Das schöne Fräulein Li

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Als der Wirt unaufgefordert das dritte Bier hinstellt, überlegt Kappe kurz, bevor er trinkt, dann aber setzt er an zu einem so großen Schluck, dass er durch das sich schnell leerende Pilsglas hindurch leicht verzerrt sieht, wie sich eine Tür zum Nebenraum öffnet, der Geruch, den er noch immer nicht bestimmen kann, intensiver wird und ein Chinese mit einem vollen Tablett in den Gastraum trippelt. Kappe beobachtet, wie er behende Schüsselchen und Schälchen auf den Tischen verteilt. Unter dem heißen Dampf, so erkennt Kappe, ist die Hälfte der Schüsseln mit Reis gefüllt, die übrigen mit einem undefinierbaren, gulaschähnlichen, rostbraunen Etwas.

Früher wurde er von seinem Vater immer gerügt, wenn er heiße Suppe schlürfte, beim Essen schmatzte oder gar, was dann postwendend mit einer Ohrfeige quittiert wurde, am Tisch rülpste. Hier hätte sein Vater, der Fischer, sämtliche Kollegen mitbringen können, und alle wären damit beschäftigt gewesen, reihum die Gäste zu bestrafen.

Kappe schaut interessiert von einem zum anderen der sich mit Stäbchen den Reis und das Soßenfleischgemisch in den Mund schaufelnden Gäste, als wäre er mit Margarete und Hartmut im Zoo bei der Raubtierfütterung.

«Det Essen machen die schon selba, die ham von mir ’n Nebenzimmer bekommen, und was die da machen, is nich mein Bier, die zahlen ja ooch dafür», erklärt der Wirt.

Tatsächlich, am Ursprungsort des Geruches, den der Wirt dem neugierigen Kappe nun zeigt, stehen vier kleine kichernde Chinesinnen vor großen Blechtöpfen, in denen es noch immer brodelt und vollkommen ungewohnt riecht.

Wonach, will Kappe wissen, das kann doch nicht nur vom Maggi kommen, das neben den Töpfen steht und eifrig als Sojasoßenersatz benutzt wird.

Der Wirt zuckt mit den Schultern. «Chinesisch eben!» Und fragen kann er die Köchinnen nicht. «Die können nich sprechen, ick meene, nich richtich, also nich unsere Sprache.» Er erzählt Kappe, dass die anderen meist auch nicht viel besser sprechen. «Die können grade mal mit Händen und Füßen handeln und ’n paar Zahlen. Die können ‹Bier› und ‹Bitte› sagen, ‹Danke› und ‹Scheene Frau›. Dat war’s dann aber ooch schon.»

Das sind ja allerbeste Aussichten für erfolgreiche Vernehmungen, denkt Kappe.

Als könne er Gedanken lesen, meint der Wirt, es gebe einen, der für schmales Geld zuverlässige Dolmetscherdienste leiste, der werde sogar von der Ausländerpolizei in Anspruch genommen und manchmal auch vom Gericht. Mit einem Kopfnicken deutet der Wirt auf einen Tisch in der hinteren Ecke, wo zwei junge Männer gerade die letzten Reiskörner aus der mit der linken Hand angehobenen Schüssel mit Stäbchen in den Mund schieben.

Nach einer weiteren Kopfbewegung des Wirtes steht einer der beiden vor Kappe. «Ich bin Herr Tam. Guten Tag, mein Herr! Ich studierte Deutsch in Shanghai und bin Ihnen gern zu Diensten.»

«Na ja, nu mal nich so förmlich, mein Junge!», meint Kappe und klopft ihm auf die Schulter.

Damit ist Tam engagiert.

Tam ist klein und drahtig. Er hat die Figur derjenigen Akrobaten, die bei Menschenpyramiden immer ganz oben stehen. Nachdem er vor vier Jahren seine Tante in Berlin besuchte, blieb der in Shanghai Geborene in Berlin hängen. Er schlage sich so durch, sagt er. Das gehe schon. Er habe auch ein offizielles Papier, das ihm bescheinigt, als Dolmetscher arbeiten zu dürfen. Und er interessiere sich für Politik, dafür sei Berlin gut.

Es gebe hier einige der in der Kommunistischen Partei aktive junge Chinesen, erzählt er Kappe auf dem Weg durchs gelbe Viertel, während Kappe versucht, dem acht Jahre Jüngeren nach drei großen Bieren und einem Korn körperlich und geistig zu folgen.

«Bei uns in Shanghai ist alles noch schlimmer. Voller. Menschen wie Ameisen», sagt Tam und lacht. Er lacht so wie die Chinesen, die Kappe auslachten, als er die Dusche abbekam: laut, hoch und schrill.

Kappe schwitzt, als sie endlich am Ende der Andreasstraße vor einem armseligen, aber recht ordentlichen Mietshaus ankommen.

Neben der Einfahrt ist rechts und links je ein Torpfosten in hellem Grün gestrichen. Darauf hat jemand kunstvoll rote chinesische Zeichen gepinselt. Darunter steht klein und auf Deutsch: Wong, 2. Hinterhof.

Er wohne im Vorderhaus, erklärt Tam, aber sein Lager sei im Hof, und dort sei er sicher noch zu finden.

Kappe folgt Tam durch die Toreinfahrt.

Es ist inzwischen dunkel geworden. Tam zieht ihn am Ärmel und bedeutet ihm aufzupassen.

Und tatsächlich wuseln schon im ersten Hof kleine Chinesen mit Karren und Kisten, mit Säcken auf den Schultern und Kindern im Arm so flink umher, dass Kappe aufpassen muss, mit keinem zusammenzustoßen. Während der Deutsche am Sonntage ruht, der Chinese flink seine Pflichten tut, dichtet er in Gedanken.

Am Eingang zum zweiten Hof kommt es zu einem kurzen, heftigen, lautstarken Disput zwischen Tam und zwei stämmigen kleinen Chinesen, die einem Ringverein angehören könnten und augenscheinlich nicht vorhaben, ihren Landsmann und Kappe durchzulassen.

Zunächst hält Kappe sich aus dem Streit heraus, schaut sich im Hof um und sieht, dass neben den Kisten ein NAG parkt. Einer vom Typ C4b. Bordeauxrot. So wie der, der ihn fast umgefahren hätte.

Tam bittet Kappe, seinen Polizeiausweis vorzuzeigen.

Die beiden Türsteher begutachten ihn im Schein der Petroleumlampe und bedeuten den Besuchern zu warten.

Es dauert. Fünf Minuten bestimmt, bis ein in hellgrünem Baumwollkittel und hellgrünen weiten Hosen gewandeter Chinese kommt.

Ein schöner Schlafanzug, schießt es Kappe durch den Kopf. Der Diener lässt Tam übersetzen, dass Herr Wong bereit sei den Kommissar zu empfangen.

Der Gang, durch den sie sich schlängeln, ist nicht für Gegenverkehr ausgelegt. Links und rechts ist er von sich stapelnden Holzkisten mit chinesischer Aufschrift begrenzt. Als Kappe in einem Seitengang Kartons sieht, auf denen in deutscher Sprache geschrieben steht Vorsicht, zerbrechlich!, bleibt er stehen und will sie sich näher ansehen, doch Tam drängt zur Eile, und auch der Hellgrüne stößt bereits Laute aus, wie es sonst nur Galeerenantreiber tun. Kappe bleibt nichts anderes übrig, als zu folgen.

Schließlich, auf einer Empore des Lagerraums, sieben eiserne Stufen über dem Boden, residiert Herr Wong an einem alten eichenen Schreibtisch. Er erhebt sich, als Kappe und Tam kommen, wechselt erst ein paar Worte auf Chinesisch, bevor er, sich zu Kappe wendend, sagt: «Willkommen, mein Herr! Schauen Sie sich ruhig um! Hier arbeiten ehrliche kleine Leute. Einer von ihnen musste heute gehen. Für immer.»

«Ja, das tut mir leid! Deshalb bin ich hier. Wir werden den Mörder finden!», entgegnet Kappe.

«Das hoffe ich. Wir suchen auch.»

«Wer ist wir?», fragt Kappe.

Wong spricht auf einmal in Chinesisch weiter.

Tam übersetzt, dass er sich nicht so gut in der deutschen Sprache ausdrücken könne.

Wong redet und redet, er wird laut und leise, seine Stimme wird schrill und tief, mehrmals fasst er Tam am Arm.

Selbst wenn Kappe ganz nüchtern wäre, so einem Redeschwall könnte er auch auf Deutsch nicht folgen.

Kurz hält Wong inne, dreht sich zur Seite, spuckt auf den Boden, dann fährt er in unverminderter Geschwindigkeit und Lautstärke fort.

Kappe hat Gelegenheit, den Chinesen zu mustern. Obwohl er gepflegter ist als die anderen, die er in der Gaststätte sah, erscheint Wong grobschlächtig, nicht nur wegen der weit außen liegenden Backenknochen und der flachgedrückten Nase, auch wegen seiner brutal wirkenden Art zu sprechen. Wie eine knurrende Bulldogge bellt er die Worte seinem Gegenüber ins Gesicht. Kein Sympath. Mit lautem Husten und erneutem Auf-den-Boden-Spucken versiegt seine Rede. Er schaut Kappe an, als erwarte er eine Antwort. Dann lacht er, so wie die anderen Chinesen auch. Nicht tief, wie es zu seinem massigen Körper passen würde, nein, hoch, schrill und laut.

«Der Herr lacht, weil er dachte, Sie würden verstehen und könnten antworten. Aber ich muss ja übersetzen», erklärt Tam. «Der Herr sagt, dass er sehr traurig über den Tod von Herrn Keung ist und auch wütend auf die Täter. Aber er hat keinen Verdacht und auch keine Ahnung, wer es getan haben könnte. Herr Keung sei ein guter Händler gewesen, er habe keine Feinde gehabt, keinen Ärger, er stammte aus demselben Heimatort wie er, aus Wenzhou.» Etwas leiser fügt Tam hinzu: «Das ist nur etwa einhundert Kilometer entfernt von Qingtian, woher Herr Li, sein Konkurrent stammt.»

Als Wong den Namen Li hört, stimmt er einen kurzen lauten Schimpfakkord an.

Tam aber fährt ungeachtet dessen mit seiner Übersetzung fort:«Herr Keung habe hier im zweiten Stock gelebt, und der Herr werde nun den Angehörigen Geld für die Trauerfeier schicken. Aber mehr kann er nicht sagen.»

Kappe will wissen, ob Keung bei Wong angestellt gewesen war und ob man die Unterkunft des Toten sehen könne.

Nach erneutem Hin- und Zurückübersetzen erklärt Tam, dass Herr Keung, wie die anderen Händler auch, selbständig gewesen sei. Aber er habe von Wong die Waren bezogen, teilweise auch auf Kredit. Dafür durfte er nur Wong-Waren verkaufen und auch nur in dem Revier, das ihm Wong vorgab.

Kappe merkt, dass Tam nun Dinge erklärt, die Wong gar nicht gesagt hat.

Nervös drückt Wong mehrmals einen Steinstempel in bröckelige rote Farbe, bevor er damit irgendwelche Papiere markiert. Dann drückt er ihn wieder in das bröckelige Rot.

Der Jade-Stein, der als Stempel dient, und die arterienblutrote Masse, die von Wong immer wieder mit dem Stein traktiert wird, lässt Kappe an den Toten denken, an dessen Anhänger, der ihm mehrmals ins blutige Brustbein getreten worden war. «Der Herr weiß nicht mehr. Aber wir können uns das Zimmer des Toten ansehen», sagt Tam schließlich.

 

Als sie gehen wollen, dreht sich Kappe nochmals um und bittet Tam zu fragen, ob der schicke Flitzer im Hof Herrn Wong gehöre.

«Der Herr sagt ja, das ist sein Auto, ein deutsches Auto, ein gutes Auto. Er ist stolz auf diese Technik», übersetzt Tam.

«Nicht billig!», meint Kappe.

«Billig ist nicht gut! Teuer ist deutsch und gut! Wir arbeiten gut und viel und hart und verdienen Geld für gutes Auto», sagt nun wieder Wong, ohne dass Tam übersetzen muss. «Wenn Sie wollen, ich zeige Ihnen.»

«Nein danke! Sehr liebenswürdig!» Kaum hat Kappe das gesagt, ärgert er sich. Einmal in so einen Wagen zu schauen wäre ja noch keine Bestechlichkeit gewesen.

Im Gänseschritt marschieren Tam und Kappe hinter dem hellgrün gekleideten Diener in den zweiten Stock des linken Seitenflügels, vorbei an immer noch emsig stapelnden und auspackenden Chinesen.

Keung wohnte gemeinsam mit drei anderen Chinesen in zwei Zimmern, jedes etwas größer als Kappes Küche. Die Bewohner teilen sich mit den zwei gegenüberliegenden Zimmern eine Kochecke und ein Klo eine halbe Treppe tiefer. Von den Mitbewohnern sind nur zwei da, die kaum Deutsch sprechen.

«Gute Ware!» und «Billiger Preis!». Mit diesen Worten begrüßen sie Kappe. Allzu sehr scheinen sie nicht um Keung zu trauern. Erst als Tam erklärt, es gehe nicht ums Kaufen und Feilschen, und er nach Keung fragt, sagen sie, jeder hätte sein Revier gehabt. Keung sei seit Jahren im Kreuzberger Wrangelkiez unterwegs gewesen. Sie verkaufen in Wedding am Sparrplatz und in Moabit.

«Sie sagen, sie hätten sich nur mal zum Mahjong oder zum Essen getroffen und nicht viel gesprochen. Herr Keung sei ein liebenswerter Mensch gewesen. Er habe auch nicht geschnarcht.»

Ein nachvollziehbares Mordmotiv ist also auszuschließen, denkt sich Kappe. Mehr aus Routine als aus Wissbegierde lässt er Tam fragen, wo die beiden anderen Mitbewohner zur Tatzeit am gestrigen Abend gewesen seien.

«Beide sagen, sie seien hier gewesen», übersetzt Tam, «zu Hause! Hätten gekocht mit den Bewohnern von gegenüber. Diese könnten das bestätigen.»

Kappe verzichtet darauf. Ein solches Alibi ist es nicht einmal wert, verifiziert zu werden. Er hat genug. Genug gehört und genug gesehen in den heruntergekommenen Kammern, wo es für die Kleider nur Truhen gibt und wozwischen den großen Kollektionskoffern, dem Bett und den drei Stühlen kaum noch Platz auf dem Boden ist. Aber selbst dieser Platz wird genutzt: als Ablage für verschmutzte Wäsche, für halbvolle Teetassen und volle Aschenbecher. Es riecht ein bisschen nach Gewürzen wie in der Eckkneipe. Allerdings vermischt sich hier dieser Geruch mit körperlichen Ausdünstungen ungewaschener Männer. Kappe will weg. Schleunigst.

Vor der Tür verabschiedet er sich von Tam. Er sagt ihm, er möge morgen Vormittag aufs Polizeipräsidium kommen, damit man einen Vertrag fürs Dolmetschen machen könne, und er möge seine Papiere mitbringen.

Auf dem Weg zum Schlesischen Bahnhof sieht Kappe, wie junge Chinesen mit deutschen Mädchen flachsen, ein älterer Deutscher mit drei jungen Chinesinnen plaudert und ein deutsch-chinesisches Paar Arm in Arm flaniert, als seien das hier die Linden.

Watteweichwarm. So fühlt er sich. Das Federbett, das seine Klara vor der Hochzeit noch günstig im Kaufhaus Rudolph Hertzog erstanden hatte, liegt leicht über Kappes nacktem behaartem Oberkörper.

War doch recht spät geworden gestern Abend. Auf dem Heimweg hätte er besser nicht noch mal einkehren und noch ein Bier trinken sollen. Klara hatte schon geschlafen, und er hat sich nicht mehr komplett ausgezogen.

Nun schmiegt er seinen Kopf in den Zufluchtsraum aller Männer, die nicht denken, nicht reden und am liebsten im Boden versinken wollen: zwischen die Unterseite des Kinns der geliebten Frau – oder wenigstens derjenigen, mit der man das Bett teilt – und dem Beginn der Brustebene oberhalb des Busens. Wer Glück hat, und Kappe kann in dieser Beziehung nicht klagen, spürt mit seinem unrasierten Kinn noch die oberen Ausläufer warmer, weicher weiblicher Rundungen.

Bei Klara gibt es für Kappe stets etwas zu spüren, sie ist üppig gebaut. Nur leider nachts immer brav in dicke, baumwollene Nachthemden eingepackt.

Trotzdem! Kappe kuschelt sich an diesem Morgen ganz besonders gern in diesen vom weiblichen Körper geformten Zufluchtsraum, der einen Augenkontakt unmöglich macht. Auch dann, wenn es die Frau darauf anlegt – so wie jetzt Klara, die, nachdem der Wecker bereits heftig klingelte, ohne bei Kappe auch nur die geringste Reaktion hervorzurufen, wissen will, wo er denn so lange gewesen sei. Sie kneift ihn dorthin, wo er sich früher sportlich durchtrainiert anfühlte.

«Morgen», brummt Kappe, ohne mit seinem Kopf den sicheren Raum zu verlassen.

«Und?», fragt Klara.

Bei so einem spitzen «Und?» ist es taktisch sinnvoll, schnell und umfassend zu antworten, hat Kappe gelernt. «War noch ermitteln … im Chinesen-Viertel … Dieser Mord, du weißt schon … Alles knifflig … Von Canow will schnell Ergebnisse haben.»

«Aber nicht Sonntagnacht!»

«Doch!», entgegnet Kappe.

«Und die Vernehmungen finden dann bei Bier und Buletten statt – oder wie? Du hast geduftet wie ’ne ganze Eckkneipe, als du

kamst.»

«Ach, warst du noch wach? Wusst ich nicht. Ja, ich musste dahin.»

«War ich, ja, aber du hast ja nichts mitbekommen.» Kappe versucht, Klara einen Kuss auf den Mund zu geben. Aber er trifft nur ihre Wange. Zu schnell hat sie sich weggedreht.

Gut, er hat auch immer Kinder gewollt. Nun ja, eigentlich hat er sich nie so richtig Gedanken darüber gemacht. Es gehört einfach dazu, welche zu haben. Aber dieses frühmorgendliche Gequäke, dieses frühe Wach- und Fröhlichsein, das kann Kappe noch immer nicht verknusen. Nun aber freut er sich ausnahmsweise, als er das Rütteln an der Schlafzimmertür und die hohen Stimmen von Margarete und Hartmut hört. «Die Kinder!», sagt er. Eine effiziente Methode, um jedes Gespräch abzuwürgen.

«Ich geh schon! Die sollen dich nicht so sehen. Komm erst mal zu dir!» Mit diesen Worten springt Klara aus dem Bett, schlüpft in ihren Bademantel und ist auch schon zur Tür hinaus.

Gleich wird Klara wieder vor ihm stehen, denkt er, und ihm eine Predigt halten, dass er aufstehen müsse. Er wird dann sagen, er wolle nur noch einen kleinen Moment «nachdenken». So nennt er das immer, wenn er noch im Bett bleiben will. Klara wird, wenn sie gut gelaunt ist, darauf eingehen und sagen, er solle im Präsidium weiterdenken, denn dort werde er dafür bezahlt, oder sie wird einfach nur sagen: «Raus jetzt!»

Was sie an diesem Morgen sagt, bekommt er nicht so genau mit. Er weiß nur, dass sämtliche Informationen, die in seinem Kopf ankommen, langsamer verarbeitet werden als sonst. Deshalb braucht er auch am Küchentisch einen Moment länger, um die Tragweite des Satzes von Klara zu verstehen, die sagt: «Am Freitag beginnt im Graphischen Kabinett Neumann eine Ausstellung von Max Beckmann. Die könnten wir uns doch ansehen, und dann könnten wir uns gleich mal nach ’ner besseren Wohnung umsehen, dort im Westen. Du hast es mir ja versprochen.»

Eigentlich wollte er seit dem Eheversprechen kein weiteres Versprechen leichtfertig abgeben, aber er erinnert sich dunkel daran, mal gesagt zu haben, man könne über einen Umzug reden. Mehr aber nicht. Nur weil da diese Angeber wohnen, will Klara da auch hin. Ausgerechnet sie, eine ehemalige Verkäuferin aus dem Kaufhaus. Sie weiß, dass George Grosz mit seiner Frau Eva Peters an den Hohenzollerndamm 201 gezogen ist. Sie weiß, dass es vor zwei Jahren die erste internationale Dada-Messe in Berlin gab. Diese Reichswehr-Beleidiger, diese Klassenhass-Aufstachler mussten ja zahlen dafür: Verleger Herzfelde sechshundert und Grosz dreihundert Mark, wenn sich Kappe recht erinnert. Und ausgerechnet seine Frau muss solche hässlichen Gestalten auf Bildern gut finden, solche ätzenden Karikaturen kahlköpfiger Kriegsgewinnler und verstümmelter Kriegsheimkehrer, die blind und amputiert Streichhölzer feilbieten. Hätte sie nur vor zwei Jahren Hartmut nicht im Urban bekommen! Sie hätte Ruth, die andere Mutter im Krankenzimmer, nie kennengelernt, diese Kunst-Amsel, die im Malik-Verlag arbeitet. Naja, nun war es eben so.

Bevor er weiterdenken und an einer Antwort tüfteln kann, kommt der nächste Satz von Klara, kaum dass sie ihren Marmeladenbrotbissen hinuntergeschluckt hat: «Vielleicht ist ja auch Die Nacht von ihm zu sehen, ein schreckliches Bild, aber so authentisch. Findest du nicht auch? Oder was Neues. Ach, ich bin ja so gespannt!»

Kappe mag Max Beckmann eigentlich gar nicht. Verdrehte und abgetrennte Gliedmaßen kennt er aus der Gerichtsmedizin, hässliche Fratzen aus dem Vernehmungszimmer. «Ja, vielleicht …»

In diesem Moment wirft Hartmut die Tasse Milch vom Tisch. «Hartmut, pass doch auf! Ich hab zigmal gesagt, du sollst nichts an den Rand stellen.» Klara ist sauer. Sie räumt den Schlamassel weg. Als sie vor Kappe auf den Knien die Milch aufwischt, sagt sie trotzig: «Ich mag aber Beckmann, und ich will da hingehen!»

«Gut, wir reden noch mal drüber. Und versprochen, ich schau mich heute schon mal in deinem Kiez der Schönen und Reichen um. Vielleicht wird ja bald ’ne Wohnung frei, wenn ich den chinesischen Großhändler Li des Mordes überführen kann.»

«Mach dich nur lustig!», entgegnet sie.

«Nein, im Ernst! Der wohnt da, Kantstraße, und da muss ich wirklich hin, und vielleicht buchten wir ihn ja ein.» Mit diesen Worten und einem Klara auf die Stirn gehauchten Kuss ist Kappe weg.

Wenig später steht er verärgert an der Tramhaltestelle, als ihm einfällt, dass die Straßenbahnen noch immer nicht fahren. Nun muss er zum Alexanderplatz laufen.

«Na, zurück von der Reise ins Land der Schlitzaugen?» Mit diesen Worten begrüßt ihn Galgenberg.

Kappe erzählt vom Wochenende und erhofft sich ein wenig Anerkennung von dem älteren Kollegen.

Doch Galgenberg meint nur, solange man bloß zwei Kinder und nicht wie er fünf habe, könne man doch locker mal einen Sonntag dem Dienst opfern.

«Ja, einen Sonntag schon, aber nicht auch noch die Ehe.» Kaum hat er das gesagt, merkt Kappe auch schon, dass er zu viel preisgab von seinen Problemen, obwohl Galgenberg manches Mal schon als väterlicher Berater, auch in Liebesdingen, fungiert hat. So schnell und so direkt hat er ihm eigentlich nicht sagen wollen, dass bei ihm der Haussegen schief hängt. Schnell versucht Kappe, das Thema zu umgehen, und erzählt seinem Kollegen von seinem Besuch bei Wong und davon, dass bald der Dolmetscher Tam erscheinen müsse.

Galgenberg bemerkt diesen abrupten Themenwechsel sehr wohl und sagt nur: «Ach, Klara wird sich schon wieder einkriegen. Du darfst den Chinesen-Fall auch nicht zu ernst nehmen.»

Anders als die Kriegsheimkehrer auf den Grosz-Bildern hat Galgenberg, zumindest äußerlich, nichts an der Front verloren, weder einen Fuß noch einen Arm oder ein Bein. Und seine Schussverletzung ist auch verheilt.

Dennoch, stellt Kappe immer wieder fest, ist er durch den Krieg ein anderer geworden. Er ist zynisch geworden. Manchmal kommt er Kappe geradezu defätistisch vor. Es scheint, als habe Galgenberg seine schützende Soldatenuniform, die sicher auch seine Seele umschloss, nicht mehr abgelegt. Sie ist festgewachsen, hat sich eingebrannt oder ist sonst wie dageblieben. Jedenfalls geht Galgenberg offenbar nichts mehr wirklich nahe. Das Mitgefühl mit Opfern, der Eifer, einen Fall zu klären, die Erschrockenheit über eine blutige Tat – alles weg. Früher hätte Galgenberg niemals gesagt, dass es doch genug Chinesen gebe drüben in Asien und dass es daher nicht so schlimm sei, wenn es einer weniger wäre, zumal die hier sowieso nur mit der deutschen Industrie konkurrieren. Nun aber tut er es, und Kappe schaut entsetzt von Kaffee und Lokal-Anzeiger auf. Außerdem versteht er den Seitenhieb auf die Industriekonkurrenz nicht.

Galgenberg merkt das. «Aber mein Junge, was würde unsere chemische Industrie machen, wenn sie kein Kokain mehr verkaufen könnte? Was, wenn hier in der Friedrichstraße, am Potsdamer Platz, im Femina, an der Goldelse plötzlich alle dem aufputschenden Kokain abschwören und zum Opium der Chinesen greifen würden? Wär doch schade um die schönen Nackttänzerinnen, die schnellen Radrennfahrer und die einfallsreichen Künstler, wenn ihnen allen der Kokain-Kick fehlen würde.» Galgenbergs schwerer Körper bebt vor Lachen.

Kappe findet das nicht lustig. Natürlich weiß er, dass es Opiumhändler aus Asien gibt und dass ohne Kokain, das offiziell nur auf Rezept in kleinen Mengen abgegeben werden darf, vieles anders wäre im Nachtleben Berlins. Aber es gibt nun einmal Apotheker und Ärzte, die es mit den Rezepten nicht so genau nehmen, und Kollegen bei den Behörden, auch bei der Polizei, die eben nicht alle Kraft darauf verwenden, die illegale Nutzung zu unterbinden. «Klar, wer will, soll sein Kokain schnupfen. Is mir schnuppe! Aber unser Fall hat nichts mit Rauschgift zu tun. Ich hab das ärmliche Zimmer gesehen. Der hat Nippes an alte Mütterchen verscherbelt. Und außerdem, Mord ist Mord. Der muss aufgeklärt werden!», sagt Kappe aus Überzeugung.

 

«Nu mal janz langsam! Ich hab hier noch so viele Akten, fahr du mal zu dem Konkurrenten des Chinesen, für den das Opfer arbeitete.» Kappe ist froh, herauszukommen aus dem Präsidium. Mit der Hochbahn fährt er bis zum Savignyplatz und geht dann zur Kantstraße, in der Li wohnt.

Es sind hier schon feinere Herren und vornehmere Damen unterwegs als in seinem Kreuzberg.

Kappe genießt den kleinen Spaziergang, kauft sich unterwegs eine heiße Wurst und freut sich, dass er hier auf der Straße auch mal einen Mercedes oder gar einen Maybach sieht und nicht nur knattrige AGAs, also Wagen der Aktiengesellschaft für Automobilbau.

Herr Li ist das Gegenteil von Herrn Wong. Er ist klein, feingliedrig, schlank. Er wohnt nicht, nein, er residiert in der Beletage. Mit Stuck an den gut vier Meter hohen Decken, mit alten, ausgesuchten Möbeln auf dem Eichenparkett, mit Hausangestellten, die in anthrazitfarbene Uniformen westlichen Schnitts gekleidet sind und sich in vornehmer Zurückhaltung üben. Und das alles umgeben von einem exotischen Duft. Unaufdringlich, etwas süßlich, aber nicht zu schwer, leicht zedernhaft oder besser zitronenhaft, aber nicht sauer.

Herr Li, der tatsächlich, wie ihm Tam gesagt hatte, ausgezeichnet Deutsch spricht, bemerkt, dass sich Kappe umschaut und zu ergründen versucht, was in der Luft liegt. «Das ist unser Tee, grüner Tee! Ich bekomme ihn direkt von meinem Bruder aus China. Er ist rein, und so duftet er auch. Darf ich Ihnen eine Tasse

anbieten?»

«Gerne! Man muss Neuem aufgeschlossen sein.» Kappe ist stolz, statt «Ja, danke!» so einen dem Umfeld entsprechenden Satz zustande gebracht zu haben. Schließlich sitzt er Herrn Li in einem von vier mit schwarzem Kalbsleder überzogenen Sesseln gegenüber.

Eine junge Chinesin, deren dünne Arme Modell hätten stehen können für die feingliedrigen Henkel der Teetassen, schenkt ihm die heiße blassgrüne Flüssigkeit ein. Etwas, das Kappe noch nie getrunken hat. Nun, er ist sowieso kein begeisterter Teetrinker. Aber wenn, dachte er immer, dann trinkt man doch Kräutertee oder schwarzen Tee. Aber grünen? Kräftig sieht er jedenfalls nicht aus, findet Kappe. Und der Geschmack?

Herr Li, den Kappe auf Ende fünfzig schätzt, schaut mit seinen jugendlich-leuchtenden Augen interessiert durch seine Hornbrille, als sei es ein wissenschaftliches Experiment, einen untersetzten Berliner Kommissar grünen Tee trinken zu sehen.

Bitter, mein Gott, wie bitter, und das sieht man gar nicht, denkt Kappe, als er den ersten Schluck genommen hat. Aber er lässt sich nichts anmerken, lobt den Geschmack, trinkt – eigentlich nur, um die junge Chinesin noch zweimal ganz aus der Nähe sehen zu können – insgesamt drei Tassen und spürt hinterher, dass nicht nur Kaffee, sondern auch grüner Tee eine nicht zu unterschätzende aufputschende Wirkung hat.

Schließlich kommt Kappe zum Thema. Ob er oder jemand aus seiner Firma hinter dem Mord an Keung stehen könnte?

Absurd! Herr Li lacht darüber.

Er ist der erste Chinese, den Kappe kennenlernt, der anders lacht. Nicht so schrill, nicht so hoch und nicht so laut. Gesitteter, denkt Kappe. Er spuckt auch nicht auf den Boden. Schließlich liegen da teure Perserteppiche.

Li bemerkt Kappes Blick. «Das hier hat sich meine Familie alles erarbeitet. Wir sind die älteste hier ansässige Familie.»

«Sie verkaufen Tee?», will Kappe wissen.

«Nein, wir haben einen Großhandel für Steinschnitzereien, Porzellan und Lack.»

«Keinen Tee?», erkundigt sich Kappe erneut.

«Nein, denn anders als Ihnen schmeckt den meisten Deutschen unser gesunder grüner Tee offenbar nicht. Zudem ist es schwer, eine Genehmigung für den Lebensmittelverkauf von Haustür zu Haustür zu bekommen.»

«Und Sie vertreiben Ihre Waren über Händler?»

«Ja. Wie hier bei allen Großhändlern üblich, kümmern sich selbständige Händler um den Vertrieb.» Herr Li streicht sich durch die zurückgekämmten, pomadisierten Haare. «Aber nicht alle bieten wirklich chinesische Waren an. Manche verkaufen deutsches Porzellan, manche geben billige Steine als Jade aus, und wieder andere handeln gar mit Illegalem. Ich will dazu nicht mehr sagen. Ich sage Ihnen nur, wir sind eine honorige Familie.»

Der Satz klingt wie die Regierungserklärung eines Deutschnationalen, denkt Kappe. «Und wie ist Ihr Verhältnis zu Herrn Wong? Er ist doch der direkte Konkurrent von Ihnen.»

«Ach, Berlin ist groß. Da ist genug Platz für viele. Das Verhältnis ist gut. Was soll ich sagen?»

«Mit Wongs Vorgänger, hab ich gehört, haben Sie besser zusammengearbeitet. Er war noch ein Händler alten Stils. So wie Sie.» Kappe nutzt nun Informationen, die er von Tam erhalten hat. Aber wie er feststellt, nützen ihm diese bei einem so aalglatten Gesprächspartner wie Li nicht sonderlich viel.

«Ich kann Ihnen nicht folgen», entgegnet dieser.

«Na ja, früher war es ein Miteinander, wurde mir gesagt, zwischen Ihnen und dem anderen Großhandelshaus. Seit Wong es übernommen hat, wirbt er Ihnen Händler ab und macht Ihnen Gebiete streitig.»

«Nein, Herr Kommissar, so ist es nicht! Wenn Sie so was gehört haben, kann es sich nur um dummes Geschwätz handeln», wiegelt Li ab.

Nichts ist aus ihm herauszubringen, das spürt Kappe. Während er überlegt, wie er es anstellen soll, die 08/15-Frage, wo Li sich zur Tatzeit aufgehalten habe, zu stellen, wobei sich Kappe nicht vorstellen kann, dass dieser feine Herr des Nachts in Kreuzberg auf offener Straße einen Mann tottritt, sagt Li in die Gesprächspause mit einem offenen Lächeln: «Wenn Sie wissen wollen, und das wollen Sie sicher, wo ich zur Tatzeit war, kann ich Ihnen sagen, nachdem ich die Tatzeit aus der Zeitung erfahren habe, dass ich die Stunden des Abends mit einer reizenden jungen Dame verbrachte.» Li macht eine Pause und genießt den fragenden Blick im bärtigen Gesicht des durch den Tee etwas nervös gewordenen Kommissars Kappe. Dann sagt er jedoch: «Mit meiner Nichte.» Li greift zu einem kleinen silbernen Glöckchen und bittet die Chinesin mit den Teetassenarmen, seine Nichte zu holen.

Das hätte er nicht tun sollen. Herr Li hätte sie nicht rufen sollen, seine Nichte. Er, Kappe, hätte ihm das Alibi auch so geglaubt. Und hätte er Fräulein Li nicht gesehen, nie kennengelernt, sein Leben wäre ein anderes, ein ruhigeres gewesen.

Aber das kann er in dem Moment, in dem ein Flügel der großen, weiß lackierten Tür aufgeht, nicht ahnen. In diesem Moment spürt er nur, dass es ihn in der Magengegend zwickt. Ist es der Tee, ist es sein Herz, das tiefer rutscht, fragt er sich. Oder das Würstchen, dessen Zutaten vielleicht nicht ganz frisch waren oder womöglich nicht einmal von Tieren stammten? Aber der Frauenmörder und Fleischer Karl Großmann, die»Bestie vom Schlesischen Bahnhof«, sitzt ja schon in Untersuchungshaft, beruhigt sich Kappe. Verrückt, was ihm in diesem Moment alles durch den Kopf schießt. So viel, dass er sich nicht rechtzeitig erheben und vorstellen kann.

«Das ist Lienhwa Li, meine Nichte», sagt Herr Li. «Sie studiert hier an der Hochschule für Politik gemeinsam mit meinem Sohn.» Und dann zu seiner Nichte geneigt: «Und dies, liebe Lienhwa, ist Kommissar Hermann Kappe.»