Vom Stromkartell zur Energiewende

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

7. Der Brief der Oberbürgermeister

Die Grundsatzverständigung wurde von der großen Mehrzahl der ostdeutschen Städte jedoch abgelehnt. Denn sie führte dazu, dass die Kommunen gesellschaftsrechtliche Bindungen mit den Regionalversorgern, ihren Vorlieferanten, eingehen mussten. Sie konnten zudem wegen der 70 %igen Stromabnahmeverpflichtung die ökonomisch und ökologisch sinnvolle Kraft-Wärme-Kopplung in ihren fernwärmebeheizten Gebieten nicht ausbauen.

Die Stimmung wurde in einem Telex vom 27.2.1991 an den Bundeskanzler deutlich, das die Oberbürgermeister der neun größten Städte verfasst hatten. Die Oberbürgermeister beklagten, dass sie seit mehr als einem halben Jahr zeitaufwendige Verhandlungen betreffend die Übernahme der Energieversorgungsanlagen führten. Es bewege sich nichts; daher bilde sich eine Investitionsbremse sondergleichen.

Jede westdeutsche Kommune könne gem. Art. 28 Abs. 2 GG alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung regeln. Dies beinhalte die freie Entscheidung, wem sie die Energieversorgung übertrage. Für die ostdeutschen Kommunen werde dasselbe Freiheitsrecht begehrt.

Tatsächlich sollten jedoch die ostdeutschen Kommunen nur 49 % der Anteile an den Regionalversorgen erhalten; dies auf unabsehbare Zeit. Damit würden alle ostdeutschen Städte auf Dauer zu Kommunen minderen Rechts. So habe man sich die Vereinigung nicht vorgestellt.

Alle anderen Vermögenswerte, die Zuschussbetriebe der Städte seien, würden zu 100 % übertragen, die später rentable Energieversorgung wolle man überwiegend den westdeutschen Energiemonopolen zukommen lassen. Es gelte offenbar der Grundsatz: Was Geld bringt, erhält die Privatwirtschaft, was Geld kostet, erhält die Kommune.

Hintergrund dieser erstaunlichen Vorgehensweise seien die sog. Strom-Verträge. Die im Einigungsvertrag ergänzte Fassung des § 4 Abs. 2 KVG könnten die Oberbürgermeister nur als gesetzliches Mäntelchen werten, um die auf massiven ökonomischen Interessen der westdeutschen Energieversorgungsunternehmen beruhenden Strom-Verträge für alle Zukunft zu sichern. Dieser Weg sei jedoch ordnungspolitisch verfehlt. Es könne den Städten nicht zugemutet werden, aus dem Staatsmonopolsozialismus im Energiebereich in den Privatmonopolkapitalismus durch Zwang des Bundes überführt zu werden. Es interessiere, wer für diese eindeutige Fehlentscheidung verantwortlich sei.

Die Oberbürgermeister bestritten der Treuhandanstalt sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich, die 51 % Anteile am Energieversorgungsunternehmen ihrer Wahl zum eigenen ökonomischen Vorteil verkaufen zu dürfen. Mindestens die örtlichen Netze und weitere betriebliche Anlagen hätten regelmäßig bis 1950 den Städten oder ihren Stadtwerken gehört. Die von 1950 bis 1990 entstandenen Versorgungsanlagen hätten die Städte traditionsgemäß ebenfalls aus demselben Teil des Sozialprodukts errichtet, wie dies der unselige zentralistische SED-Staat getan habe.

Neuerdings verkünde die Treuhandanstalt, den Restitutionsanspruch, der nach Art. 21 Abs. 3 Einigungsvertrag eindeutig Naturalrückgabe der Netze, betriebliche Anlagen usw. bedeute, abgelten zu wollen. Damit seien die Städte natürlich nicht einverstanden.

Anzumerken sei auch, dass weder die zentralistische Treuhandanstalt, noch der Bund selbst angesichts des grundsätzlich geschützten föderativen Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland das Recht habe, in derart fundamentaler und langfristig kaum noch revidierbarer Weise in kommunale Aufgaben einzugreifen. Sämtliche Rechte zur Regelung kommunaler Aufgaben stünden ausschließlich den Ländern und nach Maßgabe der Landesgesetze den Kommunen zu.

Im Ergebnis bleibe festzuhalten, dass die ehemalige DDR und die Treuhandanstalt (in ihren früheren Tagen) die Rechte der wiedererstehenden Städte schlicht vergessen hätten oder vergessen wollten und befürchteten, ohne den seltsamen Strom-Vertrag gingen im Lande die Lichter aus. Von Anfangsschwierigkeiten abgesehen könnten jedoch die Stadtwerke der ostdeutschen Städte die Energieversorgung gewährleisten.

Zusammengefasst sei das Konzept der Städte:

 – Unentgeltliche Übertragung der örtlichen Energieversorgungsnetze und zugehörigen betrieblichen Anlagen zu 100 %;

 – Aufnahme fremder Beteiligungen an Stadtwerken nach eigener freier Entscheidung der Kommunen hinsichtlich Partner und Quote;

 – die Städte/Stadtwerke schließen nach marktwirtschaftlichen Regeln freiwillig Lieferverträge mit überörtlichen Energieunternehmen, soweit sie nicht selbst erzeugen.

Reaktionen des Bundeskanzlers oder der Treuhandanstalt auf dieses Schreiben sind nicht bekannt geworden.

8. Weiteres Festhalten des Staates am Weg

Die Bundesregierung hielt vielmehr an der Entrechtung der Kommunen fest. So wurden die Verfahrensvorkehrungen beseitigt, mit denen die Volkskammer versucht hatte, die Verfahren zur Vermögensübertragung zu regeln. Durch den Einigungsvertrag war die Eigentumsüberführungsverfahrensordnung zum Kommunalvermögensgesetz vom 25.7.1990 nicht übernommen worden. Außerdem fehlten Regelungen über das Verwaltungsverfahren zur Vermögenszuordnung gem. Art. 21, 22 Einigungsvertrag. Daher erließ der Bundesgesetzgeber unter dem 22.3.1991 das „Gesetz über die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen (Vermögenszuordnungsgesetz – VZOG)“.

Mit dem Gesetz wurde zum einen § 7 Kommunalvermögensgesetz aufgehoben; und damit die Zuständigkeit des Präsidenten der Treuhandanstalt für die Entflechtung und Zuordnung des kommunalen Vermögens für die Energieversorgung, außerdem das Auskunftsrecht der Kommunen gegenüber dem Regionalversorger, das mit dem ersten Ergänzungsgesetz zum KVG zum Bestandteil des § 7 gemacht worden war.

Ein zweiter Eingriff betraf die Vorschriften zur Naturalrestitution in Art. 21 und 22 des Einigungsvertrags. Es wurden unterschiedliche Zuständigkeiten für die Verteilung des Verwaltungsvermögens, das für die kommunalen Aufgaben erforderlich war, sowie das Finanzvermögen in Form von Kapitalbeteiligungen geschaffen. Für die Kommunen bedeutete das Hürden über Hürden, weil unklar war, welche übergeordnete Behörde auf der Basis welcher Formulare anzugehen war. Diese systematische Verunklarung war schon im Infodienst Kommunal vom 16.11.1990 mit seiner Arbeitsanleitung zur Übertragung des kommunalen Vermögens vorbereitet worden. Dort wurden das Verwaltungs- und das Finanzvermögen erklärt. Eine empfindliche Einschränkung wurde aber gerade für das energiewirtschaftliche Versorgungsvermögen getroffen. Danach gab es keinen Herausgabeanspruch, wenn das Vermögen des betroffenen Unternehmens empfindlich beeinträchtigt würde; in solchen Fällen könne nur Entschädigung verlangt werden. Dabei berief sich der Infodienst Kommunal auf eine gemeinsame Erklärung nach Anlage III des Einigungsvertrags, die von diesen Fällen gar nicht gesprochen hatte, sowie auf „Rechtsgedanken“ verschiedener Gesetze – und gerade keine ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen.

Diese Verunklarungen setzten sich in den gerichtlichen Eilverfahren fort, mit denen Sicherungen gegen den Abgang kommunalen Versorgungsvermögens erreicht werden sollten. Zuständig waren die neu geschaffenen Kreisgerichte, in denen abgeordnete Richter aus der Zivil-, der Verwaltungs-, der Arbeits- und der Finanzgerichtsbarkeit aus den alten in die neuen Bundesländer als Einzelrichter zuständig waren. Diese nahmen nur zu gern die von der Treuhandanstalt ins Spiel gebrachten Bedenken an der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit der Gerichte auf. Den Vogel schoss ein Richter ab, der die erste Verhandlung über ein solches Eilverfahren am 24.6.1991 beim Kreisgericht Schwerin anberaumt hatte. Ich betrat den Gerichtssaal deutlich vor Terminsbeginn, wo der Richter gerade mit dem Aufbauen seines Diktiergeräts beschäftigt war. Er erklärte mir beiläufig, dass er in allen entscheidenden Fragen – sachliche Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Anspruch der Kommunen auf das Versorgungsvermögen – der Auffassung der Treuhandanstalt war; vor Antritt der mündlichen Verhandlung! Ich riet den Beschäftigten der Schweriner Kommunalverwaltung, um deren Ansprüche es ging, den Richter wegen Befangenheit abzulehnen. Das wurde von ihnen aber rigoros abgelehnt: Doch nicht im ersten Gerichtsverfahren, das sie überhaupt zu bestreiten hatten! Es kam wie es kommen musste: Der Richter schlug sich in allen Fragen auf die Seite der Treuhandanstalt – und das vor den feixenden Justitiaren aus den Konzernen und den Bezirks-EVU, die wissen wollten, welche Chancen die Kommunen hätten. Ich nahm den Antrag zurück, um eine schriftliche Entscheidung zu vermeiden. Zu Hause angekommen, war mir der nächste Schritt klar und dessen Konzeption fertig.

9. Der erste Stadtwerkskongress und die Kommunalverfassungsbeschwerde

Am 24.6.1991 hatte nämlich in Berlin der Kongress „Auf dem Weg zu neuen Stadtwerken. Hemmnisse – Erfahrungen – Ergebnisse“ stattgefunden; und zwar im vormaligen FDGB-Haus, dann Berliner Congreß Center (und jetzt Chinesische Botschaft). Einlader waren die Städte Leipzig, Schwerin, Jena, Wernigerode und Zehdenick, eine aus jedem Bundesland, große, mittlere, kleine. Die Einladungen wurden von Potsdam aus verschickt, um jeglichen Argwohn zu vermeiden, es könne sich um eine fremdbestimmte Veranstaltung handeln. Und in der Tat waren viele Impulse vom Leiter des Leipziger OB-Büros Michael Weber und dem Geschäftsführer der Wernigeroder Stadtwerke, Wenzislav Stoikow, ausgegangen. Eine ganz wichtige Rolle spielte Bürgermeister Holzgrebe aus Jena, der sogar eine öffentliche Zuwendung für den Kongress locker machte. Auf dem Kongress waren 123 Städte vertreten, überwiegend mit den Aufbaubeauftragten für Stadtwerke aus den Stadtverwaltungen oder auch schon Geschäftsführern, aber auch vielen Bürgermeistern. Referate über die Rechtslage wurden gehalten, darunter auch eine durchaus wohlwollende eines Mitarbeiters der Treuhandanstalt, sowie von Ministerialrat Apfelstedt aus dem Hessischen Wirtschaftsministerium, der den Städten erklärte, sie bräuchten für ihre Stadtwerke keine Betriebsgenehmigung nach § 5 des Energiewirtschaftsgesetzes, weil sie vom Bestandsschutz ihrer früheren Stadtwerke zehren könnten. Im Mittelpunkt stand eine – vorab vorbereitete – Resolution, die in der Absicht gipfelte, eine Kommunalverfassungsbeschwerde zur Sicherung der kommunalen Rechte zu erheben.

 

Die Verfassungsbeschwerde sollte im Urlaub entstehen. Der Aktenberg, der für die Verfassungsbeschwerde vorzubereiten war, wuchs immer mehr. In unserem Ferienhaus gab es keine Zeit zum Erholen. Mich erreichte nämlich ein Telefonanruf mit dem Hinweis, dass die Treuhandanstalt nunmehr, nach dem Schweriner Sieg, die Stromverträge durch Auskehrung der Kapitalmehrheiten an dem Bezirks-EVU vollziehen wolle. Das war an einem Wochenende. Am Montag rief ich beim Verfassungsgericht an und erfuhr, dass Richter Prof. Böckenförde, der für die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG zuständige Richter, am kommenden Freitag den letzten Tag im Gericht sein werde, um danach seinen Jahresurlaub anzutreten. Das erzwang konzentriertes Arbeiten. Küche und Wohnzimmer waren der Verteilung von Akten vorbehalten. Die Kinder mussten auf den Fußspitzen durchlaufen. Am Mittwoch war die Verfassungsbeschwerde fertig (73 Seiten, 200 Seiten Anlagen). Ein Kernstück fehlte allerdings noch, ein Teil der verfassungsrechtlichen Argumentation, den der Mainzer Prof. Hans Heinrich Rupp als Prozessvertreter der Stadt Forst, beisteuern wollte. Prof. Rupp, den ich aus meiner Mainzer Assistentenzeit kannte, war von Günther Nooke, Forster Abgeordneter, angesprochen worden.

Es gab allerdings ein Problem: Vollmachten hatte ich nämlich nur von den Städten Finsterwalde, Jena, Neuruppin, Potsdam, Wernigerode und Zehdenick, also nur von sechs Städten. Aber es gab noch die Anwesenheitsliste des Stadtwerkskongresses. Ich ernannte kurzer Hand alle in der Anwesenheitsliste aufgeführten Kommunen zu Beschwerdeführerinnen in dem Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren. Zurück in Deutschland am Mittwochabend waren alle Schriftsatzteile fertig, meine Sekretärin um vier Uhr des Nachts auch; dann begannen die redaktionellen Tätigkeiten vor allem an den vielen, vielen Anlagen. Am Donnerstag gegen 16 Uhr übergab ich die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht dem Mitarbeiter von Prof. Böckenförde, um Zeit für die Registrierarbeiten zu sparen. Damit begannen die spannendsten Stunden meines Arbeitslebens.

Denn das Verfassungsgericht hatte natürlich noch nicht über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, aber über einen Eilantrag, mit dem das Bundesverfassungsgericht dem Bundesfinanzministerium und der Treuhandanstalt untersagen sollte, die Kapitalmehrheiten auszukehren. Nach der beim Verfassungsgericht üblichen Abwägung musste eine solche Anordnung eigentlich ergehen. Wäre die Verfassungsbeschwerde nämlich begründet gewesen, aber die Privatisierung der Bezirks-EVU vollzogen worden, hätte die positive Verfassungsbeschwerdeentscheidung nichts mehr gebracht. War sie hingegen unbegründet, war zwar Zeitverlust eingetreten, aber kein irreparabler Rechteverlust.

Gegen 13 Uhr erreichte mich ein Anruf aus dem Bundesverfassungsgericht: Das Bundesfinanzministerium habe erklärt, dass die Stromverträge einstweilen nicht vollzogen würden. Die Treuhandanstalt werde eine entsprechende Erklärung noch abgeben. Hurra! Am Abend dieses wundervollen Tages ging ich erst mal schön essen und fuhr am nächsten Tag ins Ferienhaus zurück, wo inzwischen alles aufgeräumt war.

Danach begann allerdings eine sehr spannende Phase. Denn in der Verfassungsbeschwerde hatte ich versprochen, die noch fehlenden 117 Vollmachten nachzureichen. Die Bereitschaft der Kommunen, mich mit einer Vollmacht zu versehen, wofür immer eine Entscheidung des Stadtparlaments erforderlich war, waren aber durch zwei Bedingungen sehr erleichtert:

 – Zum einen konnte ich ihnen die Verfassungsbeschwerde ja mit der Erklärung der Treuhandanstalt schicken, dass die Stromverträge nicht vollzogen werden würden, so dass es ihnen leichter fiel, diese „Geschäftsführung ohne Auftrag“ nunmehr mit dem erforderlichen Auftrag zu versehen;

 – Außerdem schickte ich ihnen eine Honorarvereinbarung, die eingeschlossen die Mehrwertsteuer unter 1.000,00 DM lag – es sollte ja keine Abzocke stattfinden.

Und die Vollmachten kamen. Leipzig wollte die Verfassungsbeschwerde aber nicht unterstützen. OB Lehmann-Grube erklärte, vom Gerichtsweg halte er nichts. Dem stimmte sein Stadtparlament allerdings nicht zu. In einer Anhörung hatte ich Gelegenheit, die Position der Verfassungsbeschwerde im Rat zu verdeutlichen, und zwar vor dem RWE-Syndikus Mutschler, dessen Beitrag mir vorab zugespielt worden war. So konnte ich auf alle seine Argumente eingehen, bevor er sie überhaupt gebracht hatte. Glück muss man haben – und der Rat beschloss den Beitritt zur Verfassungsbeschwerde. OB Lehmann-Grube nahm es wörtlich, übersandte die Vollmacht und versprach im Anschreiben jegliche Unterstützung für die Verfassungsbeschwerde – die er auch tatsächlich zuteil werden ließ.

Die Auseinandersetzung vor Gericht war allerdings nicht einfach. Für Bayernwerk, PreußenElektra und RWE vertrat Prof. Ossenbühl und für die fünf übrigen EVU Prof. Löwer die Auffassung, die kommunale Selbstverwaltungsgarantie gebe eine Art Anspruch für die Kommunen nicht her, mit dem erforderlichen Versorgungsvermögen ausgestattet zu werden; schon wegen der gesetzgeberischen Akte des Einigungsvertrags. Daher gab es keinen Anspruch auf Rechtspositionen, die die Volkskammer zur Angleichung des Standards der kommunalen Selbstverwaltung an die selbstverständlichen im Westen vorgesehen hatte. Auch lief eine publizistische Kampagne, und zwar nicht nur in den Medien, sondern auch im juristischen Schrifttum, teils für und teils gegen die kommunalen Positionen.63 Beim Gericht gingen allerdings auch erfreuliche Stellungnahmen ein: Das Bundesverfassungsgericht hatte die Verfassungsbeschwerde nämlich dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung sowie allen Landesregierungen zugeleitet und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Eine ausführliche und höchst interessante Stellungnahme kam aus dem Saarland. Mit ihr wurden die unterschiedlichen Interessenlagen des Bundes und der verschiedenen Länder dargelegt: Während beispielsweise Hessen und das Saarland auf Seiten der Kommunen stritten, standen die Braunkohleländer Brandenburg und Sachsen durchaus hinter den Stromverträgen. Das Verdienst der Saarländischen Stellungnahme war es, unter Verzicht auf juristische Darlegungen Struktur und Funktion der Stromverträge darzulegen, soweit sie auf Übertragung der westdeutschen Monopolstrukturen auf die neuen Länder sowie auf Generierung hoher Strompreise ausgerichtet war. Dieser Aspekt war besonders interessant, weil das Strompreisniveau in den neuen Ländern eigentlich weit unter dem westdeutschen hätte liegen müssen, weil der Strom in abgeschriebenen Anlagen auf der Basis heimischer Braunkohle erzeugt wurde und deswegen nach den Vorschriften der Bundestarifordnung Elektrizität eigentlich sehr niedrig sein musste. Das Gegenteil war der Fall – was noch zu untersuchen sein wird.

Im Spätsommer 1991 fragte ich den wissenschaftlichen Mitarbeiter von Prof. Böckenförde, ob und wann es zu einer mündlichen Verhandlung komme. Für den Fall einer mündlichen Verhandlung regte ich an, diese in den neuen Ländern durchzuführen: Rechtsstaat und Rechtsprechung seien für die ostdeutschen Bürger und ihre Kommunen generell etwas Neues. Die Rolle und die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts seien ihnen nicht vertraut. Das spreche für einen auswärtigen Termin des Bundesverfassungsgerichts in den neuen Ländern – wohl den ersten in seiner Geschichte. Einige Tage später berichtete Geschäftsführer Horstmann von den Stendaler Stadtwerken, das Bundesverfassungsgericht habe bei ihm angefragt, wo man in Stendal eine solche Verhandlung durchführen könne. Er habe das Reichsbahnausbesserungswerk angeboten. In der Tat wollte das Verfassungsgericht dort verhandeln. Wieder einige Tage später ging die Ladung zur mündlichen Verhandlung in Stendal am 27.10.1992 ein. Beigefügt war eine Liste mit Fragen des Bundesverfassungsgerichts. Aus einer Veröffentlichung von Harms64 hatte das Verfassungsgericht entnommen, dass die Vermögensanteile für die örtliche und die regionale Stromversorgung zwar in den einzelnen Bezirks-EVU je nach Lage unterschiedlich, im Durchschnitt aber hälftig der kommunalen und hälftig der regionalen Versorgung zuzuordnen seien. Dem entspreche ja die etwa hälftige Aufteilung der Kapitalbeteiligungen an den Bezirks-EVU nach der angegriffenen Maßgaberegelung zu § 4 Abs. 2 KVG. In der Vorbereitung zur mündlichen Verhandlung mit dem VKU kam deswegen die Idee auf, dass das Verfassungsgericht möglicherweise einen Vergleich vorschlagen werde. Zur Vorbereitung gehörte auch eine Umfrage bei den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern unserer Beschwerdeführerinnen, wer an der mündlichen Verhandlung teilnehmen wolle. Wir organisierten die Wortmeldungen und die Pressearbeit. Es sollte nichts dem Zufall überlassen werden.

Die mündliche Verhandlung erwarteten wir mit größter Spannung. Zu den Vorbereitungen gehörte mit der Amtstracht des Anwalts, der schwarzen Robe, auch eine weiße Fliege. Diese hatte sich beim Binden am Morgen in ihre Bestandteile aufgelöst. Aber an der Garderobe des Reichsbahnausbesserungswerks hatten die Garderobefrauen in ihren weißen Kitteln selbstverständlich Nadel und Faden dabei, so dass das Missgeschick schnell behoben war. Im Saal mit seinen verräucherten schweren Vorhängen roch es wie überall in den Amtsstuben der neuen Ländern nach Desinfektionsmitteln. In einem kleinen Raum hinter dem Richtertisch, der auf einem frisch zusammengezimmerten Podest aufgestellt war, gingen wir den Ablauf der Verhandlung durch. Auf unserer Seite stritten noch mit der Prozessvertreter von 17 Thüringer Kommunen, Prof. von Mutius/Kiel, Prof. Rupp für die Stadt Forst und Prof. Wieland als Gutachter im Auftrag der SPD-Bundestagsfraktion. Dabei war auch Dr. Weigt, Justitiar des VKU, der die juristische und mentale Unterstützung des VKU beisteuerte.

In der mündlichen Verhandlung ging der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz von Prof. Böckenförde – Prof. Mahrenholz, eigentlich Senatspräsident, war erkrankt – mit uns den Prozessstoff durch. Böckenförde war bestens vorbereitet. Wohin die Reise ging, war zunächst nicht auszumachen. Kurz vor der Mittagspause stellte Prof. Kirchhof einige unangenehme Fragen nach dem bisherigen und herrschenden Verständnis der kommunalen Daseinsvorsorge des Art. 28 Abs. 2 GG als institutionelle Garantie. Daraus war ein Anspruch auf Chancengleichheit mit den westdeutschen Kommunen und auf eine Art Grundausstattung nur schwer ableitbar. Mit hängenden Ohren ging es in die Mittagspause, die mit einer Pressekonferenz begann, die Dr. Gramlich, OB von Potsdam, eröffnete. Wir bemühten uns, Optimismus zu verbreiten. Am Nachmittag kamen eindrückliche Plädoyers unserer kommunalen Vertreter, unter denen das von Bürgermeister Hohberg aus der kleinen Thüringer Gemeinde Sollstedt besonders herausragte; er beschwor mit flammenden Worten die Entrechtung der Kommunen zunächst durch die sozialistische DDR, an die sich die durch die Stromverträge und ihre Flankierung durch die Bundesregierung anschloss. Das machte Eindruck. Herr Horstmann, Geschäftsführer der Stadtwerke Stendal, berichtete äußerst farbig über den erfolgreichen Aufbau seiner – und vieler anderer – Stadtwerke, der das Misstrauen der Grundsatzverständigung, die jedem Stadtwerk eine Zwangsbeteiligung von westdeutschen EVU verpassen wollte, in keiner Weise rechtfertigte. Ich machte darauf aufmerksam, dass die westdeutschen EVU in ihrem Verhältnis zu den Stadtwerksgründungen sehr unterschiedlich aufgetreten seien und lobte das Bayernwerk, dessen Vorstandsvorsitzender, wie ich wusste, aus dem Bayerischen Wirtschaftsministerium kam und offenbar Verständnis für die Wünsche der Kommunen hatte. Er hatte nämlich den Stadtwerken in Thüringen in großem Umfang Hilfe bei den Vorkehrungen für die Betriebsaufnahmegenehmigung nach § 5 Energiewirtschaftsgesetz zugesichert und auch geleistet.

Kurz vor 17 Uhr gab Prof. Böckenförde bekannt, dass sich der Senat zu einer Zwischenberatung zurückziehen wolle. Zurückgekehrt machte er – für die meisten Zuhörer völlig überraschend, aber nicht für uns – einen Vergleichsvorschlag: Die Lage in den neuen Ländern sei doch nicht anders als bei Auslaufen eines Konzessionsvertrags. Die Kommunen hätten aus ihrem Wegerecht den Anspruch auf Übertragung der Versorgungsanlagen. Als Kaufpreis könnten sie den Wert ihrer Kapitalbeteiligungen einsetzen. Während dieser Worte drehte ich mich um zu Dr. Weigt vom VKU, der hinter mir saß. Er strahlte. Wir hörten uns den offensichtlich schriftlich vorbereiteten Vergleichsvorschlag des Gerichts an und kehrten nach einer Pause mit den „Sieben Punkten von Stendal“ in den Gerichtssaal zurück. Wir forderten die Übertragung des Versorgungsvermögens im Tausch gegen die Kapitalbeteiligungen, Entflechtung und Eigentumstransfer nach dem Spaltungsgesetz, Hilfe beim Aufbau unter Verzicht auf § 5-Genehmigungen etc. Das Verfassungsgericht gab uns eine Frist bis 20.12.1992. Im Fall der Einigung sollten die Verfassungsbeschwerden bis zum 31.12.1992 zurückgenommen werden.