Vom Stromkartell zur Energiewende

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3. Die Rechtslage nach den Volkskammer-Gesetzen

Die grundlegenden Regeln für die erforderliche Vermögensausstattung der Kommunen wurden mit dem Treuhandgesetz, dem „Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens“ vom 17.6.1990 geschaffen. Am 1.3.1990 beschloss der Ministerrat der DDR „zur Wahrung des Volkseigentums“ die Gründung der Treuhandanstalt, die in Treuhandschaft über das volkseigene Vermögen verfügen sollte, das sich im Besitz von Betrieben, Einrichtungen und Kombinaten sowie wirtschaftsleitenden Organen und sonstigen im Register der volkseigenen Wirtschaft eingetragenen Wirtschaftseinheiten befand. Ebenfalls am 1. März wurde vom Ministerrat die Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften (UmwandlungsVO) beschlossen. Danach erhielten die unter Treuhandverwaltung befindlichen Wirtschaftseinheiten das Recht, sich in Aktiengesellschaften oder in Gesellschaften mit beschränkter Haftung umzuwandeln. Zur Umwandlung bedurfte es einer Umwandlungserklärung des umzuwandelnden Betriebes und der Treuhandanstalt als Übernehmende der Anteile. Nach dem „Statut der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“ vom 15.3.1990 war „Inhalt der Treuhandschaft ... die Verwaltung des volkseigenen Vermögens im Interesse der Allgemeinheit“. Am 17.6.1990 beschloss dann die Volkskammer das „Treuhandgesetz“.

Gleich am Anfang des Gesetzes hieß es, dass volkseigenes Vermögen nicht nur privatisiert, sondern in durch Gesetz bestimmten Fällen auch Gemeinden, Städten, Kreisen und Ländern sowie der öffentlichen Hand als Eigentum übertragen werden könne. § 1 Abs. 1 S. 3 lautete: „Volkseigenes Vermögen, das kommunalen Aufgaben und kommunalen Dienstleistungen dient, ist durch Gesetz den Gemeinden und Städten zu übertragen.“ Dieses Gesetz war das Kommunalvermögensgesetz vom 6.7.1990. Entwürfe dafür hatten die Fraktionen der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt. In der Begründung zum Entwurf des „Kommunalisierungsgesetzes“ aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hieß es, die Kommunalisierung sei ein Gebot der Demokratie. Städte und Gemeinden seien der tragende Teil der demokratischen Strukturen. Damit müsse ihnen auch die entsprechende Verantwortung übertragen werden: Verantwortung für die Betreuung und Versorgung der Bürger, Selbstverwaltung für die Erstattung von deren Betreuung und Versorgung. Deswegen müssten die Kommunen die entsprechenden Einrichtungen, Anlagen und Unternehmen in Besitz nehmen. Denn langfristig verantwortbar sei nur eine Energiewirtschaft, die als erstes die Frage stelle, wie viel Energie welcher Qualität wirklich benötigt werde. Erst danach werde zu fragen sein, wie diese Energie am effizientesten erzeugt werden könne. Deswegen müssten die Kommunen selbst Entscheidungen darüber treffen, wie z.B. Energieeinsparung in Übereinstimmung gebracht werde mit effizienter Energieversorgung. Unternehmen, die privatwirtschaftlich organisiert seien und deren Ziel darin bestehe, durch Absatz Gewinne zu erzielen, seien für solche integrierten Konzepte nicht geeignet. Die Verteilung zum Endverbraucher müsse ebenso wie die Entsorgung in der Hand von denjenigen liegen, die viele Faktoren einer kommunalen Versorgung beeinflussen wollten und könnten: den Gemeinden und Städten.

Aber was die Abgeordneten nicht wussten: Hinter ihrem Rücken verhandelte die Regierung mit den westdeutschen Stromkonzernen, sekundiert von der Bundesregierung, über den Totalverkauf des Energieversorgungsvermögens an die Konzerne, eingeschlossen das kommunale Vermögen für die Energieversorgung, Netze, Umspannstationen, Gasleitungen, Umformer etc. Währenddessen bemühte sich die Volkskammer, die Regelungen für die Übertragung des Vermögens wasserdicht zu machen. In § 6 Abs. 1 des Gesetzes heißt es, dass zu den volkseigenen Betrieben und Einrichtungen, die für die Erfüllung der kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben gebraucht würden, insbesondere „Betriebe und Anlagen zur Versorgung mit Energie und Wasser, wie örtliche Elektrizitäts- und Heizkraftwerke, Gas- und Wasserwerke sowie gemeindliche Verteilernetze“ gehörten. Die Treuhandanstalt, die vom Treuhandgesetz ja nicht nur zur Privatisierung, sondern auch zur Reorganisation des volkseigenen Vermögens berufen war, wurde durch § 7 Abs. 4 des Kommunalvermögensgesetzes für die Verfahren zur Eigentumsübertragung in Dienst genommen: „Bei der Übergabe von volkseigenem Vermögen an die Gemeinden, Städte und Landkreise sind insbesondere Betriebe und Kombinate der Energie- und Wasserwirtschaft sowie des Verkehrswesens unter Wahrung der Funktionsfähigkeit und Versorgungssicherheit zu entflechten. Erfolgt die Übernahme von Betriebsteilen, Werkstätten, Filialen oder anderen Struktureinheiten größerer volkseigener Betriebe, sind die Bedingungen des teilweisen Übergangs genau zu bestimmen und die Vermögenswerte abzugrenzen. Über die Teilrechtsfolge ist eine besondere Vereinbarung abzuschließen.

All diese Regelungen hat der Gesetzgeber getroffen, obwohl klar war, dass die betroffenen ehemals volkseigenen Kombinate und Betriebe durch das Treuhandgesetz in Kapitalgesellschaften umgewandelt worden waren. Sollten sie nicht ins Leere gehen, musste die Entflechtung und teilweise Vermögensübertragung trotz der Umwandlung in Kapitalgesellschaften möglich sein und bleiben. Auch dafür hatte der Gesetzgeber eine Regelung vorgesehen. Aber er hat sie, den § 4 Abs. 2 des Kommunalvermögensgesetzes, missverständlich formuliert. Die Vorschrift lautet: „Sofern Betriebe und Einrichtungen, die nach den Grundsätzen dieses Gesetzes in kommunales Eigentum überführt werden müssen, bereits in Kapitalgesellschaften umgewandelt worden sind, gehen die entsprechenden ehemals volkseigenen Anteile in das Eigentum der Gemeinden und Städte über.

Dem Verständnis dieses Begriffs „ehemals volkseigene Anteile“ muss man näher nachgehen, weil er später, nämlich im Einigungsvertrag, einen folgenschweren Bedeutungswandel durchgemacht hat. Das Kommunalvermögensgesetz geht auf zwei Fraktionsentwürfe zurück.48 Beide Entwürfe enthalten bereits Regelungen, die im Wesentlichen dem späteren § 4 Abs. 2 KVG entsprechen.49 Danach gehen, sofern zu kommunalisierende Unternehmen, Anlagen und Einrichtungen bereits in Kapitalgesellschaften umgewandelt worden sind, „deren Anteile nach Maßgabe der Vorschriften des § 3 in das Eigentum der Städte und Gemeinden über“. Die wesentlichen Maßgaben des § 3 lauten wie folgt (Drs. 106): „1. Die Städte und Gemeinden haben in Abstimmung mit den in § 1 Abs. 2 zuständigen Institutionen Verzeichnisse über die Unternehmen, Einrichtungen und Anlagen gem. § 1 (2), die in ihr Eigentum übergehen sollen, anzulegen. Diese haben sie innerhalb eines Monats nach Inkrafttreten dieses Gesetzes aufzustellen und der Treuhandanstalt vorzulegen. Diese Verzeichnisse sind von der Treuhandanstalt zu prüfen und zu genehmigen. 2. Sofern zwei oder mehrere Städte und Gemeinden dieselben Unternehmen, Einrichtungen und Anlagen in ihre Verzeichnisse aufgenommen haben, entscheidet die Treuhandanstalt nach Anhörung der beteiligten Städte und Gemeinden über die anteilige Eigentumsverteilung.

Diese Fraktionsvorlagen wurden am 29.6.1990 in erster Lesung in der Volkskammer behandelt. Am Tag vorher waren die „Stromverträge“ bekannt geworden. Die entstandene Situation kommentierte der Abgeordnete Nooke für die Fraktion Bündnis 90/Grüne wie folgt: „Gerade in der Energiewirtschaft müssen neue kommunale und dezentrale Konzepte durchsetzbar werden, was kommunales Eigentum an Leitungsnetzen und Erzeugungsanlagen nötig macht. Mit dem gestern vorgesehenen Verkauf der Elektroenergiewirtschaft nach dem hier vorgelegten Vertrag und den damit zu vermutenden Monopolstellungen, wie das gestern deutlich wurde, wird kommunale Eigenständigkeit verhindert. Die Kommunalisierung ist auch ein Gebot der Demokratie. Städte und Gemeinden sind der tragende Teil der demokratischen und föderalistischen Strukturen, die wir schaffen wollen. Damit muss ihnen auch die entsprechende Verantwortung übertragen werden, Selbstverantwortung für die Betreuung und die Versorgung der Bürger wahrzunehmen. Deshalb müssen Kommunen entsprechende Einrichtungen, Anlagen und Unternehmen in Besitz nehmen. Das bedarf, wie eingangs gesagt, schnellstens des dafür nötigen Rechtsaktes. Wir haben eben immer noch nicht die nötigen klaren Regelungen, wer Eigentümer wovon ist.“50 Die Beschlussvorlage für die zweite Lesung stammte aus dem Ministerium für kommunale und regionale Angelegenheiten, das die Fraktionsentwürfe erarbeitet hatte. Die systematische Unsicherheit im Umgang mit dem späteren § 4 Abs. 2 hat aber nichts daran geändert, dass der Gesetzgeber die Kommunen nicht auf Kapitalbeteiligungen an den Regionalversorgungsunternehmen reduzieren wollte. Im Gegenteil kann man den Wortmeldungen in der Volkskammer entnehmen, dass die Abgeordneten davon ausgingen, dass die betreffenden Vermögensübergänge mit dem Inkrafttreten des Gesetzes stattzufinden hätten, auch wenn der Wortlaut des Gesetzes (vgl. insbesondere § 7 Abs. 1) auch eine andere Deutung zulässt.

Der Berichterstatter Dr. Ullmann führte Folgendes aus: „§ 1 ist eine Definition des kommunalen Vermögens, und daran schließt sich in den §§ 2–6 eine Umfangsbestimmung dessen an, was diesen gesetzlichen Verfahren unterworfen wird oder unterworfen werden kann. § 7 halte ich für eine ganz besonders wichtige Bestimmung, weil hier das Verfahren festgelegt ist. Dieses Verfahren, meine Damen und Herren, legt uns auch Eile nahe.“51 Und an anderer Stelle führte er aus: „Der Sinn dieses Gesetzes ist ja, dass zunächst einmal die Gemeinden in den Besitz des Grund und Bodens gelangen sollen. Das ist dann die Rechtsgrundlage – deswegen auch das Eilbedürfnis bei diesem Gesetzesvorhaben –, auf der dann solche Fragen geregelt werden können.

 

Die Volkskammer beschloss das Kommunalvermögensgesetz sodann bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung. Die Abgeordneten wussten, wie der Ablauf zeigt, genau, was ihre eigene Regierung vorhatte – und was sie nicht wollten: den Komplettverkauf des Energieversorgungsvermögens an die Westkonzerne.

Dieser Widerstand zeigte sich auch in der weiteren gesetzgeberischen Arbeit der Volkskammer. Es wurde unter dem 25.7.1990 eine erste Durchführungsverordnung zum Kommunalvermögensgesetz beschlossen, die Eigentumsüberführungsverfahrensordnung. Dazu erließen der Wirtschaftsminister und der Minister für regional und kommunale Angelegenheiten Empfehlungen zu den Anträgen zur Überführung volkseigenen Vermögens in das Eigentum der Gemeinden, Städte und Landkreise, wo auf § 4 Abs. 2 des Kommunalvermögensgesetzes Bezug genommen wurde, wo die „ehemals volkseigenen Anteile“ erwähnt sind. Zur Erläuterung hieß es jetzt: „In diesen Fällen können die Gemeinden, Städte und Landkreise entscheiden, ob sie die ehemals volkseigenen Anteile körperlich, z.B. zur Gründung von Eigenbetrieben oder Eigengesellschaften, oder in Form von Kapitalanteilen übernehmen wollen. Die Art und Weise der Übernahme ist in den Anträgen zur Übertragung des Vermögens auszuweisen.“ Damit war eigentlich alles Wichtige geregelt.

4. Die Gegenbewegung: Stromkonzerne und Bundesregierung Hand in Hand

Die Gegenbewegung ging vom Westen aus. Die Wirtschafts- und Währungsunion hatte nämlich Konsequenzen auch für die Energieversorgung. Die beiden Stromkonzerne PreussenElektra und Bayernwerk, die mit ihren Gebietsmonopolen an DDR-Gebiete angrenzten, nutzten ihre Chancen. Sie gründeten ein Gemeinschaftsunternehmen mit den DDR-Kombinaten für Kernenergie, Braunkohle und das Stromnetz. Die deutsch-deutsche „Kraftwerksnetzgesellschaft“, plante und baute vier Hochspannungsverbindungen zwischen West und Ost, und zwar vom Kernkraftwerk Krümmel über Lübeck und Güstrow nach Rostock, von Helmstedt über Wolmirstedt nach Berlin, über Mecklar bei Bad Hersfeld nach Vieselbach bei Erfurt und von Rettwitz in der Oberpfalz nach Remptendorf. Außerdem wurden je ein 5-Megawatt-Kohlekraftwerk in Lübeck und Rostock zur Stromversorgung der DDR geplant: Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Leistungskraft der veralteten Braunkohlekraftwerke und gar der ostdeutschen Atomreaktoren. Die 380-kV-Hochspannungsleitung von dem HASTRA-Standort Helmstedt – die HASTRA war eine Tochter der PreussenElektra – war im Juni bis Wollmirstedt bereits fertig und darüber hinaus im Bau.

Das RWE, das mit seinem Versorgungsgebiet nicht direkt an die DDR angrenzte, suchte erst noch nach Zugriffsmöglichkeiten. Nahe lag die Beteiligung an Braunkohlekraftwerken; erstellt wurde eine Machbarkeitsstudie gemeinsam mit dem DDR-Braunkohlekombinat, in welchen Kraftwerken sich die Nachrüstung noch lohne.

Es lag nahe, wenn der SPIEGEL52 den VEBA-Manager Piltz, Herrscher auch über die Tochter PreussenElektra, fragte, ob die westdeutschen Stromkonzerne die DDR bereits unter sich aufgeteilt hätten. Piltz antwortete: „Keineswegs. Die westdeutschen Stromunternehmen liefern sich gegenseitig in der DDR harten Wettbewerb. Bei einem derartigen Angebot kann sich die DDR das günstigste auswählen. Von einer Machtübernahme, wie Sie es unterstellen, kann da keine Rede sein.“ Welche Sorte „Wettbewerb“ aber gemeint war, beantwortete Dr. Pautz, Staatssekretär im DDR-Wirtschaftsministerium und vorher im Kraftwerkskombinat Wilhelm Leuschner tätig53: Bei seinen Inspektionsbesuchen in den Kombinaten fand er häufig brandneue Audi-Limousinen im Hof und Krokodilleder-Aktentaschen unter den Schreibtischen der Kombinatsdirektoren vor. Wer mit wem, das war hier die Frage. Um Wettbewerb nach allgemeinem Sprachgebrauch ging es gar nicht. Bei dieser Sorte Wettbewerb spielten noch in der Weimarer Zeit gewachsene Wirtschaftsbeziehungen eine entscheidende Rolle. So war früher die Bayernwerks-Tochter Contigas intensiv in Thüringen unterwegs. Daran knüpfte die Münchener Firma an: Mancher Bürgermeister fand Hilfe bei seiner Stadtwerksgründung durch Millionen-Schecks, sogenannte „Marketingzuschüsse“, die die Contigas-Vorfeldleute in den Rathäusern übergaben. Thüringen spielte bei diesen Akquisitionsbemühungen denn auch eine herausragende Rolle, wie noch zu sehen sein wird.

Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit war in den Kombinaten und auch in dem für sie zuständigen Ministerium vorhanden. Denn die Furcht vor dem nächsten Winter und vor irgendwelchen Versorgungsengpässen bei Strom und Wärme war in der DDR allfällig. Die winterliche Sachproblematik in der DDR hatte aber keine technisch-physikalischen Ursachen. Entscheidend war vielmehr der exorbitant hohe spezifische Energieverbrauch (pro Kopf, pro Haushalt, pro Quadratmeter Wohnfläche, pro Einheit Sozialprodukt usw.). Die DDR lag bei diesen Werten in der gesamten Welt an der Spitze. Es war allerdings jedem Fachmann der Energiewirtschaft von vornherein klar, dass diese Missverhältnisse ihre Ursache in der exzessiven Energiepreissubventionierung hatten. Die Energiepreise entsprachen nicht im Mindesten den Kosten, verbrauchsbezogene Energieabrechnung war weitgehend unbekannt. Die Haushalte zahlten extrem niedrige, pauschalierte Energiepreise in der Form von Warmmieten. Der Energiepreis spielte für das Verbrauchsverhalten keine Rolle. Deswegen hatten es die westdeutschen Stromkonzerne einfach, wenn sie bei ihrem Werben für eine große Lösung warnten, dass „der Winter 1990/91 ziemlich kalt werden könnte in den neuen Ländern“.54 Aber in der Kälteperiode 1990/91 ging die benötigte elektrische Höchstleistung von früher 26.000 MW auf 16.000 MW zurück – wie von den Fachleuten erwartet, wenn auch nicht nach außen kommuniziert.

Auch die Bundesregierung stand hinter den Stromverträgen. Bundesumweltminister Töpfer war von seinen Fachleuten mit Informationen über den Zustand der ostdeutschen Kernkraftwerke Greifswald und Stendal versorgt worden. Insbesondere die vier Greifswalder Blöcke mit 1.760 MW elektrischer Leistung, die nicht nur 10 % des DDR-Stroms erzeugten, sondern auch Wärme für rund 70.000 Menschen, waren in einem schlimmen Zustand. Der Stahl der Druckgefäße in den Greifswalder Reaktoren war durch den Neutronenbeschuss schlimmer geschädigt als erwartet; „die konstruktiven Mängel im Sicherheitssystem der Reaktoren erlaubten keinen Schutz bei Bränden oder anderen Katastrophen; das Sicherheitsbewusstsein von Kombinatsleitern wie Betriebsingenieuren, auch nach der Wende, sei katastrophal“, schrieb der SPIEGEL.55

Klar war deswegen, dass diese Atomkraftwerke keine Zukunft hatten. Sie mussten sofort stillgelegt werden; mit der Folge, dass ihr Angebot von Strom und Wärme wegfiel. Deswegen wurde am Standort Greifswald sofort ein 200 MW-Heizölkraftwerk errichtet, für das Töpfer PreussenElektra brauchte. Auch das Bundeswirtschaftsministerium stand hinter dem Sicherstellungs-Angebot der Konzerne: Die Abteilungsleiterin Ria Kemper aus dem Bundeswirtschaftsministerium, bei der die Konzerne vorsprachen, war geradezu begeistert. Der liberale Wirtschaftsminister Helmut Haussmann und sein Staatssekretär von Würzen unterstützten die Überlegungen, ergriffen von Anfang an Partei für die Stromverträge und begleiteten die Verhandlungen zwischen den zunächst drei Stromvertrags-EVU und der DDR-Regierung sowie der Treuhandanstalt positiv und stellten zwei kartellrechtliche Ministererlaubnisse in Aussicht.56 Denn der Bund hatte primär das Interesse, das Energieversorgungsproblem in der DDR sozusagen „mit einem Schlag“ zu lösen und diese Aufgabe an ein Kartell der großen Stromversorger zu übertragen. Deren Gestaltungsvorstellungen wurden daher akzeptiert: Die Stromverträge waren – ebenso wie die später formulierten Gasverträge – zweistufig: Die erste Stufe betraf das Verbundnetz der Spannungsstufen 220 und 380 kV sowie die Großkraftwerke (außer die Atomkraftwerke) bzw. bei den Gasverträgen das Hochdruckverbundnetz. Diese Stufe der Verträge war auch später nicht umstritten. Die regionale Stufe allerdings, die Bildung von je 15 Bezirks-Spartenunternehmen, kollidierte mit den kommunalen Interessen. Den drei großen Stromvertrags-EVU RWE, Bayernwerk und PreussenElektra boten nämlich die Stromverträge in ihren beiden Teilen die Möglichkeit, ein stromwirtschaftliches Kartell sozusagen von der holländischen bis zur polnischen Grenze mit Durchgriff von der Stromerzeugung bis hin zur Versorgung der letzten Glühbirne in jeder Gemeinde zu schaffen. Pläne zu einem „bisher unrealistischen elektrizitätswirtschaftlichen Imperialismus, gedacht auch in Richtung Osteuropa“ reiften.57 Man wähnte eine große Renaissance alter Zeiten vor sich und wollte daher in den Stromverträgen keinerlei Konkurrenz und keine Schlupflöcher zulassen. Die Stromvertrags-EVU teilten daher die Regional-EVU in von ihnen geschaffenen Kunstbezirken untereinander auf und schlossen untereinander Abgrenzungs-, sogenannte „Demarkationsverträge“. Man wollte sich seine Kundschaft nicht streitig machen und den Wettbewerb untereinander auf Dauer ausschließen.

Allerdings gab es im letzten Moment noch einen unerwarteten Querschläger. Das große Geschäft hatten nämlich zunächst die „drei Großen“ unter sich ausmachen wollen; die Beteiligung der Hamburger Elektrizitätswerke (HEW), der Berliner BEWAG, der Vereinigten Elektrizitätswerke (VEW), der Energieversorgung Schwaben und des Badenwerks war nicht vorgesehen. Da bekam Roland Farnung, Chef der HEW, das Vertragswerk in die Hände. Im Schreiben an die Chefs der großen Konkurrenten drohte er damit, das Bundeskartellamt einzuschalten.58 Diese Drohung hätte verfangen: Das Bundeskartellamt wollte nämlich einen „Ausnahmebereich“ in einem künftigen Teil Deutschlands überhaupt nicht erst entstehen lassen.59 Das Amt konnte zwar das Amt für Wettbewerbsschutz der DDR prinzipiell von seiner wettbewerbspolitischen Auffassung überzeugen. Es drohte mit einem Fusionskontrollverfahren. Allerdings war klar, dass bei einer eventuellen Untersagung ein Ministererlaubnisverfahren ins Haus gestanden hätte. In informellen Verhandlungen mit der Treuhandanstalt konnte erreicht werden, dass die Wettbewerbsstruktur in der DDR wenigstens „nicht schlechter“ als diejenige in der BRD ausgestaltet wurde.60 Präsident Kartte „schmerzte die vertane Jahrhundert-Chance“ bei der Neuordnung der Elektrizitätswirtschaft der DDR. Staatssekretär Pautz versicherte auf der anderen Seite, „wäre es nach uns gegangen, ... dann hätten wir den Dreien alles gegeben“.61

In dieser komplexen Situation schlugen sich die Konzerne auf die sichere Seite und nahmen die fünf kleinen Schwestern in das – jetzt – Achterkartell auf: Nunmehr kam es tatsächlich zu einer Aufteilung der DDR:

 – PreussenElektra erhielt die Kombinatsnachfolger HEVAG mit Sitz in Rostock, die EMO mit Sitz in Neubrandenburg, die Mecklenburgische Elektrizitätsversorgung AG (MEVAG) mit Sitz in Potsdam;

 – RWE erhielt die Energieversorgung Spree/Schwarze Elster AG (ESSAG) mit Sitz in Senftenberg, die Oder-Spree-Energieversorgung AG (OSE) mit Sitz in Frankfurt/Oder, die Westsächsische Elektrizitätsversorgung Mitteldeutschland AG (WEMAG) mit Sitz in Markkleeberg bei Leipzig;

 – das Bayernwerk die Elektrizitätsversorgung Nordthüringen AG (ENAG) mit Sitz in Erfurt, die Ostthüringer Energieversorgung (OTEV) mit Sitz in Jena und die Südthüringer Energieversorgung AG (SEAG) mit Sitz in Meiningen, eine Art Thüringer Fürstentum,

 – VEW erhielt die Mitteldeutsche Energieversorgung AG (MEAG) mit Sitz in Halle;

 – die zur Energie Baden-Württemberg (EnBW) fusionierten EVS und Badenwerk erhielten die ESAG mit Sitz in Dresden;

 – die Hamburger Elektrizitätswerke erhielten die Westmecklenburger Elektrizitätsversorgung AG (WEMAG) mit Sitz in Schwerin;

 – die BEWAG erhielt die Elektrizitätsversorgung Berlin AG (EBAG).

Am 22.8.1990 wurden die Stromverträge unterschrieben.