle war wie die andere, und so war auch der Verlauf des Spülsaums ständigen Veränderungen unterworfen.

Nur eins war unübersehbar: Er kam auf ihn zu.

»Flut«, krächzte der dicke Mann leise vor sich hin. Seit Stunden das erste Wort, das er gesprochen hatte. Flut, natürlich, Ebbe und Flut. Sechs Stunden und ein bisschen, jeweils. Zweimal am Tag kam und ging das Wasser. Na also, da war ja doch noch etwas, dort oben unter seiner geschwollenen Schädeldecke, die nicht mehr ganz so wütend pochte wie heute früh. Wie viel mochte da noch sein?

Aber vorerst wartete er vergebens. Die erhoffte Erinnerungsflut wollte nicht einsetzen.

Der Spülsaum näherte sich nicht nur, er schwankte auch. Vor und zurück, vor und zurück, ebenso wie der blaue Himmel und die Schäfchenwolken über dem stahlgrau schimmernden Meeresspiegel. Das verwunderte ihn, bis er feststellte, dass es sein eigener dicker Körper war, der da schwankte. Vor und zurück, vor und zurück, die Arme oberhalb des halbkugeligen Bauches um die füllige Brust geschlungen. Selbsthypnotisch. Wie nannte man das noch, wenn jemand so vor sich hin wackelte – Autismus? Nein, Hospitalismus, das war es. Wieder ein Fundstückchen Erinnerung. Leider wiederum keins, das ihm weiterhalf.

Immerhin war ihm nicht mehr so kalt wie am frühen Morgen. Seit Stunden saß er nun schon hier am Strand, auf ein und demselben Fleck, wie gefangen in seinem egozentrischen Gewackel und seiner Erinnerungslosigkeit, und wartete. Auf sich selbst, genau genommen. Bisher aber war die erhoffte Offenbarung ausgeblieben. Er war sich selber immer noch so fremd wie heute früh, war nichts weiter als ein dicker Mann in Unterwäsche. Mit einer schmerzenden Beule am Kopf. Und Blutkrusten an den Händen.

»Hast du denn kein Handtuch?«

Der dicke Mann erstarrte. Natürlich, in den vergangenen Stunden, in denen er sich darauf beschränkt hatte, seinen Körper rhythmisch vor und zurück zu wiegen und dabei vielleicht ein weiteres verschüttetes Stückchen Erinnerung an die Oberfläche seines Bewusstseins zu schütteln, war nicht nur das Meer ein wenig auf ihn zugekommen und die Sonne ein Stückchen höher in den Himmel geklettert. Der Strand rund um ihn her hatte sich auch belebt, Menschen hatten ihre Decken und Badelaken ausgebreitet, sich zuerst zögernd und dann immer freimütiger bis aufs Schwimmzeug entblößt und ihre nussbraunen, madenweißen oder himbeerrosa Körper den wechselseitigen Blicken und den Sonnenstrahlen dargeboten. Längst war das Fleckchen Sandstrand, auf dem er am Morgen noch mutterseelenallein gehockt hatte, von anderen Badegästen umgeben, umringt, umzingelt. Förmlich eingekesselt. Nicht, dass er das nicht wahrgenommen hätte, nur hatte er es irgendwie ausgeblendet. Bis jetzt.

»Und hast du denn auch keine Badehose?«

Ein Schwall Sand prickelte über seinen rechten Oberschenkel. Langsam drehte er seinen Kopf auf dem dicken, kurzen Hals, peilte misstrauisch aus den Augenwinkeln.

»Was machst du denn eigentlich hier, wenn du kein Handtuch und keine Badehose hast?«

Die Kleine mochte sechs Jahre sein, vielleicht acht, älter auf keinen Fall. Dafür reichlich altklug. Wie sie da stand, das rundliche Kinn vorgestreckt, die Ellbogen angewinkelt, beide Fäuste in die babyspeckigen Hüften gestemmt, hätte sie gut und gerne eine amtlich bestallte Strandaufseherin sein können. Vielmehr die Karikatur einer solchen, angefertigt für die tägliche Kinderseite der Badezeitung.

»Klar hab ich Badesachen«, sagte der dicke Mann, einfach um etwas zu sagen.

»Und wo sind die?« Die Kleine erwies sich als hartnäckig. »Warum hast du deine Badehose denn nicht an? Warum sitzt du einfach so im Sand, wenn du ein Handtuch hast oder ein Badelaken? Und wo hast du das alles denn überhaupt?«

»Da drüben«, log er und wedelte mit der linken Hand vage nach links, zur anderen Seite des Strandgetümmels. »Hab mich noch nicht umgezogen. Wollte erst mal gucken.«

Der Kleinen schien das einzuleuchten. Sie nickte ernsthaft, wobei ihr das blendend weiße Sonnenhütchen tief in die Stirn rutschte. »Bist du denn ganz allein hier?«

Der dicke Mann seufzte leise. »Ich glaube schon«, antwortete er. »Jedenfalls habe ich noch keinen gesehen, der zu mir gehört.«

Wieder nickte das Mädchen. Offenbar hatte der dicke Mann genau den richtigen Ton getroffen. Das erstaunte ihn, denn er war nicht davon ausgegangen, besonders viel Erfahrung im Umgang mit Kindern zu haben. Aber was wusste er schon über sich?

Die Kleine trug tatsächlich einen Bikini. Das mintgrüne Höschen war ebenso mit einer gewellten Blümchenborte verziert wie das gleichfarbige Oberteil, das nichts anderes zu halten hatte als sich selbst. Eigentlich Blödsinn, Kinder in diesem Alter derart aufzuzäumen. Aber vermutlich konnten manche Eltern ihre Töchter gar nicht früh genug ins Rollenschema pressen.

Die Kleine musterte ihn weitaus unverhohlener als er sie. Anscheinend war sie mit dem Resultat ihrer Betrachtung zufrieden, denn sie fragte: »Kommst du mit ins Wasser? Mami und Papi haben noch keine Lust, und alleine traue ich mich nicht.«

»Aber ich habe doch meine Badehose noch gar nicht an«, versuchte er sich halbherzig herauszureden. Ein Fehler, wie ihm sofort klar wurde, denn mit Halbherzigkeiten war bei der kleinen Bikiniträgerin nicht durchzukommen.

»Die kannst du dir doch holen«, schlug das Mädchen vor, sichtlich froh, dass er nicht sofort und prinzipiell abgelehnt hatte. Ihr pummeliges Händchen wedelte vor seiner Nase herum, wies auf die andere Strandseite: »Von da hinten, wo du gesagt hast. Und dein Badelaken auch. Dann tust du dir dein Laken um und ziehst dir deine Badehose an, und dann gehen wir schwimmen.« Sie musterte ihn mit gekraustem Näschen: »Du hast doch ein Laken, das um dich rum passt, oder?«

»Gute Frage«, brummte er. Da hatte er sich ja in eine verteufelte Lage hineinmanövriert! Wo er doch weder Badehose noch Laken besaß, jedenfalls nicht jetzt und hier.

Andererseits …

Ewig hier sitzen bleiben und mit dem Oberkörper wackeln konnte er sowieso nicht. Irgendetwas musste er unternehmen. Er musste hier weg, und solange er nicht wusste, was von ihm selbst, der Beule an seinem Kopf und den Krusten an seinen Händen zu halten war, tat er bestimmt gut daran, möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Und ein dicker Mann in Badehose und mit einem Badelaken über der Schulter fiel hier am Strand mit Sicherheit weniger auf als einer in Unterwäsche. Ein von der textilen Seite her betrachtet kleiner, aber feiner Unterschied.

Und mit einem kleinen Mädchen im geblümten Mintbikini an seiner Seite konnte er sogar von einer perfekten Tarnung sprechen.

»Na gut, überredet«, sagte er und wuchtete sich mühsam aus der Kuhle, die sein Hintern in Stunden des Wiegens in den Sand gedrückt hatte. Eine wahrlich imposante Vertiefung. »Komm, wir holen meine Sachen. Da hinten müssen sie irgendwo liegen.«

Die Kleine klatschte begeistert in die Hände, dass die Sandkörnchen nur so stoben, und tanzte ausgelassen um ihn herum. Als er sich in Bewegung setzte, nach links, weg vom mutmaßlichen Lagerort des schwimmunwilligen Elternpaares, angelte das Mädchen nach seiner Hand und packte, da sie sich als zu dick erwies, energisch Mittel- und Zeigefinger. Jetzt wurde ihm doch etwas mulmig, aber für einen Rückzug war es zu spät.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er. Und biss sich auf die Lippen.

Sie aber schien die Frage dem derzeitigen Stand ihrer Beziehung angemessen zu finden. »Binki«, antwortete sie. »Von Bianca. Aber Bianca finde ich doof, Binki ist besser. Und du?«

Na klar. Das hatte ja kommen müssen. Er zögerte nur einen Augenblick, dann sagte er fest: »Kurt. Ich heiße Kurt.« Und wenn er auch niemals so geheißen hatte, jetzt jedenfalls hieß er so.

Wie einen Radarstrahl schwenkte er seinen Blick suchend über den Strandsektor in ihrer Gehrichtung hin und her. Was er jetzt brauchte, war ein verlassenes Badelaken, und zwar eins, auf dem eine Herrenbadehose in ausreichender Größe lag. Wie groß mochte die Wahrscheinlichkeit sein, auf genau diese Konstellation zu stoßen? Gar nicht einmal so klein, entschied er. Schließlich dominierten um diese Jahreszeit die etwas älteren Kurgäste, und die älteren waren statistisch gesehen doch auch etwas kräftiger um die Körpermitte. Außerdem standen ältere Menschen in der Regel zeitig auf, gingen früher als andere an den Strand, schwammen früher und entledigten sich demzufolge auch früher ihrer nassen Badekleidung, um sich keine im Alter empfindlicher werdenden Körperteile zu verkühlen. Und weil Bewegung an frischer Luft und im kühlen Nordseewasser hungrig und durstig macht, war die Wahrscheinlichkeit, dass besagte ältere Menschen mal eben den nächsten Kiosk, einen Imbiss oder das Klohäuschen aufsuchten und zwar nicht ihre Wertsachen, wohl aber Laken und nasse Hosen ein paar Minuten unbeaufsichtigt ließen, durchaus …

Na bitte! Schon war er fündig geworden. Von einem gelb-rot-blau gestreiften Laken leuchtete ihn eine orangefarbene Badehose in großzügigem Bermudaschnitt geradezu an. Direkt daneben lag ein zerknülltes dunkellila T-Shirt, ebenfalls feucht. Mit etwas Glück bescherte ihm beides zusammen ein gesellschaftsfähiges Strand-Outfit.

Verstohlen sicherte er nach beiden Seiten: Niemand schien sich um das verwaiste Laken zu kümmern, keiner im näheren Umkreis strebte erkennbar darauf zu. »Hier, Binki«, sagte er. »Das sind meine Sachen.«

»Fein«, jubelte das Mädchen. »Dann beeil dich mit dem Umziehen.«

Mit unguten Gefühlen bückte er sich, jeden Augenblick damit rechnend, ein »Was machen Sie denn da?« oder, noch schlimmer, ein »Haltet den Dieb!« in die Ohren geknallt zu bekommen. Aber nichts geschah, als er nach der grellfarbenen Badehose griff und sie prüfend mit den Fingern auseinander spreizte. Na, groß genug schien sie jedenfalls zu sein. Also los.

Er warf sich das lila T-Shirt über die Schulter, ergriff das Badelaken und schlang es sich um die ausgebeulte Taille. Kleiner hätte das Tuch wahrhaftig nicht sein dürfen; nur mit Mühe bekam er die Enden verknotet. Vorsichtig begann er, im Sichtschutz des Lakens seine Unterhose abzustreifen, was sich als gar nicht so einfach erwies. Endlich aber hatte er das Ding bis zu den Knöcheln hinabgerollt. Er kickte es weg, balancierte auf einem Bein und schickte sich an, den rechten Fuß in die Badehose einzufädeln.

»Binkiii!«

Der Schrei hätte ihn fast aus dem Gleichgewicht gebracht, auch wenn er ganz anders klang als befürchtet. Kein kräftiger, erboster Mann war es, der da schrie, weil sich jemand an seinem Eigentum vergriffen hatte. Sondern eine Frau. Eine Mutter in höchster Panik.

»Binki, was macht der Mann da mit dir?!«

Erschrocken stieß er seinen rechten Fuß in den Badehosenbund, wechselte das Standbein, schob den linken Fuß hinterher, tastete mit dem großen Zeh nach dem richtigen Hosenbein. Und verhedderte sich. Verbissen um seine Balance kämpfend, hopste er im weichen Sand hin und her. Endlich waren beide Beine richtig positioniert, endlich, endlich konnte er die Hose hochziehen und sich aus seiner misslichen Selbstfesselung befreien. Schon …

Da löste sich der Knoten, der das Badelaken mehr schlecht als recht zusammengehalten hatte, und das bunte Tuch sank in den Sand.

Das Gebrüll schwoll zu ohrenbetäubender Lautstärke an. »Sie gemeiner Schweinekerl!«, kreischte die Frau. »Gehen Sie weg von meinem Kind!«

Panisch riss er an der Badehose, deren feuchter Innenslip sich einfach nicht über seine stämmigen Oberschenkel ziehen lassen wollte, und sprang von einem Bein auf das andere, während sich eine leuchtend rote, laut schreiende Gestalt in sein Blickfeld drängte. Sein Geschlecht begann munter zu pendeln. Jetzt brüllte auch Bikini-Binki, und um sie und ihn herum wurden die fragenden und verärgerten Ausrufe zahlreicher.

Endlich war die Hose oben. Der Mann, der sich Kurt nannte, raffte Laken und T-Shirt zusammen und rannte los, so schnell es der tiefe Sand und sein schwerer Körper eben zuließen, in Richtung Dünen, bloß weg von dem fürchterlichen Geschrei.

 

»Polizei« war eines der letzten Worte, die er noch deutlich verstehen konnte, ehe die allgegenwärtige Brandung alles verschluckte und mit ihrem gleichförmigen Rauschen überdeckte. Zwar keuchte er schon bedenklich, dieses Wort aber verlieh ihm die zweite Luft. Bloß das nicht, bloß keine Polizei. Das fehlte noch, als Sittenstrolch gepackt zu werden, ohne zu wissen, ob … Und was das mit dem Blut an seinen Händen auf sich hatte und mit allem anderen.

Seine Unterhose, die er im Sand hatte liegen lassen, fiel ihm erst einige Zeit später wieder ein.